Dr. Dr. Helge Peukert
„I don´t care who writes a nation´s laws – or crafts its advanced treaties – if I can write its economic textbooks. The first lick is the privileged one, impinging on the beginner´s tabula rasa at its most impressionable state.“ (1990)
Paul Samuelson, Nobelpreisträger, Lehrbuchautor und wohl bedeutendster Ökonom des 20. Jahrhunderts
In der Studie werden Lehrbücher zur Einführung in die Mikro- und Makroökonomie an deutschen Hochschulen untersucht.
Sie stellen einseitig die Vorzüge der vermeintlich stabilen Konkurrenzwirtschaft in den Mittelpunkt.
Ungleichheit, ökologische und sozialpolitische Aspekte spielen kaum eine Rolle, staatliche Wirtschaftspolitik und die Gewerkschaften werden meist negativ beurteilt.
Postkeynesianische, sozioökonomische u. a. Ansätze werden den Studierenden vorenthalten.
Lichtblick: Es gibt niveauvolle pluralistische Lehrbücher, die auch andere Denkschulen in ihrer Vielfalt thematisieren.
Nicht erst seit der Finanzkrise gibt es v. a. von Seiten engagierter Studierender, z. B. des Netzwerks Plurale Ökonomik in Deutschland (http://www.plurale-oekonomik.de/netzwerk-plurale-oekonomik/), Kritik an der als einseitig empfundenen volkswirtschaftlichen Lehre. Diese Studie untersucht am Beispiel der Mikro- und Makroökonomie, ob dieser Vorwurf gerechtfertigt ist. Hierzu wird zunächst ein Kriterienkatalog entworfen, um zu bestimmen, was man unter Neoklassik und dem vorherrschenden Mainstream zu verstehen hat. So wird z. B. davon ausgegangen, dass beim Mainstream die Vorstellung herrscht, dass die ,Konkurrenzwirtschaft‘ im Großen und Ganzen selbststabilisierend ist und es meist keiner größeren Interventionen und Korrekturen von Seiten des Staates bedarf. Natürlich gibt es hierbei Abstufungen, d. h. einige Ansätze und Lehrbücher, die in bestimmten Situationen akzeptieren, wenn der Staat fiskalpolitisch eingreift oder die Zentralbank über eine Zinsregel das System stabilisieren muss.
In der Volkswirtschaftslehre (VWL) gibt es – wie in anderen Sozialwissenschaften auch – neben dem Mainstream ungefähr ein Dutzend unterschiedliche Denkschulen (Postkeynesianismus, Sozioökonomie usw.), und es stellt sich die Frage, ob diese in den Lehrbüchern zumindest teilweise mit vorgestellt werden.
Zu den Kernbereichen der VWL gehören die Einführungsveranstaltungen der Mikro- und Makroökonomie, die sich mit dem Verhalten der einzelnen Haushalte und Unternehmen bzw. der gesamten Volkswirtschaft (Wachstumsrate, Einkommensverteilung usw.) befassen. Um untersuchen zu können, welche Schwerpunkte diese Veranstaltungen aufweisen, wurden alle laut Modulhandbüchern an deutschen Hochschulen verwandten Lehrbücher durchgesehen (jeweils rund 60) und zwei sehr häufig benutzte Lehrbücher1 beispielhaft kapitelweise hinsichtlich Pluralität, Wissenschaftlichkeit usw. untersucht. Anschließend wurden die Inhalte der beiden exemplarischen Lehrbücher mit den anderen Lehrbüchern verglichen. Es stellte sich heraus, dass es kaum Abweichungen gab.2
Das mikroökonomische Lehrbuch, dessen Autor Hal Varian nicht unbedingt frei von Interessenkonflikten sein dürfte – denn er hat noch eine lukrative Nebenbeschäftigung als Chefökonom von Google inne und ist dort v. a. für die gewinnträchtige Auktionierung von Werbeeinblendungen zuständig –, folgt ausschließlich dem seit Jahrzehnten feststehenden neoklassischen Regelwerk mit dem rational-egoistischen Homo oeconomicus, gewinnmaximierenden Unternehmen oder dem Prinzip von Angebot und Nachfrage, das dank der Marktkräfte stets zu einem Gleichgewicht führe, usw. Es werden, ohne dass empirische Belege angeführt werden, Behauptungen über (z. B. schnell ansteigende) Kostenkurvenverläufe oder ein bestimmtes Konsumentenverhalten als Normfälle hingestellt. Die angeblichen Normfälle untermauern zwar die behaupteten positiven Wohlfahrtseffekte der meist wenig präzise definierten ,Konkurrenzwirtschaft‘, können aber wissenschaftlich – auch dies zeigt die Studie – definitiv nicht als gesichert gelten. Diese positive Darstellung des Wettbewerbs (selbst Monopole werden von Varian einbezogen, da es ja potentielle Neueinsteiger geben könnte) wird mit vielen mehr oder minder passenden bzw. zugeschnittenen Geschichten aus dem Wirtschaftsalltag bunt und bildhaft ausgestaltet; durch mathematische Ableitungen und Formalismen erhalten die Lehrbücher zudem einen wissenschaftlich-wertneutralen Anstrich.
Die notwendige institutionell-juristische Einbettung (und Gestaltbarkeit) von Marktprozessen kommt nur ex negativo ins Spiel, also durch Verneinung ihrer Notwendigkeit, indem nämlich dem Staat und oft auch den Gewerkschaften bei ihren Versuchen, von außen die Marktkräfte z. B. durch Höchstpreise zu beeinflussen, Ineffektivität und Ressourcenverschwendung bescheinigt und fragwürdige Absichten (Machtausübung, Einkommensmaximierung zu Lasten Arbeitsloser usw.) unterstellt werden. Ökologische und sozialpolitische Themen spielen keine Rolle, öffentliche Güter werden nur am Rande und nicht wertneutral behandelt.
Die Finanzmarktkrise ging spurlos an den Mikrolehrbüchern vorbei: Nach wie vor wird prinzipiell die Gültigkeit der Effizienzmarkthypothese unterstellt, der zufolge die Akteur_innen neue Informationen sofort mit kühlem Kopf auswerten und ,einpreisen‘. Herdenverhalten oder abwechselnden irrationalen Überschwang und Pessimismus gibt es nicht, und die Ergebnisse der Verhaltensökonomie werden kleingeredet. Es ist sehr überraschend, welch einseitiges, marktliberal-konservatives Weltbild Varians Lehrbuch vertritt. In seiner auf über 1000 Seiten angeschwollenen Einführung ist für andere Denkschulen kein Platz.
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Das makroökonomische Lehrbuch von Blanchard und Illing, das niveaumäßig deutlich über dem den deutschen Markt dominierenden Lehrbuch von Mankiw steht, blendet ebenfalls abweichende Schulrichtungen weitestgehend aus. Als primäre Zielfunktion der Wirtschaft gilt das Wirtschaftswachstum. Die Autoren gehen davon aus, dass es eine neue makroökonomische Synthese gebe (die sogenannte New Consensus Macroeconomics), die Elemente der Angebotsökonomie und eines vorsichtigen Keynesianismus sowie der verschiedenen Marktgleichgewichtsschulen usw. verbindet. Diese Kombination verschiedener Schulrichtungen führt zu schwerlich miteinander vereinbaren Aussagen, zwischen denen die Verfasser hin- und herschwanken. Wenn man z. B. fragt, ob eine länger anhaltende Rezession oder eine drastische Sparpolitik – wie in einigen EU-Ländern praktiziert – überbrückt und vermieden werden sollte, weil sich die Durststrecke negativ auf das langfristige Wachstumspotential auswirkt (Hystereseeffekt), wird dies an einigen Stellen bejaht, an anderen verneint, und teilweise werden ausgeglichene Haushalte und die Politik der Troika (auch wieder mit Hintertürchen) usw. verteidigt. Dank der Unterscheidung von Wirkungen in einer kurzen und in einer langen Frist werden diese Unverträglichkeiten verdeckt. Da sich in der langen Frist (nach einigen Jahren) die grundlegenden Strukturen (Kapitalausstattung, Infrastruktur, Bildungsstand usw.) über die Marktprozesse als bestimmend herausstellen, hat z. B. Fiskalpolitik bestenfalls nur kurzfristig Erfolg.
Die eigentlich marktkonformistische Grundhaltung der Autoren zeigt sich besonders deutlich beim Thema Arbeitsmarkt. Dem lebendig-flexiblen Arbeitsmarkt der USA werden die ,altersschwachen‘ Verhältnisse in der EU entgegengehalten, die man mit geringerem Wachstum bezahle. Flexible Wechselkurse und eine möglichst wenig regulierte Globalisierung seien für angemessene Wachstumsraten unabdingbar. Das als Synthese gedachte Lehrbuch akzeptiert, wenn auch mit geringen Abweichungen, das seit den 1970er Jahren gegen den Keynesianismus aufgefahrene Standardrepertoire. Hierzu zählt die Phillips-Kurve (und daran anschließend die NAIRU), die anfangs eine politische Menüwahl zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit beinhaltete. Milton Friedman deutete sie dann dahingehend um, dass es eine ,natürliche‘ Arbeitslosigkeit gebe, auf die sich die Ökonomie zwangsläufig zubewege, weil alle Akteur_innen vorausschauend-rationale Erwartungen haben.
Die ‚natürliche´ Rate, die die Höhe der Arbeitslosigkeit angibt, bei der es zu keiner Veränderung der Inflationsrate kommt, hängt von institutionellen Gegebenheiten ab: Je höher die Mindestlöhne und je besser die Arbeitslosenversicherung, umso höher muss die natürliche Arbeitslosigkeit ausfallen. Die These einer über bestimmte Zeiträume stabilen Phillips-Kurve wird gemeinhin kontrovers diskutiert, nicht aber im Lehrbuch; immerhin hielt man in den 1990er Jahren eine natürliche Arbeitslosigkeit von 5-6 Prozent für unumgänglich, was sich allerdings als falsch erwies. Auch wird von Arbeitsökonom_innen argumentiert, dass höheres Arbeitslosengeld es den Arbeitslosen erlaube, nicht sofort einen Job als Kellner_in anzunehmen, sondern nach Tätigkeiten zu suchen, die ihren Qualifikationen eher entsprächen. Das erhöhe die Produktivität und das Wachstum, so dass die vermeintliche natürliche Rate sinken müsste. Die Kernelemente des Lehrbuches ruhen demnach auf schwachem Grund; eigentlich bleibt unklar, auf welchen gesicherten Fundamenten die Makroökonomie eigentlich überhaupt ruht.
Die Studierenden werden durch die kurvensatte Anlage des Buches wahrscheinlich verwirrt. Dies sei hier am Beispiel der Phillips-Kurve veranschaulicht: Zunächst besteht ein Zielkonflikt zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, dann wird mit Friedman für die lange Frist eine vertikale Phillips-Kurve angenommen (für den inhaltlichen Punkt dieses Abschnittes ist die Kenntnis der erwähnten Schulrichtungen nicht wichtig). Als nächstes lesen die Studierenden, der Monetarismus nähme an, monetäre Impulse könnten nie den Wachstumspfad stören. Gemäß der gilt die vertikale Phillips-Kurve bei rationalen Erwartungen dann aber ebenfalls in der kurzen Frist, aufgrund von Überraschungseffekten gelte in der kurzen Frist aber trotzdem die nichtvertikale Version. Der Neukeynesianismus meint wiederum unter Bezugnahme auf von ihm durchaus für sinnvoll erachtete Preisrigiditäten, dass die nichtvertikale Phillips-Kurve in der kurzen Frist auch ohne Überraschungseffekte gilt. Schließlich könne alles wieder durch allerlei Erwartungseffekte modifiziert werden, so dass es selbst in der kurzen Frist keiner Nachfragestimulierung bedarf. Von der ebenfalls im Lehrbuch präsentierten Angebotsökonomie wird sie zudem grundsätzlich für einen falschen Weg gehalten. So wird auch der Keynes‘sche Multiplikator mit erhöhten Staatsausgaben, die dann zu erhöhter Beschäftigung führen, vorgestellt und über das sogenannte IS-LM-Modell gezeigt, dass mit Geld- und Fiskalpolitik einiges zu erreichen ist, was dann nach Einführung der Phillips-Kurve wieder annulliert wird. Auch liegt der Widerspruch vor, dass das IS-LM-Modell konstante Preise, die Phillips-Kurve aber schnell ansteigende Löhne – und das sind ja auch Preise – voraussetzt.
Die Kapitel zu den Geld- und Finanzmärkten wurden nicht zuletzt wegen der Finanzkrise überarbeitet und erweitert. Leider wird nach wie vor die Geldschöpfung durch Privatbanken nicht klar erklärt, und an einigen Stellen fallen die Autoren in die Angewohnheit zurück, den Prozess anhand des Geldschöpfungsmultiplikators kausal zu erklären, was heißt, zunächst müsse eine Injektion von Zentralbankgeld durch die EZB erfolgen. Die Finanzkrise wird nicht auf Tendenzen zur Instabilität zurückgeführt, die dem Finanzsystem selbst innewohnen, und die Reformdiskussion um das Finanzsystem bewegt sich im Rahmen der vorgenommenen Regulierungen (Basel III usw.). Unterlassene, aber in Wissenschaft und Politik durchaus erwogene radikalere Vorschläge – wie eine Größenbegrenzung der Banken, ein Verbot von Kreditausfallversicherungen usw. – werden nicht erwähnt. Die seit der Finanzkrise neue Rolle der Zentralbanken, die nicht nur (Null-)Zinspolitik betreiben, sondern auch durch ,unkonventionelle‘ Maßnahmen wie Draghis OMT-Versprechen des eventuellen massiven Ankaufs von toxischen Staatsanleihen hervorstechen, wird beschrieben und weitgehend für richtig gehalten. Mit dem Bedeutungszuwachs der ,unabhängigen‘ Zentralbank geht parallel ein Einflussverlust der demokratisch gewählten Instanzen einher, so dass die in der Überschrift von Kapitel 21 gestellte Frage „Sollten Politiker in ihrer Entscheidungsfreiheit beschränkt werden“ mit einem klaren ‚Ja‘ beantwortet wird. Den Studierenden wird somit auch hier eine eher einseitige Sicht vermittelt.
Glücklicherweise gibt es neben den in der Studie analysierten Einführungslehrbüchern des Mainstreams eine ganze Reihe deutschsprachiger und angelsächsischer alternativ-pluraler Lehrbücher auf hohem Niveau,3 die die Vielfalt der wirtschaftswissenschaftlichen Denkschulen repräsentieren. Sie überwinden all jene konzeptionellen und auch ideologischen Einseitigkeiten, die sehr abstrakten, wenig auf Institutionen, empirische Daten und wirtschaftsgeschichtliche Zusammenhänge eingehenden und oft nur einer einzigen Denkschule verpflichteten Lehrbücher der vorherrschenden Mikro- und Makroökonomie an deutschen Hochschulen. Sie fühlen sich oft einem demokratischen, sozialen, kulturell diversen und ökologischen Leitbild und dem Wissenschaftsideal einer auch innerwissenschaftlich herrschaftsfreien Kommunikationsgemeinschaft verpflichtet, in der die verschiedenen Denkschulen miteinander um die nie gewisse und immer bestreitbare und zu bestreitende Wahrheit ringen, um zusammen den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein und kreativ eine angesichts der ökologischen Begrenzungskrise genügsamere Wirtschafts- und Lebenswelt mitzugestalten.
Über den Autor
Dr. Dr. Helge Peukert ist apl. Prof. an der Forschungsstelle Plurale Ökonomik an der Universität Siegen.