„Ohne Effizienz geht es nicht“ - Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Erhebung unter Studierenden der Volkswirtschaftslehre

Lukas Bäuerle, Stephan Pühringer, Walter Otto Ötsch
Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW)
Level: leicht
Perspektive: Diverse
Thema: Reflexion der Ökonomik
Format: Policy Paper & Advocacy

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„Ohne Effizienz geht es nicht“

Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Erhebung unter Studierenden der Volkswirtschaftslehre

Lukas Bäuerle, Stephan Pühringer, Walter Otto Ötsch


 

Auf einen Blick

  • Diese Studie widmet sich dem Zustand des Studiums der Volkswirtschaftslehre (VWL) aus der Perspektive seiner Studierenden.

  • Empirische Basis bildet eine Erhebung an fünf Studienstandorten in Deutschland und Österreich, die mit Mitteln der qualitativen Sozialforschung (Gruppendiskussionsverfahren und Dokumentarische Methode) ausgewertet wurde.

  • Es konnten vier wesentliche studentische Orientierungen rekonstruiert werden: (1) VWL-Studierende richten sich stärker an den Studienstrukturen aus als an den volkswirtschaftlichen Studieninhalten, (2) Mathematik wird als selbstverständliche Grundlage des Studiums wahrgenommen, (3) Bezüge zur Realität fehlen insbesondere im Grundstudium, und schließlich zeigte sich (4) eine scharfe Trennung zwischen einer starr geregelten Einführungsphase (3.-4. Semester) und einer von Wahlfreiheiten geprägten Studienphase danach.

  • Die empirischen Befunde werden zu aktuellen Debatten über (akademische) ökonomische Bildung in Beziehung gesetzt, abschließend werden (hochschul-)politische Handlungsoptionen aufgezeigt.

 

Für den deutschsprachigen Raum liegt hier die erste Studie vor, die sich der studentischen Wahrnehmung eines Studiums der Volkswirtschaftslehre (VWL) mit Mitteln der qualitativen Sozialforschung nähert. Aus insgesamt 16 Gruppengesprächen an fünf der größten VWL-Studienstandorte in Deutschland und Österreich konnten mithilfe der Dokumentarischen Methode vier grundlegende Orientierungen rekonstruiert werden, die für den studentischen Umgang mit dem VWL-Studium als einschlägig bzw. typisch gelten dürften.

Auswertung

Die Auswertung des empirischen Materials erfolgte mithilfe der Dokumentarischen Methode und wurde von einschlägigen Expert_innen (Ralf Bohnsack, Aglaja Przyborski) begleitet. Ziel der Methode ist es, die für einen Erfahrungsraum (hier das VWL-Studium) typischen Orientierungen zu rekonstruieren, mit deren Hilfe Teilhaber_innen an diesem Erfahrungsraum diesen mit Sinn und Bedeutung füllen. Dabei wird davon ausgegangen, dass diese Orientierungen sozialer Natur sind und in der Regel nicht ausdrücklich zur Sprache kommen. Vielmehr sind sie den betroffenen Akteur_innen bis in ihre alltäglichen Handlungen hinein vollkommen selbstverständlich. Im konkreten Fall wurde das VWL-Studium als ein solcher konkreter Erfahrungsraum begriffen, in dem Studierende alltäglich leben und Erfahrungen sammeln. Dort geraten sie mit kollektiven Orientierungen bzw. Einstellungen in Berührung, die das Typische des Erfahrungsraumes ausmachen und mit deren Hilfe sie sich im Studium zurechtfinden (Basistypiken).

Ergebnisse

Betrachtet man die Gesamtheit der im Rahmen dieser Studie interviewten Gruppen, so zeigt sich quer über alle Studierenden hinweg eine hohe Unzufriedenheit mit dem Studium und insbesondere mit den ersten Semestern. Die geäußerte Unzufriedenheit ist dabei unabhängig von Geschlecht, Alter und Studienstandort und auch unabhängig von der Beteiligung kritischer Studierender, die in Initiativen wie dem Netzwerk Plurale Ökonomik engagieren. Zwar werden teilweise auch positive Beispiele genannt, diese beziehen sich aber meist auf einzelne Professor_innen, bestimmte Kurse oder die infrastrukturellen Voraussetzungen an einzelnen Studienstandorten (etwa Bibliotheken, Mensen oder das Angebot an interaktiven Lernangeboten). Vor diesem Hintergrund lässt sich festhalten, dass der Erfahrungsraum VWL-Studium weitestgehend homogen ist und sich für Studierende gleich welcher Hintergründe in ähnlicher Weise darstellt. Insgesamt konnten vier für den Erfahrungsraum VWL-Studium typische Orientierungen rekonstruiert werden.

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1) Primat der Studienstrukturen

Die Studierenden sehen sich mit bestimmten Maßstäben konfrontiert, die für ein erfolgreiches Studium angelegt und durch die Formen und Strukturen der jeweiligen VWL-Studiengänge definiert werden (Beispiele für diese Strukturen sind: Prüfungsmodalitäten und -anforderungen, Strukturierung des Studiums, Bepunktung der Einheiten des strukturierten Studiums, curriculare Wahloptionen etc.). Für den überwiegenden Teil der befragten Studierenden ist der Umgang mit diesen Maßstäben die entscheidende Herausforderung im Erfahrungsraum VWL-Studium.

Angesichts der Herausforderungen, die Studienstrukturen für Studierende darstellen, treten die volkswirtschaftlichen Studieninhalte oftmals in den Hintergrund. Das heißt, die Studienformen sind typischerweise die beherrschenden Kriterien für die studentischen Orientierungsprozesse: Studierende richten sich primär an den Maßstäben und Handlungsgrundsätzen der Strukturen aus. Von dieser Warte aus wird den strukturbedingten Maßstäben eine große Relevanz beigemessen, neben der die verschiedenen Inhalte der Lehre gleich(gültig) und vergleichbar, also von nachrangiger Bedeutung erscheinen. Vor diesem Hintergrund sprechen wir von einem Primat der Studienstrukturen gegenüber den Studieninhalten.

2) Mathematik und Grundlagenveranstaltungen

In Bezug auf die Studieninhalte fand sich im Material eine als unveränderlich wahrgenommene Grundlage des Denkens über Wirtschaft: Mathematik. Mathematik ist aus Sicht der Studierenden institutionell notwendig in das VWL-Studium eingebettet. Es gibt keine Alternative im ‚relevanten’ Bereich des Studiums, die eine nicht-mathematische Herangehensweise an den Themenbereich der VWL darstellen könnte. In Bezug auf den Inhalt des eigenen Studienfaches liegt in diesem Sinne die geteilte Orientierung sämtlicher Gruppen vor, nämlich dass Mathematik im Rahmen des VWL-Bachelors unumgänglich ist oder, anders formuliert: Mathematik wird als notwendige Grundlage des VWL-Studiums wahrgenommen. Dabei bleibt festzuhalten, dass diese Notwendigkeit nicht auf kommunikativer Ebene verhandelt und also auch in den Gruppendiskussionen nicht explizit reflektiert wird, sondern vielmehr stillschweigend angenommen und gelebt wird.

3) Realitätsfernes Studium

Eine weitere allgemein geteilte Orientierung, die auf der Grundlage unserer Erhebung als für den Erfahrungsraum VWL-Studium typisch gelten kann, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Zwischen dem VWL-Studium und der Welt ‚da draußen‘ herrscht eine Kluft, die von Studierenden überbrückt werden muss. Die Beziehung zwischen dem VWL-Studium und der Außenwelt ist demnach ungeklärt: Weder das Studium erhellt, was es mit der realen Welt und den wirtschaftlichen Prozessen zu tun hat, noch helfen realweltliche Kontexte dabei, eine Brücke zum volkswirtschaftlichen Studium zu schlagen. Für diese Kluft lassen sich drei verschiedene Ausprägungen finden: eine epistemische (auf Erkenntnis bezogene), eine praktische und eine politisch-moralische Kluft.[1]

Die drei Klüfte können dabei auf unterschiedliche Motivationen für die Studienwahl zurückgeführt werden. Diese reichen von dem Wunsch, ein besseres Verständnis vom realen Wirtschaftssystem und seiner grundlegenden Funktionsweisen zu erlangen, über den Wunsch, das Erlernte in beruflichen Kontexten anwenden zu können, bis zu der Motivation, angesichts aktueller ökonomischer, politischer und sozialer Herausforderungen politisch und moralisch verantwortlich handeln zu lernen. Zudem beschreiben viele Studierende, dass in ihrem Grundstudium der VWL keinerlei reale ökonomische Fragestellungen behandelt würden (etwa die Ungleichheit oder die Ursachen und Folgen der Finanzkrise) und dass das vermittelte Wissen auch kaum dazu geeignet sei, drängende ökonomische Herausforderungen zu behandeln, wie zuletzt auch von Mitgliedern der britischen Studierendeninitiative Post Crash-Economics Society festgestellt wurde. So bringen es die Studierenden dann etwa folgendermaßen auf den Punkt: „Naja, was macht man da so (im VWL-Studium) – im Endeffekt verschiebt man dann halt Kurven.“

4) Tunnelerfahrung und Wahlfreiheit

Als weitere gemeinsame Orientierung der im Rahmen dieser Studie befragten VWL-Studierenden kann die Wahrnehmung der einführenden Grundlagenlehrveranstaltungen als ‚Tunnelerfahrung‘ angeführt werden. In diesen typischerweise ersten drei bis vier Semestern stellt sich das Studium als maximal reglementiert und fremdbestimmt dar und stellt die Studierenden sowohl kognitiv als auch psychisch und teilweise physisch vor große Herausforderungen, an denen manche auch scheitern oder beinahe scheitern. Einige der befragten Studierenden beschreiben dabei ausdrücklich das ‚Aussieben von Studierenden‘ als Hauptzweck von Grundlagenveranstaltungen. Damit einher geht einerseits eine latente Konkurrenzsituation unter Studierenden selbst. Andererseits werden auch die hierarchische Vermittlung von Inhalten durch das Lehrpersonal ohne jedweden dialogischen Austausch mit den Studierenden sowie die standardisierte Wiedergabe von Inhalten im Rahmen der Prüfungsphasen als stressauslösend wahrgenommen.

In scharfem Kontrast zu diesen ersten drei bis vier Semestern konnte aus dem empirischen Material eine curriculare Schwelle festgestellt werden, die von Studierenden als Befreiungsmoment wahrgenommen wird. Die den Grundlagenmodulen folgende Studienphase (ca. 4. bis 6. Semester) zeichnet sich insbesondere durch die Wahlfreiheit in modularen Studienentscheidungen, aber auch durch Möglichkeiten zu Praktika und Auslandsaufenthalten aus. Entscheidend für diesen typischen Entwicklungsverlauf ist also die Organisation des Studiums, seine Taktung und Strukturierung. Zudem zeichnet sich der Grundlagenbereich durch eine gewisse inhaltliche Homogenität aus, die v. a. in einer Mathematik- und Methodenlastigkeit besteht. Charakteristikum der ,Tunnelerfahrung‘ ist außerdem, dass während dieser Phase der Bezug zur ursprünglichen Studienmotivation aufgegeben werden (muss), da sie den Anforderungen des Studiums entgegenlaufen.

 

Schlussfolgerungen für die Plurale Ökonomik

Entgegen dem weitestgehend inhaltlich orientierten Diskurs um den Status Quo akademischer ökonomischer Bildung (Monismus bzw. Pluralismus von Schulen, Theorien, Methoden und Disziplinen) legen die hier vorgestellten Ergebnisse nahe, dass die institutionellen und strukturellen Kontexte von VWL-Studiengängen stärker zu berücksichtigen sind. Hier bieten sich Bündnisse mit Akteur_innen an, die die einschneidenden Auswirkungen einer Ökonomisierung der Hochschulbildung bereits ins Blickfeld genommen haben. Ein besonderer Diskussions- und Handlungsbedarf scheint dabei für die Formen der Leistungsmessung zu bestehen, ebenso wie für die Art, den Lehrplan zu organisieren. Die Studie legt nahe, dass das von den Akteur_innen der Pluralen Ökonomik erkannte Problem nicht alleine in einer einseitigen und unkritischen ökonomischen Bildung, sondern vielmehr in einer Ökonomisierung der ökonomischen Bildung liegt.
Die Frage nach der Dominanz mathematischer Methoden ebenso wie die fehlenden Bezüge zu den Ereignissen der realen Welt sind Themen, die in den Debatten über die Pluralisierung der ökonomischen Bildung bereits einschlägig diskutiert werden und nicht zuletzt in der Gründung der World Economic Association gemündet sind.[2]

In unserer Studie zeigt sich, dass diese fehlenden Bezüge auch aus studentischer Perspektive grundlegende Orientierungsprobleme darstellen. Die Ergebnisse legen in diesem Zusammenhang nahe, die beiden Aspekte (Dominanz der Mathematik, fehlende realweltliche Bezüge) mit dem jüngst erneut aufgeflammten Manipulationsvorwurf in Richtung standardökonomischer Lehrbücher in Beziehung zu setzen. So scheint die ausschließliche und übermäßige Verwendung mathematischer Methodologie einem ‚Realitätsverlust‘ Vorschub zu leisten, in dessen Zusammenhang selbst grundlegende und identitätsstiftende Orientierungen der Studierenden zum Gegenstand einer schleichenden Veränderung werden können.

 

Politische Schlussfolgerungen

Wie in dieser Studie eindrucksvoll gezeigt wird, ist eine der zentralen und unerlässlichen Herausforderungen für Studierende der VWL, ihr Leben und Studium effizient zu organisieren, da eine erfolgreiche Absolvierung des Studiums andernfalls nicht möglich erscheint. Diese strenge Selbstregulierung steht aber einer eigenständigen (kritischen und somit mündigen) Auseinandersetzung mit den Studieninhalten diametral entgegen. Gleichzeitig lernen die Studierenden im VWL-Studium das ökonomische Konzept der Effizienz (also die effiziente Nutzung knapper Ressourcen) als zentralen Grundsatz ökonomischen Handelns innerhalb der neoklassischen Ökonomik kennen und üben, es in unterschiedlichen Kontexten anzuwenden. Im gegenseitigen Wechselspiel wird auf diese Weise ein Denken in ökonomisch-effizienten Kategorien verfestigt und durch positive Anreize verstärkt, wodurch eine schrittweise Annäherung der eigenen Handlungsmaximen und Grundprinzipien an die modelltheoretischen Annahmen des homo oeconomicus auch auf handlungspraktischer Ebene ausgelöst wird. Unabhängig von der Frage, ob es hier zu einer ‚manipulativen Beeinflussung‘ durch die Inhalte des Studiums kommt oder ob diese letztlich nur die politischen Rahmenbedingungen neoliberal geprägter Gesellschaften widerspiegeln, trägt das Studium der VWL in seiner jetzigen Form nicht dazu bei, zukünftige Ökonom_innen zu mündigen, selbstverantwortlichen Bürger_innen zu bilden. Diesem Umstand zum Trotz nehmen sich nicht wenige Studierende oft gegen ihr Studium gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Herausforderungen unserer Gegenwart an. Dieser Mut und dieses Engagement sollte im Sinne einer aufklärenden und humanistischen Bildung von mündigen Bürger_innen dringend belohnt, nicht bestraft werden.

 

Über die Autor:innen

Lukas Bäuerle (M.A.)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ökonomie an der Cusanus Hochschule.
Dr. Stephan Pühringer
Research Fellow am Institut für Ökonomie an der Cusanus Hochschule Bernkastel-Kues sowie Research-Associate am Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft an der Johannes Kepler Universität Linz.
Prof. Dr. Walter Otto Ötsch
Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues.

 

[1] Vgl. dazu ausführlich: Pühringer, S./Bäuerle, L. (2018): What economics education is missing: the real world. In: International Journal of Social Economics 72(3), https://www.emeraldinsight.com/doi/pdfplus/10.1108/IJSE-04-2018-0221 (Zugriff: 21.12.2018).

[2] Earle, J./Moran, C./Ward-Perkins, Z. (2017): The econocracy: The perils of leaving economy to the experts, Manchester: Manchester University Press.

 

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