Wir brauchen eine kritische Wirtschaftswissenschaft - mehr denn je! Mit Exploring Economics stärken wir alternative ökonomische Ansätze und setzen der Mainstream-VWL ein kritisches und plurales Verständnis von ökonomischer Bildung entgegen. Außerdem liefern wir Hintergrundanalysen zu akuellen ökonomischen Debatten, um einen kritischen Wirtschaftsdiskurs zu stärken.
Doch leider geht uns das Geld aus, um unsere Arbeit fortzusetzen.
Mit einem kleinen Beitrag kannst Du Exploring Economics unterstützen, online zu bleiben. Danke!
Wir sind ein eingetragener, gemeinnütziger Verein | Netzwerk Plurale Ökonomik e.V. | IBAN: DE91 4306 0967 6037 9737 00 | SWIFT-BIC: GENODEM1GLS | Impressum
Georg Hubmann, Stefan Humer, Mathias Moser
Ökonomische Ungleichheiten und große Unterschiede in den Lebensbedingungen sind für die Europäische Union (EU) eine wachsende politische Herausforderung. Die Unterschiede in den Einkommen führen zu verstärkter Arbeitsmigration sowie zu Lohn- und Sozialdumping – und sie treiben den Standortwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten an. Hierbei geht es oft um ökonomische Indikatoren, das heißt um Messgrößen, die über die jeweilige wirtschaftliche Situation oder Struktur der Länder Auskunft geben; Fragen der Lebensqualität und des gesellschaftlichen Wohlergehens erhalten unter diesem Blickwinkel innerhalb der EU hingegen kaum Aufmerksamkeit.
Die durch die Wirtschaftskrise ohnehin schon angespannte ökonomische Situation verschafft nationalistisch orientierten Parteien größeren Zulauf. Auch deshalb steckt das gemeinsame Europa in einer politischen Krise. Die ökonomischen und sozialen Unterschiede verstellen die Zukunft eines gemeinsamen Europas mit guten Lebensbedingungen für alle Menschen.
Die Auswirkungen dieser Entwicklungen rücken in der wissenschaftlichen Literatur zunehmend stärker in das Interesse von Forschenden. Die letzten Jahre haben hier wesentliche Fortschritte in der Verfügbarkeit von personenbezogenen Daten gebracht, die bessere Einblicke in die Lebensrealitäten der Menschen erlauben.
Eine Kooperation zwischen dem Forschungsinstitut Economics of Inequality (INEQ) der Wirtschaftsuniversität Wien und dem Jahoda-Bauer-Instituthat es sich zum Ziel gesetzt, nicht nur die oben genannten Spannungsfelder auf Basis der vorhandenen Daten zu analysieren, sondern auch die Ergebnisse der Analyse einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Hauptfokus liegt dabei auf der interaktiven Website, die es Interessierten ermöglicht, Inhalte selbstständig zu vertiefen.
Aus den von INEQ aufbereiteten und bereitgestellten Daten ergeben sich Handlungsfelder für ein progressives Europa, die von Forscher_innen am Jahoda-Bauer-Institut mit konkreten Policy-Vorschlägen, also inhaltlich-politischen Leitlinien verknüpft werden. So wird mit www.inequalityin.eu ein halbes Jahr vor der Wahl zum Europäischen Parlament 2019 auch dazu beigetragen, die Grundlage für eine faktenorientierte Auseinandersetzung über die Zukunft Europas zu schaffen. In diesem Sinn dient das Projekt einem aufgeklärten gesellschaftlichen Diskurs über die Zukunft der Europäischen Union.
Die Website gliedert sich in drei aufeinander aufbauende Bereiche: Eine erste Ebene beleuchtet die Einkommenssituation einzelner Berufsgruppen innerhalb und zwischen den Ländern. In einer zweiten Ebene werden makroökonomische, also gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen aufbereitet, die das Lebensumfeld der Personen skizzieren und Hinweise auf die Lebensqualität in den unterschiedlichen Ländern geben. Beide Bereiche werden in einem dritten Schritt gemeinsam analysiert und auf ihre Policy-Relevanz hin untersucht. Dieses integrierte, auf einer gesamtheitlichen Sichtweise beruhende Verständnis von Lebensrealitäten wird mit schlüssigen Handlungsempfehlungen vervollständigt. Ziel ist ein gemeinsames und nachhaltiges Europa, in dem nicht Wettbewerb und Konkurrenz an erster Stelle stehen, sondern politische Kooperation und ökonomische Annäherung.
Wir sammeln Artikel, Videos und Lernmaterialien und machen sie öffentlich zugänglich. Dafür sind wir auf Unterstützung angewiesen.
Im Detail zeigt die Website die Unterschiede in den Einkommen einzelner Berufsgruppen in den EU-Ländern (27 Mitglieder bis Juni 2013; seitdem 28 Mitglieder) entlang der EU-SILC-Daten (Europäische Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen) aus dem Jahr 2015. Die Visualisierung der Einkommensdaten erfolgt in tabellarischer Form nach Ländern und Berufsgruppen. Lohn- und Preisniveaus liegen in den EU-Ländern weit auseinander. Diese ökonomische Ungleichheit ist eine zentrale Herausforderung für den gemeinsamen Wirtschaftsraum. Eine Kernaufgabe des Projekts ist es, die Disparitäten bzw. Ungleichheiten sichtbarer zu machen.
Für eine bessere Vergleichbarkeit werden Berufsgruppen definiert, die eine intuitive Auseinandersetzung mit den Lebensrealitäten der erfassten Personen in unterschiedlichen Ländern ermöglicht. Hierfür wurden die Beobachtungen, die anhand der Rohdaten gemacht werden konnten, in mehrere Gruppen zusammengefasst, die ein breites soziales Spektrum der Gesellschaft repräsentieren (Ärzt_innen, Büroangestellte, Reinigungspersonal, Techniker_innen etc.). Schlussendlich bietet die Website Informationen zu 14 solcher Berufsgruppen für die EU Länder.
Zur genaueren Analyse der Einkommensunterschiede und Lebensrealitäten der Berufsgruppen werden mehrere Möglichkeiten eröffnet, um die Daten miteinander zu vergleichen. Im Vergleich einer Berufsgruppe über mehrere Länder hinweg wird die Einkommenssituation der jeweiligen Berufsgruppe nicht nur im Vergleich zum EU-Durchschnitt, sondern auch getrennt nach Ländern dargestellt. Ziel ist das ,Entdecken‘ von Gehaltsunterschieden zwischen den Ländern, so etwa, dass Ärzt_innen in Polen weniger als ein Viertel ihrer finnischen Kolleg_innen verdienen.
Genauso sind Vergleiche innerhalb eines Landes möglich, wodurch die Unterschiede in der Entlohnung zwischen den Berufsgruppen auf nationaler Ebene sichtbar werden.
Neben diesen überblicksmäßigen Einstiegsmöglichkeiten in die Thematik erlaubt die Website eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Einkommensunterschieden. So kann mittels Auswahlbox zwischen Nominaleinkommen in Euro und dem auf die tatsächliche Kaufkraft bezogenen Realeinkommen, das eine bessere Vergleichbarkeit über die Länder bietet, gewechselt werden. Diese Schritte werden von einer Info-Box begleitet, um den Nutzer_innen alle notwendigen Informationen auf einen Blick bereitzustellen.
Oftmals variiert das durchschnittlich geleistete Stundenausmaß zwischen Ländern und Berufsgruppen. Die Auswirkungen der höheren bzw. niedrigeren Arbeitsstundenintensität lassen sich durch die Darstellung von Stundenlöhne erforschen.
Neben der Einkommensverteilung zwischen Berufsgruppen und Ländern bietet die Website auch interaktive Möglichkeiten, die Struktur innerhalb einer Gruppe in einem Land zu analysieren – und diese ebenfalls in Kontrast zu anderen Ländern/Berufsgruppen zu setzen. Hierfür wird neben dem sogenannten Mittleren Einkommen (Medianeinkommen, das eine gleich große Anzahl von Haushalten mit niedrigerem und mit höherem Einkommen berücksichtigt) auch jeweils das Einkommen der 25 Prozent, die am unteren Ende, und der 25 Prozent, die am oberen Ende der Skala liegen, gezeigt. Dies erlaubt eine intensivere Auseinandersetzung mit der Frage, wie ähnlich die Einkommenserfolge von Personen innerhalb einer Gruppe im eigenen Land und in anderen Ländern sind. Während Manager_innen in Belgien relativ ähnliche Einkommenschancen haben, ist die Spreizung in Italien deutlich höher, wo die unteren 25 Prozent weniger als ein Drittel der Manger_innen im obersten Viertel verdienen.
Eine wesentliche Dimension der Ungleichheit ist der Gender Pay Gap (geschlechtsspezifischer Lohnunterschied). Auf der Website ist es möglich, für alle Gruppen und Länder neben dem Gesamtdurchschnitt auch die mittleren Einkommenswerte für Männer und Frauen getrennt darzustellen. Dies erlaubt einerseits einen Blick darauf, in welchen Berufsgruppen Frauen besonders stark benachteiligt werden, und vermittelt andererseits – mithilfe der Stundenlöhne – auch Erkenntnisse darüber, wie sich das um die geleisteten Arbeitsstunden weitgehend bereinigte Einkommen in den Berufsgruppen unterschiedlich auswirkt.
Die jeweils in der Konfiguration ausgewählten Daten und die Grafik sind in gängigen Formaten (.csv und .pdf) exportierbar und können so für weitere Forschung herangezogen, aber auch als Bilder in sozialen Medien geteilt werden.
Ungleichheit manifestiert sich nicht nur an den Einkommensdaten, sondern auch an den Rahmenbedingungen für ein gutes Leben. Entlang der Dimensionen Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Ökologie und Demokratie ermöglichen verschiedene Indikatoren und Merkmale einen Vergleich der Ist-Situation mit dem Stand von vor 5 und 10 Jahren in den europäischen Ländern.
Unterschiedliche Entwicklungen werden auf diese Weise sichtbar und vertiefen die Analyse zur europäischen Ungleichheit aus den Einkommensdaten um die Aspekte der Lebensqualität im weiteren Sinne.
In jeder Dimension werden Indikatoren – beispielsweise Jugendarbeitslosigkeit, Vertrauen in europäischen Institutionen, oder der CO2-Ausstoß – definiert. Die Daten zu den einzelnen Indikatoren werden in einer interaktiven Europa-Karte wie auch in tabellarischer Form gezeigt, damit Unterschiede und auseinanderdriftende Entwicklungen transparent werden.
Die Daten zur Einkommensungleichheit und die Indikatoren zur Lebensqualität zeigen die Ungleichheit in Europa in unterschiedlichen Dimensionen. Das prominenteste Beispiel für die negativen Auswirkungen von wachsender Ungleichheit ist der Brexit. In der innenpolitischen Debatte dazu waren die Beitragszahlungen Großbritanniens in den EU-Haushalt genauso Thema wie die vermehrte Konkurrenz am britischen Arbeitsmarkt durch Zuwanderung aus anderen EU-Staaten. Dieses Beispiel zeigt exemplarisch, wie sehr die Zukunft der Europäischen Union davon bestimmt wird, ob es gelingt, zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit zwischen den Staaten zu kommen, um damit die gesellschaftliche Zustimmung zu einem gemeinsamen Europa zu heben.
Auf der Webseite werden acht Lösungsvorschläge für ,brennende‘ Fragen der Ungleichheit in Europa präsentiert, indem zentrale Fragestellungen herausgefiltert werden und diesen mit konkreten Policy-Vorschlägen begegnet wird. Es geht dabei vor allem um die Demokratisierung der europäischen Institutionen, die Schaffung von verbindlichen sozialen Mindeststandards, die gerechtere Verteilung von Vermögen und Einkommen sowie um Strategien, mit denen die Klimaziele aus dem Abkommen von Paris erfolgreich umgesetzt werden können.
Die Policy-Empfehlungen sind konkrete inhaltliche Schlussfolgerungen aus den auf der Webseite präsentierten und analysierten Daten. Für die Verbreitung der Inhalte wird ein breites Bündnis aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft organisiert, das diese Inhalte in die öffentlichen Diskussionen rund um die kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament einbringen soll.
Dr. Georg Hubmann, Geschäftsführer Jahoda-Bauer-Institut
Dr. Stefan Humer – Assistenzprofessor am Forschungsinstitut Economics of Inequality (INEQ) der Wirtschaftsuniversität Wien (WU)
Dr. Mathias Moser – Assistenzprofessor am Institut für Wirtschaftsgeographie der WU sowie Forscher am INEQ