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Welche Faktoren fördern neues ökonomisches Denken bei Nachwuchswissenschaftler_innen?
Tom Bauermann, Michael Roos, Johanna Meier
Die Studie basiert auf einer Online-Umfrage unter 448 Promovierenden im Fach Volkswirtschaftslehre (VWL) an Universitäten und Graduiertenschulen im deutschsprachigen Raum.
Der Großteil promoviert in den klassischen Bereichen der VWL und greift auf klassische statistische Methoden und Gleichgewichtsmodelle zurück.
Eine flächendeckende Beteiligung an der Pluralismusdebatte findet gleichwohl kaum statt.
Der erwartete Erkenntnisgewinn von Gleichgewichtsmodellen ist geringer als die erwartete Chance, in einem Journal zu publizieren. Umgekehrt verhält es sich bei weniger gängigen Methoden wie den Agentenbasierten Modellen (ABM) oder der Netzwerkanalyse.
Hindernisse für die Nutzung neuer Methoden abseits der Mainstream-VWL (z. B. ABM) sind insbesondere der Kenntnis- und Zeitmangel.
Die Promovierenden kritisieren vor allem das Übermaß an mathematischen Modellen und Gleichgewichtsmodellen sowie zu wenig Empirie. Zudem werden fehlende gesellschaftliche Relevanz und fehlende Vielfalt bemängelt.
Als zentrales Thema der VWL gilt Knappheit, wohingegen Gutes Leben als gesellschaftlich wichtiges Thema angesehen wird. Die Doktorand_innen zeigen ein Bewusstsein für diese Diskrepanz.
Erkenntnisse über die Themen- und Methodenwahl von Nach- wuchswissenschaftler_innen sind von großer Bedeutung, wenn es um die Weiterentwicklung des Fachs Volkswirtschaftslehre (VWL) geht. Sie verraten, ob heutige Doktorand_innen eher dazu neigen, altbekannte Entwicklungslinien in der VWL fortzuführen oder neue Wege einzuschlagen. Um die Einstellungen derzeitiger Doktorand_innen gegenüber neuen ökonomischen Methoden und Modellen in Erfahrung zu bringen, wurden Pro- movierende der VWL an Universitäten und Graduiertenschulen im deutschsprachigen Raum mithilfe eines Online-Survey befragt. Der vorliegende FGW-Impuls fasst die Ergebnisse dieser Umfrage von 448 Befragten zusammen. Befragt wurde unter anderem zum Thema der Doktorarbeit, zu den genutzten Methoden und den zentralen Fragen für die VWL und die Gesellschaft, ferner zum Kenntnisstand und zur Nutzung neuer ökonomischer Methoden. Die Umfrage gab auch die Möglichkeit, sich kritisch zur aktuellen VWL zu äußern.
38,2 % der befragten Promovierenden sind Frauen und 61,8 % Männer. Der Großteil der Befragten (82 %) hat einen Abschluss in der Volkswirtschaftslehre erworben. Zudem gaben 3,5 % der Befragten an, Betriebswirtschaftslehre studiert zu haben, und 4,5 % Mathematik, Statistik oder Physik. Die Angaben der Befragten deuten auf eine zunehmende Anpas- sung an das amerikanische Vorbild von Promotionen hin. So promovieren 40,4 % im Rahmen eines strukturierten Doktorandenprogramms, 54 % der befragten Doktorand_innen verfolgen eine Lehrstuhlpromotion, und 5,6 % promovieren als Externe. 90,9 % gaben an, im Rahmen einer kumulativen Dissertation promovieren zu wollen, und 9,1 % wählten die Antwortoption Monographie. 66,4 % der Promovierenden gaben an, bereits eine Arbeit in einer Fachzeitschrift eingereicht zu haben.
Knapp 50 % der Promovierenden ordnen ihre Doktorarbeit den klassischen Teilgebieten der VWL, Ökonometrie, Mikro- und Makroökonomik sowie den Gebieten Arbeitsmarkt-, Verhal- tens- und Finanzmarktökonomik zu. Seltener (<2 %) widmen sich Promovierende Themen aus der Wirtschafts- und Theoriegeschichte der VWL. Das Thema der Promotion ist nicht immer (vollkommen) frei gewählt und kann beispielsweise durch die Anstellung des bzw. der Doktorand_in (z. B. in einem Drittmittelprojekt) vorgegeben sein. Daher wurde gefragt, wie selbstständig das Thema gewählt wurde. Fast 40 % gaben an, dass sie bei ihrer Themenwahl gar nicht bis wenig eingeschränkt waren. Nur 14 % der Befragten gaben an, stark eingeschränkt gewesen zu sein. Weiterhin sollte in Erfahrung gebracht werden, ob bzw. was Doktorand_innen davon abhält, zu einem an- deren Thema zu promovieren. Die absolute Mehrheit (61 %) gab an, dass sie auch zu einem anderen als dem aktuellen Thema promovieren würde. Der Großteil derer, die die Frage bejahten, sagte, dass Zeitmangel, ein Mangel an entsprechenden Daten oder eine vorgegebene Promotionsthematik sie von einer anderen Fragestellung abhalte (zusammen 65 %). Weniger relevant scheinen hingegen Einschränkungen durch den bzw. die Betreuer_in zu sein; auch mangelnde Popularität des Themas oder wenig Aussicht auf Erfolg, die Arbeit in einer angesehenen Fachzeitschrift publizieren zu können, spielen offenbar kaum eine Rolle (zusammen 16 %).
Außer zur Thematik der Doktorarbeit wurden die Doktorand_innen zu den Untersuchungsmethoden bzw. den genutzten Modellen ihrer Arbeit gefragt. Die überwiegende Mehrheit nutzt die klassischen Methoden der VWL: Regressions- und Zeitreihenanalyse sowie Gleichgewichtsmodelle. Neuere Modelle und Methoden – wie Agentenbasierte Modellierung (ABM), Netzwerkanalysen oder Statistical Learning – werden erwartungsgemäß seltener verwendet (siehe Abb. 1). Die neueren Methoden (bspw. ABM) stellen die Annahmen von Standardmodellen der Volkswirtschaftslehre, z. B. bezüglich der Rationalität, infrage und sind (noch) nicht im allgemeinen VWL-Studium angekommen. Standardmodelle der VWL sind vor allem Gleichgewichtsmodelle. Aufgrund der Fokussierung des Studiums auf klassische statistische Methoden und Gleichgewichtsmodelle ist deren verbreitete Nutzung während der Promotion wenig überraschend. Insofern sind die meisten Doktorand_innen durch den vorherrschenden ökonomischen Mainstream in der Lehre geprägt.
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Interessanter ist der Vergleich von Gleichgewichtsmodellen und alternativen ökonomischen Methoden bezüglich der Einschätzung des zu erwartenden Publikationserfolgs sowie des Potentials, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Während viele Promovierende glauben, dass Gleichgewichtsmodelle eine gro- ße Chance bieten, in renommierten Fachzeitschriften publiziert zu werden, glauben wesentlich weniger, dass dieser Modelltyp neue ökonomische Erkenntnisse hervorbringen kann. Dieses Verhältnis kehrt sich bei neueren Methoden um.
Weiterhin wurde gefragt, ob Doktorand_innen eine andere Methode nutzen wollen und, wenn sie dies bejahen, warum sie dies nicht tun. 31 % gaben an, eine andere Methode nutzen zu wollen. Mangelnde Kenntnisse in der betreffenden Methode sind das Haupthindernis (54,4 %), wohingegen die mangelnde Aussicht auf eine erfolgreiche Publikation (6 %), der Rat des bzw. der Betreuer_in (7,4 %) oder die geringe Popularität der Methode (11,4 %) kaum entscheidend sind.
Die Ergebnisse bezüglich der Themen- und Methodenwahl lassen sich wie folgt zusammenfassen: Zum einen orientieren sich die Themen und Methoden an den klassischen Bereichen bzw. den traditionellen Methoden und Modellen der VWL. Wäh- rend das Interesse an und das Vertrauen in klassische statistische Verfahren hoch ist, werden Gleichgewichtsmodelle hin- sichtlich ihrer Erkenntnisgenerierung kritischer betrachtet. Die Doktorand_innen sehen in alternativen Methoden und Modellen durchaus Potential zur Gewinnung neuer Erkenntnisse, bezweifeln allerdings den Erfolg und das Interesse an der Veröffentlichung. Das (Eigen)Interesse an alternativen Themen und Methoden wird vor allem durch praktische Gründe, besonders Zeit- und Kenntnismangel, gebremst.
Den Promovierenden wurde die Möglichkeit gegeben, Kritik an der VWL zu äußern. Mehr als die Hälfte der Befragten nutzte die Möglichkeit, Kritik zu äußern. Mit 28,5 % wurden die verwendeten Untersuchungsmethoden am häufigsten genannt.
Insbesondere wurden dabei das Übermaß an Mathematik und Gleichgewichtsmodellen sowie zu wenig Empirie kritisiert. 19 % bemängelten eine fehlende gesellschaftliche Relevanz der behandelten Themen sowie die schlechte Vermittlung der wissenschaftlichen Erkenntnisse an die Öffentlichkeit.
Darüber hinaus wurde von 17 % der Promovierenden mehr Pluralismus, also Vielfalt in der Lehre und die Hinwendung bzw. Öffnung zu anderen Wissenschaften gefordert. Auch das Wissenschaftssystem in der VWL wurde mehrfach kritisiert, wobei häufig ein übermäßiger Publikationsdruck oder wissenschaftliches Fehlverhalten genannt wurden. 7 % der Promovierenden hatten entweder keine konkreten Vorstellungen über mögliche Änderungen oder sahen keinen Änderungsbedarf. Nach Einschätzung des Projektteams enthielten die meisten Antworten eine mäßige Kritik an der Dominanz bestimmter Methoden oder Themen. Nur wenige Antworten enthielten eine entweder sehr schwache oder sehr starke Kritik.
In der Umfrage wurde außerdem untersucht, wie die Promo- vierenden den gegenwärtigen Zustand der VWL bewerten. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise wird der VWL vielfach vorgeworfen, einseitig und realitätsfern zu sein. Um zu prüfen, ob auch die Nachwuchswissenschaftler_innen der Disziplin solche Ansichten teilen, wurden sie in einem ersten Schritt nach der zentralen Fragestellung für die VWL als Disziplin befragt. Zur Beantwortung der Frage sollten die Promovierenden verschiedene Themen ihrer Wichtigkeit nach ordnen, darunter ein Gutes Leben, Herrschaft, Knappheit, Ungleichheit, Unsicherheit und Wandel. Die große Mehrheit der Promovierenden gab an, die Knappheit als das wichtigste Thema der VWL anzusehen. In einem zweiten Schritt wurde nach der gesellschaftlichen Relevanz der VWL, d. h. nach den zentralen Fragestellungen für die Gesellschaft gefragt. Dazu sollten die gleichen Themen wie in der Frage zuvor wieder ihrer Wichtigkeit nach geordnet werden. Als das mit Abstand wichtigste Thema für die Gesellschaft sahen die Promovierenden das Gute Leben. Knapp die Hälfte der Promovierenden gab dieses Thema als das zentrale Thema der Gesellschaft an.
Abbildung 2 lässt zwei wichtige Schlussfolgerungen zu. Zum einen lassen die Antworten darauf schließen, dass neoklassische Sichtweisen unter den Promovierenden weit verbreitet sind. In der Neoklassik gilt die Knappheit als das zentrale Problem, wohingegen sie in anderen Denkschulen der VWL nur eines unter mehreren Problemen darstellt. Eine zweite wichtige Einsicht liefert der direkte Vergleich der Antworten zur Bedeutung von Themen für die VWL und für die Gesellschaft. Die Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass die Promovierenden hier eine deutliche Diskrepanz sehen. Während Knappheit von 47 % als das wichtigste Thema für die VWL gesehen wird, sehen das nur noch 11 % im Hinblick auf die Gesellschaft. Im Gegensatz dazu wird das Gute Leben von 50 % der Promovierenden als das gesellschaftlich wichtigste Thema angesehen, während nur 19 % dieses Thema als besonders wichtig für die VWL halten.
Für die Antwort war ein Freitextfeld verfügbar, welches jedoch nicht ausgefüllt werden musste. 53 % der Teilneh- mer_innen, die an der kompletten Umfrage teilnahmen, füllten dieses Feld aus.
Über die Autor:innen
Tom Bauermann - Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Makroökonomik der Ruhr-Universität Bochum und der Ruhr-Graduate School in Economics.
Prof. Dr. Michael Roos - Inhaber des Lehrstuhls für Makroökonomik an der Ruhr-Universität Bochum.
Johanna Meier - Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Makroökonomik der Ruhr-Universität Bochum.