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Das Modell des homo oeconomicus erklärt in der Mainstream-Ökonomik das Verhalten des Individuums nach der Logik der Situation. Vertreter*innen des Konzepts möchten es nicht als Menschenbild verstanden wissen, und argumentieren, dass es sich um eine wissenschaftliche Abstraktion handelt. Auf der gesellschaftlichen Makroebene fungiert der homo oeconomicus jedoch als repräsentativer Akteur (nicht gegendert, da meist männlich gedacht) und stellt somit eine Reduktion des Menschen dar. Es lohnt sich, näher zu untersuchen, wessen Interessen er implizit vertritt.
Dieser Artikel wurde auf Agora42 erstveröffentlicht.
In der Kolumne Jenseits von Angebot und Nachfrage nehmen Autor*innen aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik die fachlichen Scheuklappen der Lehrbuchökonomie ab und werfen einen pluralökonomischen Blick auf gesellschaftspolitische Fragestellungen.
Im Zentrum des Konzepts des homo oeconomicus steht die vermeintlich rationale Wahl, die er anhand von festgelegten Annahmen innerhalb eines Modellrahmes treffen kann. In Kombination mit dem Ansatz des methodologischen Individualismus wird die Verantwortung für diese Entscheidung allein auf das Individuum unabhängig von seiner sozialen Lebenssituation zurückgeführt. Der methodologische Individualismus, der auf den Nationalökonomen Joseph Schumpeter zurückgeht, wurde etabliert, um vom individuellen Handeln auszugehen, ohne dabei komplexe Prozesse des menschlichen Verhaltens und der Entscheidungsfindung erklären zu müssen. Ein Individuum würde von gesellschaftlichen Einschränkungen beeinflusst, träfe seine Entscheidung jedoch ausschließlich nach persönlicher Präferenz. Aus diesen individuellen Handlungen würden sich wiederum die sozialen Zustände ergeben (nach der „Wannen-Theorie“ des Soziologen James Samuel Coleman). Soziale Phänomene wären demnach stets als Resultat individuellen Verhaltens zu verstehen ganz nach dem neoliberalen Motto Margaret Thatchers: „there is no such thing as society“. Zusammen mit der Vorstellung des homo oeconomicus wird das Individuum zu einem nutzenmaximierenden Kalkulierer stilisiert, der jede seiner Entscheidungen nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip abwägt.
Der methodologische Holismus oder auch methodologischer Kollektivismus wendet dagegen ein, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist und somit die Gesellschaft im Ganzen betrachtet werden sollte. Auf den Vorwurf einer fehlenden sozialen Einbettung entgegnen Vertreter*innen des methodologischen Individualismus, dass das Individuum alle relevanten Informationen auf gesellschaftlicher Ebene z.B. Werte und Normen, in seine Entscheidungen und Handlungen bereits einbeziehe. Es antizipiert demnach bereits die Gegebenheiten, bildet davon ausgehend Erwartungen und folgt der „Logik der Situation“. Ob sein Handeln oder die Werte, auf denen es sein Verhalten gründet, moralisch sind und somit gegebenenfalls zu verurteilen wären, läge dabei nicht im Ermessen der Ökonom*innen. Eine intersubjektive Bewertung von Präferenzen sei nicht möglich oder sinnvoll. Jedes Individuum habe eine eigene Präferenzhierarchie, die nicht von Dritten angezweifelt werden könne, da jedes Individuum am besten wüsste, wie es seine Bedürfnisse befriedigen kann. Nach dieser Position gibt es genauso wenig objektive Nutzengrößen, wie objektive Werte.
Die Modelle des methodologischen Individualismus und des homo oeconomicus sollen zwar nicht als Menschenbild gelesen werden, sie dienen jedoch als Grundlage für Modelle, an denen sich die reale Wirtschaftspolitik orientieren soll. Hier wird also die Schwelle einer wissenschaftlichen Modellannahme zur Realität übertreten. Ökonomische Verhaltensmodelle erhalten so direkten Einfluss auf unsere gesellschaftliche Realität.
Problematisch daran ist, dass diese Modelle nicht, wie von ihren Vertreter*innen behauptet wird, objektiv und neutral sind, sondern aus einer hegemonialen gesellschaftlichen Position begründet sind, deren Voraussetzungen nicht reflektiert werden. Dies zeigt sich zum Beispiel, wenn sich die Mainstream-Ökonomik an Erklärungen der Diskriminierung am Arbeitsmarkt versucht. So kommt es zu ökonomischen Modellen, die Diskriminierung als Konsequenz von individuellem Geschmack (taste-based discrimination) oder aufgrund von Statistiken (statistical discrimination) erklären und damit rationalisieren und relativieren. Abgesehen davon, dass Diskriminierung meist nur aufgrund von Effizienzverlusten im Fokus ökonomischer Forschung steht, zeigt sich dahinter eine Verharmlosung von Unterdrückungssystemen. Rationalität kommt vom lateinischen ratio und bedeutet Vernunft oder Berechenbarkeit. Wird ein Verhalten also rationalisiert, bedeutet dies, dass es als vernünftig gewertet und damit legitimiert wird.
Aber Unterdrückungssysteme können nur dann als rational begriffen werden, wenn sie eine Machtposition sichern oder diese nicht in Frage stellen wollen. Wenn rassistische oder sexistische Diskriminierungen als Geschmäcker zu rationalem Verhalten erklärt werden, entlarvt das die normative Position des Theoretikers und der Theoretikerin – denn für betroffene Menschen stellt Diskriminierung mehr als eine „rationale“ Entscheidungen dar. Es sind Entscheidungen, die sie herabwürdigen, demütigen, in eine prekäre Lebenssituation bringen. Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, möchten nicht innerhalb der gegebenen Logik der Situation handeln, da sie in dieser Logik oft nur geringen Spielraum haben, sich frei von gesellschaftlichen Zwängen und von außen zugeschriebenen Eigenschaften zu verhalten. Gesellschaftliche Strukturen werden hier zwar wie im Modell des methodologischen Individualismus auf individueller Ebene angenommen, jedoch müssten sie sich – folgt man dieser Theorie – der Logik der Situation beugen. So könnte man daraus folgern, dass Menschen, die diskriminiert werden, dies in ihren Erwartungshorizont mit aufnehmen und sich dementsprechend nutzenmaximierend verhalten. Innerhalb dieser Logik müssten geflüchtete Menschen Arbeit mit niedrigem Lohn und prekären Arbeitsverhältnissen als nutzenmaximierende Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse ansehen. Dabei werden sie aufgrund ihrer prekären Situation ausgebeutet und eine gerechte Teilhabe wird ihnen verwehrt, während inländische Firmen von den günstigen Arbeitskräften profitieren. Soll von diesen Menschen erwartet werden, dass sie sich dieser „Logik der Situation“ entsprechend verhalten?
Diskriminierung auf die individuelle Ebene verkürzt, ignoriert, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt, das sich aus einer Vielzahl von Situationen speist. Menschen werden wiederholt auf stereotype Art und Weise gelesen, abgewertet oder ausgeschlossen. Wobei die einzelne Situation oft nicht eindeutig bewertet werden kann, was das Offenlegen von Unterdrückungssystem so schwierig macht. Theoretiker*innen, die Modelle aufstellen, die jegliches Verhalten jenseits der Norm als nicht zu berücksichtigende Abweichung betrachten, verfolgen somit eine klare normative Wertsetzung.
Der homo oeconomicus schaut aus einer privilegierten, heteronormativen, patriarchalen, westlichen Brille auf die Welt, da er von gegebenen kontinuierlichen Machthierarchien abstrahiert. Wird die Ökonomik als eine Wissenschaft begriffen, die wirtschaftliche Bedingungen, Verhältnisse und Prozesse erforschen soll, kann dies nur geschehen, wenn gegebene Ungleichheiten berücksichtigt werden, da sie die Lebenssituation für die meisten Menschen auf unserem Planeten darstellen.
Das Modell des methodologischen Individualismus in Verbindung mit dem des homo oeconomicus begreift also einerseits nicht, dass hinter dem repräsentativen Agenten tatsächlich ein impliziter normativer Standpunkt steht. Andererseits haben diese Modelle auch tatsächlichen Einfluss auf unser Menschenbild, wie oben schon angedeutet. Die Kriminologin Eva Groß hat herausarbeitete, dass die Betonung von individueller Verantwortung und ökonomisch effizienter Kosten-Nutzen-Logik Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat, was sie als „marktförmigen Extremismus“ bezeichnet. Dieser besteht aus drei Dimensionen. Zum einen dem „unternehmerischen Universalismus“, wonach sich jede Situation zur Selbstoptimierung eignet. Zum anderen einer Wettbewerbs-Ideologie, der zufolge unsere Gesellschaft vor allem durch funktionierenden Wettbewerb Fortschritt erreichen würde. Und drittens einer ökonomistischen Wertehaltung, die ökonomische Kriterien zur Bewertung ganzer Bevölkerungsgruppen heranzieht.
Laut Groß steht dieser marktförmige Extremismus in signifikantem Zusammenhang zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, sowie rechtsextremen und rassistischen Narrativen. Durch die Ökonomisierung der Wahrnehmung von gesellschaftlichen Verhältnissen wird es denkbar, Menschen, denen mangelnde Nützlichkeit und Effizienz zugesprochen wird, abzuwerten und zu diskriminieren. Die Kosten-Nutzen Logik des homo oeconomicus schließt also nicht nur Menschen aus, die nicht einer impliziten Norm entsprechen, sondern erzeugt weiteren gesellschaftlichen Ausschluss.
Eine wirtschaftliche Theorie, die sich über die gesellschaftliche Normposition ihres Modell-Individuums ausschweigt, kann nicht behaupten eine rein theoretische Vereinfachung zu sein. Besonders dann nicht, wenn Sie als Vorlage für wirtschaftspolitische Maßnahmen genutzt wird. Es ist an der Zeit, dass die Mainstream-Ökonomik die implizite gesellschaftliche Position ihrer Modelle reflektiert und neue Konzepte entwickelt, die die ganze Gesellschaft auf Augenhöhe einschließt.
Elena Goschin studiert in Köln Volkswirtschaftslehre und Politik und arbeitet als studentische Hilfskraft am dortigen Wirtschaft- und Sozialgeographischen Institut. Sie hat außerdem eine Ausbildung zur Yoga-Lehrer*in absolviert. Seit 2019 ist sie Mitglied im Netzwerk Plurale Ökonomik. Darüber hinaus sind Ihre Interessenfelder Gender Studies, intersektionaler Feminismus, postkoloniale Theorie, transformative Gerechtigkeit und Neurosystemische Integration.
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