Lizenz: MAPS IN MINUTES™ 2016 (bearbeitet durch: Engagement Global / Bildung trifft Entwicklung)
Debatten zu verschiedenen Theorien und Konzepten der (wirtschaftlichen) Entwicklung erfahren eine neue Aktualität. Gerade vor dem Hintergrund größer werdender globaler Ungleichheiten sowie den wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronapandemie sind aktive und ergebnisoffene Debatten über die Entwicklung der Regionen des globalen Südens, d.h. über die Entwicklung jener Regionen, in denen die vulnerablere Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, wichtiger denn je. Trotzdem meinen wir, dass Lehren aus der Tatsache gezogen werden müssen, dass etablierte Theorien und Konzepte der (wirtschaftlichen) Entwicklung bisher kaum in den praktischen Abbau globaler Ungleichheiten übersetzt werden konnten. Diesbezüglich sollten insbesondere die Erkenntnisse aus den machtkritischen und postkolonialen Studien der letzten Jahrzehnte berücksichtigt werden.
Eine kritische Reflexion ist also von Nöten. Und das nicht nur auf der Ebene globaler Diskurse und Debatten, sondern besonders innerhalb der interdisziplinären Entwicklungsforschung an deutschen Universitäten. Auch die Wirtschaftswissenschaften sind Teil dieses interdisziplinären Feldes. Deshalb sind wir überzeugt, dass eine ihrem Selbstverständnis nach plurale Ökonomik auch in Bezug auf Fragen globaler Entwicklung einem multiperspektivischen Ansatz folgen, und nicht-hierarchische Formen der Wissensproduktion berücksichtigen sollte, was eine Revision traditioneller Perspektiven auf die ‚Erforschung von Entwicklungsländern‘ mit einbezieht. Dazu wollen wir mit diesem Seminarplan einen Beitrag leisten.
Der vorliegende Seminarplan basiert auf einer kritischen Kommentierung des universitären Lehrbuchs Ökonomik der Entwicklung – Eine Einführung aus institutionenökonomischer Sicht, die wir im Rahmen eines Studienprojekts an der Universität Bayreuth ausgearbeitet haben. Die Idee, eine kritische Begleitschrift zu besagtem Lehrbuch zu verfassen entstand durch unsere Auseinandersetzung mit den Lehrinhalten der vom Autor des Lehrbuchs gehaltenen Vorlesung Ökonomik der Entwicklungsländer an der Universität Bayreuth.
Wir wollen unsere Kommentierung jedoch nicht als bloße Kritik an einem spezifischen Lehrbuch oder dessen Autor missverstanden wissen. Durch das beispielhafte Aufzeigen von Aussagen, die uns aus einer rassismuskritischen Perspektive problematisch erscheinen, wollen wir vielmehr auf die allgemeine Problematik von Rassifizierungsprozessen in der universitären Lehre und Forschung aufmerksam machen. Unsere Arbeit, inklusive einer detaillierten Beschreibung des methodischen Vorgehens, kann hier heruntergeladen werden. Der Seminarplan in seiner hier vorliegenden Form kann ebenfalls als PDF heruntergeladen werden.
Letztendlich haben wir uns dazu entschieden die Inhalte unserer Kritischen Begleitschrift in Form eines Seminarplans auf der Plattform Exploring Economics zur Verfügung zu stellen. Dabei wenden wir uns einerseits an Studierende, die sich im Selbststudium, in Form eines Lesekreises oder in selbstorganisierten Seminaren kritisch mit vorherrschenden Diskursen um Entwicklung – wie sie in dem von uns analysierten Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung zum Ausdruck kommen – auseinandersetzen wollen. Andererseits wollen wir auch Dozierenden dazu anregen, die behandelten Themen in ihre Lehre zu integrieren oder gar selbst ein Seminar nach der hier vorgeschlagenen Struktur anzubieten.
Der vorliegenden Seminarplan entstand in Form eines studentischen Projekts. Weder erheben wir Anspruch auf eine vollständige Sichtung relevanter Literatur zu den behandelten Themenbereichen, noch auf eine letztgültige Interpretation der von uns analysierten Textstellen. Über unsere Einordnung der hier behandelten Darstellungen und Diskursstränge als ‚rassifizierend‘ kann in vielen Fällen sicher diskutiert werden. Unsere Intention ist es, zu genau solch einer Diskussion anzuregen – auch, und vor allem, über das hier betrachtete Lehrbuch hinaus. Gleichzeitig wollen wir zu weiteren Initiativen zum Thema Rassifizierung in Forschung und Lehre an der Universität anregen, um dadurch gemeinsam der Erzählung einer single story über bestimmte Menschen und Gesellschaften entgegenzuwirken.
Nicht zuletzt bedanken wir uns bei folgenden Personen für ihre freundliche inhaltliche Unterstützung: Dr. Jan Hutta, Dr. Katharina Fink, Prof. Dr. Matthew Hannah.
Lars Hochmann (2019): Aufbruchstimmung: Über das Politische der Zukunftsgestaltung. Podcast.
Chimamba Ngozi Adichie (2009): The danger of a single story. TED-Talk.
... über die gesellschaftliche und politische Verantwortung der (Wirtschafts-)Wissenschaften zu reflektieren.
... zu verstehen, was eine kritische-reflektierte Grundhaltung in den (Wirtschafts-)Wissenschaften auszeichnet.
... zu erkennen, dass oft „einzelne Geschichten“ (single stories) über bestimmte Menschengruppen erzählt werden, was mit einer Machtausübung über diese und einer Abwertung dieser Menschen einhergeht.
Zur Vorbereitung:
Hört zuerst den Podcast von Lars Hochmann und macht euch Notizen zu folgenden Fragen: Inwiefern ist jede Wissenschaft politisch? Was bringt der Begriff „Zukunftsgestaltung“ zum Ausdruck? Wie lässt sich das Gehörte mit eurem (Ökonomie-)Studium in Verbindung bringen?
Schaut euch nun den TED-Talk der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie an. Kennt ihr weitere Beispiele für „einzelne Geschichten“ (single stories) aus eurem Alltag und/oder Studium? Welche Verbindungen seht ihr zum Podcast von Lars Hochmann?
Während der Seminarsitzung:
Diskutiert in Kleingruppen, was eurer Meinung nach eine kritisch-reflektierte Grundhaltung in den Wirtschaftswissenschaften auszeichnet? Findet ihr diese in eurem Studium wieder?
Der folgende kurze Text beschreibt das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von Wissenschaft. Lest und diskutiert ihn nach der Gruppenarbeitsphase.
Nach unserem Verständnis sollten Wissenschaftler*innen ...
(1) eine kritische Haltung gegenüber den bestehenden Verhältnissen einnehmen.
Die Welt existiert nicht als einheitliches Ganzes, das durch universell gültige Theorien und Methoden verstanden bzw. erklärt werden kann. Vielmehr verstehen wir die Welt im Zusammenhang sozialer Aushandlungsprozesse und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die sich auf verschiedenen Maßstabsebenen historisch herausgebildet haben und weiterhin umkämpft sind.
(2) eine kritisch-reflektierte Haltung gegenüber ihrer eigenen Positionierung als Wissenschaftler*in einnehmen.
Wissen ist nicht neutral. Es spiegelt keine objektive Wahrheit wider, sondern wird immer von bestimmten Akteur*innen in einem konkreten gesellschaftlichen und institutionellem Kontext produziert. Diese Produktion von Wissen hat immer mit Macht zu tun, weshalb es wichtig ist als Wissenschaftler*in reflektiert und verantwortungsbewusst mit der eigenen Wissensproduktion umzugehen. Dies betrifft auch die grundlegende Frage, wessen Wissen überhaupt als Expert*innenwissen bzw. als allgemeingültig anerkannt wird.
(3) eine kritisch-reflektierte Haltung gegenüber der eigenen Fach- bzw. Disziplingeschichte einnehmen.
Wissenschaft ist kein ahistorisches Unterfangen; denn jede Form des wissenschaftlichen Arbeitens fußt auf historisch entstandenen Konzepten und Theorien und somit – um ein bekanntes Gleichnis zu bemühen – auf den Schultern von Giganten. Wir wenden uns dabei jedoch gegen eine Sichtweise, die Wissenschaft als eine Geschichte des evolutionären Fortschritts begreift, bei dem sich ‚die besten‘ Ideen und Theorien letztendlich durchsetzen. Vielmehr verstehen wir Wissenschaft als eingebettet in historisch spezifische gesellschaftliche, institutionelle und auch politische Verhältnisse und demnach als ein umkämpftes Feld.
Eine kritische Wissenschaft sollte also die historische Genese (d.h. das Zustandekommen) ihrer Konzepte und Theorien hinterfragen und offenlegen, auf welchen impliziten Annahmen diese beruhen.
... ein Grundverständnis der Begriffe Postkolonialismus und postkoloniale Studien bzw. Theorie zu erlangen. Was bedeutet „post“ in postkolonial? In welchem Kontext entstanden die postkolonialen Studien und was ist ihr Hauptanliegen? Wer sind bekannte Vertreter*innen?
... die Grundannahmen zu verstehen, die postkolonialen Perspektiven zugrunde liegen, und wie sich diese von anderen Ansätzen unterscheiden.
Kien Nghi Ha (2015): Postkolonialismus. Beitrag im Nachschlagewerk (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache.
Vertiefend:
Manuela Boatcă (2016): Postkolonialismus und Dekolonialität.
Weiterführend:
Für die Anwendbarkeit einer postkolonialen Perspektive in den Wirtschaftswissenschaften siehe:
Eiman O. Zein-Elabdin (2018): Economics, Culture and Development.
Zu kolonialen Diskursen und ihrem ungebrochenen Fortbestehen siehe:
Henning Melber (1992): Der Weißheit letzter Schluß: Rassismus und kolonialer Blick.
Zur Vorbereitung:
Lest den Text von Kien Nghi Ha sowie folgenden kurzen Text, in dem drei Grundannahmen postkolonialer Perspektiven beschrieben werden.
1. Fortdauern kolonialer Herrschaftsverhältnisse
Die Geschichte des Kolonialismus endete nicht mit der formalen Unabhängigkeit ehemals kolonisierter Staaten.
„Post-kolonial erschöpft sich nicht in einem zeitlichen ‚danach‘, beschreibt nicht einfach die Situation nach dem formalen Ende kolonialer Herrschaft. Postkoloniale Kritik zielt auch – das ist die zweite Bedeutung des post – auf die Dekonstruktion und Überwindung zentraler Annahmen des kolonialen Diskurses.“ (Conrad 2012)
2. Kulturelle und epistemologische Grundlagen des Kolonialismus
Den kulturellen und epistemologischen Grundlagen des Kolonialismus wird eine zentrale Bedeutung zugeschrieben. Der europäische Kolonialismus bezeichnet ein historisches Macht- und Herrschaftssystem, das jedoch mit dem Unabhängigwerden der meisten kolonisierten Staaten im 19. und 20. Jahrhundert nicht einfach zu Ende gegangen ist. Vielmehr beruhte er auf ‚kolonialem‘ Denken, d.h. auf jenen Diskursen, die koloniale Herrschaft erst möglich und denkbar gemacht haben (vgl. Melber 1992; Quijano 2016). Das impliziert auch, dass sich diese Diskurse und Gesellschaftsstrukturen nach dem formellen Ende des Kolonialismus nicht automatisch auflösten, sondern weiterhin bestehen.
Eine postkoloniale Perspektive impliziert dabei auch einen kritischen Blick auf den allgemeinen Diskurs der Moderne, der sich stark um Vorstellungen von Fortschritt und ‚Zivilisierung‘ herum entwickelte. Dazu noch einmal der Historiker Sebastian Conrad:
„Dieser Diskurs beruhte auf der Annahme einer universalen Entwicklung menschlicher Gesellschaften und basierte auf einem linearen Zeitverständnis, das kulturelle Differenzen hierarchisierte, Gesellschaften in fort- und rückschrittlich einteilte und auf diese Weise koloniale Interventionen zum Zweck der ‚Hebung‘ und ‚Zivilisierung‘ geradezu unausweichlich erscheinen ließ. Postkoloniale Kritik zielt[] vor diesem Hintergrund darauf, die eurozentrischen Annahmen dieses Weltbilds zu hinterfragen und der angeblichen Universalität vieler Diskurselemente [...] den theoretischen Boden zu entziehen.“ (Conrad 2012)
3. Verflechtungen zwischen Kolonien und Metropolen
Aus einer postkolonialen Perspektive können Kolonien und Metropolen nicht getrennt voneinander betrachtet werden.
„[Dies impliziert] eine Kritik an der Vorstellung, die europäische/westliche Entwicklung sei abgekoppelt vom ‚Rest‘ der Welt verlaufen und könne daher aus sich heraus verstanden werden. Der Fluchtpunkt dieses Arguments [ist] das Narrativ von der wechselseitigen, gemeinsamen Konstituierung der modernen Welt im Zuge grenzüberschreitender, häufig auch kolonial strukturierter Austauschprozesse.“ (Ebd.)
Während der Seminarsitzung:
Besprecht die Texte und klärt noch offene Fragen. Falls ihr Lehrveranstaltungen der Entwicklungsökonomik, Entwicklungspolitik, etc. besucht habt: Inwiefern unterscheiden sich die dort eingenommenen Perspektiven von postkolonialen Ansätzen? Unter Einbeziehung der weiterführenden Literatur kann die Frage nach dem Fortbestehen kolonialer Diskurse in der Gegenwart vertieft sowie die Anwendbarkeit einer postkolonialen Perspektive in den Wirtschaftswissenschaften diskutiert werden.
... Rassismus als historisch gewachsenes und strukturelles Machtverhältnis sowie Rassifizierung als Praktik der Konstruktion von Menschengruppen als ‚rassisch‘ Andere zu verstehen.
... zu erkennen, dass mit der Konstruktion und Abwertung der ‚rassisch‘ Anderen auch eine, meist unausgesprochene, Selbstpositionierung gewisser Menschen als weiß einhergeht.
... über die eigene Positionierung als Student*in bzw. Wissenschaftler*in in diesen Machtverhältnissen zu reflektieren.
Eske Wollrad (2005): Weißsein im Widerspruch: Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion, S. 11-25.
Vertiefend:
Susan Arndt (2012): Die 101 wichtigsten Fragen – Rassismus.
Weiterführend:
Zur Blindheit der Mainstream-Ökonomie gegenüber Rassismus im Sinne eines strukturellen Machtverhältnisses:
Ingrid Harvold Kvangraven und Surbhi Kesar (2020): Why Do Economists Have Trouble Understanding Racialized Inequalities?
Zur Vorbereitung:
Lest das Kapitel Grundlegungen aus Eske Wollrads Buch Weißsein im Widerspruch sowie folgenden einführenden Text zu den Konzepten ‚Rasse‘, Rassismus und Weißsein, in dem auch das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von Rassifizierung beschrieben wird.
Das Konzept der Rassifizierung ist weiter gefasst als Rassismus und legt den Fokus auf die Konstruktion des Anderen. Dabei vertreten wir die Annahme, dass die Grundlage für rassistische Diskriminierung erst durch eine rassifizierende Konstruktion von Menschengruppen gelegt wird, d.h. eine Konstruktion von wesensmäßigen Unterschieden zwischen Menschengruppen. Um die historische Genese solcher Rassifizierungsprozesse und ihre gewaltvollen Auswirkungen verstehen zu können, ist es zuerst notwendig näher auf das Konzept ‚Rasse‘ und Rassismus einzugehen. In einem zweiten Schritt nehmen wir das in den Blick, was die Theologin und Rassismusforscherin Eske Wollrad (2005, S. 21) als „Initiator und Motor“ von Rassifzierungsprozessen beschreibt – Weißsein – um dann schließlich unser Verständnis von Rassifizierung darzulegen.
Das Konzept ‚Rasse‘ und Rassismus
Die American Anthropological Association (AAA) (1998) beschreibt ‚Rasse‘ als eine Form der Klassifizierung von Menschengruppen im Rahmen einer Ideologie der Ungleichheit, die im Kontext des Beginns der Moderne im 16. Jahrhunderts von Europäer*innen entwickelt wurde. Diese Ideologie diente den Europäer*innen dazu, sich selbst an der Spitze einer hierarchischen Ordnung zu positionieren und die Versklavung und Ausbeutung – und häufig auch die Vernichtung – der kolonialisierten Menschen zu rechtfertigen. Hier wird bereits deutlich, dass Rasse-Kategorien nicht im Sinne einer neutralen Differenzierung entstanden sind, sondern eine Wertung bzw. Hierarchisierung implizieren. Dabei war das Konzept ‚Rasse‘ nicht auf die Hervorhebung, Überzeichnung und Konstruktion phänotypischer Merkmale kolonialisierter Menschen in Abgrenzung zu den Kolonisierenden beschränkt. Denn zugleich wurden auch kulturelle Aspekte wie Sprache und Religion einbezogen. Im 19. Jahrhundert wurde ‚Rasse‘ zunehmend genutzt um soziale, ökonomische und politische Ungleichheiten auch innerhalb der sich industrialisierenden, europäischen Gesellschaften zu rechtfertigen (ebd.).
Ein weitverbreiteter Irrglaube ist, dass die Vorstellung von ‚Rassen‘ in aufgeklärten, modernen Gesellschaften – und insbesondere in Deutschland nach dem Nationalsozialismus – überwunden wurde bzw. nur noch von einer rechtsextremen Minderheit vertreten wird. Dem liegen zwei problematische Annahmen zugrunde:
(1) Bei ‚Rasse‘ handle es sich um eine (pseudo)wissenschaftliche Theorie der Humanbiologie bzw. Anthropologie. Diese Sichtweise leugnet jedoch jedwede kulturelle und politische Dimension von ‚Rasse‘-Konstruktionen und fördert ein verkürztes Verständnis von Rassismus als Diskriminierung von Individuen aufgrund ihrer Hautfarbe. Wir hingegen verstehen Rassismus nicht als Vorurteil, sondern als gesellschaftliches Machtverhältnis, das aus der Wechselwirkung zwischen strukturellen Machtungleichheiten und gesellschaftlichen Diskursen hervorgeht und auch im Alltag durch Sprache und bestimmte Handlungen bzw. Denkweisen reproduziert wird.
(2) Rassismus sei unvereinbar mit dem Humanismus der europäischen Aufklärung; folglich sei das heutige Europa – aufbauend auf den Grundwerten von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit – nicht- oder gar anti-rassistisch. Diese Sichtweise leugnet jedoch die Tatsache, dass ‚Rasse‘ ein zentrales Ordnungsprinzip moderner, westlicher Gesellschaften darstellt. In Bezug auf Europa argumentiert die Kulturwissenschaftlerin Alana Lentin, dass die Tilgung der Kategorie ‚Rasse‘ aus dem politischen Diskurs und seine Ersetzung durch scheinbar harmlosere Begriffe wie ‚Kultur‘, ‚Ethnizität‘ oder ‚Herkunft‘ als Reaktion auf den Holocaust zu verstehen ist.
„Nach der Entdeckung der Konzentrationslager musste ‚Rasse‘ – der motivierende Faktor für die Vernichtungspolitik der Nazis – öffentlich geleugnet werden, damit sich Europa als geläutert betrachten konnte.“ (Lentin 2008, S. 495, eigene Übersetzung)
Somit kam es nicht nur zu einer Externalisierung des Konzepts ‚Rasse‘, sondern auch von Rassismus, der fortan als Problem gesehen wurde, das vornehmlich in anderen Kulturen und Weltregionen existiere, aber in keinerlei Verbindung zur politischen Kultur der Aufklärung und der europäischen Moderne stehe (ebd.).
Weißsein und unser Verständnis von Rassifizierung
Rassifizierung ist untrennbar verbunden mit dem Prozess des Othering, der Konstruktion einer eigenen Gruppenidentität durch die Abgrenzung von einer geanderten, d.h. als fremd gekennzeichneten Gruppe. Diese Form der Abgrenzung kann nicht verstanden werden, ohne Weißsein in den Blick zu nehmen. Wie das Konzept ‚Rasse‘ beschränkt sich auch Weißsein nicht auf die Hautfarbe, sondern ist vielmehr als Ort einer hegemonialen Positionierung zu verstehen, „ein ‚Standpunkt‘, von dem aus Weiße Leute sich selbst, andere und die Gesellschaft betrachten und bestimmen“ (Wachendorfer 2001, S. 87). Zentral dabei ist die Selbstpositionierung Weißer Menschen als ‚unsichtbare‘ Norm, die mit strukturellen Vorteilen und Privilegien einhergeht. Eske Wollrad macht deutlich, dass diese Normsetzung auf einer Abwertung der als ‚farbig‘ markierten Anderen beruht und somit einen zentralen Bestandteil von Rassifizierungsprozessen darstellt:
„Weißsein hat keinen spezifischen Inhalt, es markiert eine Leerstelle und kann – wenn überhaupt – nur negativ über das definiert werden, was es nicht ist: nicht exotisch, nicht sexuell, nicht farbig. »Farbig« sind nur die »Anderen«, die im Verlauf europäischer Rassialisierungsprozesse ausgiebig beschrieben, vermessen, gewogen und bewertet wurden – von Weißen. Seit seiner Erfindung ist Weißsein sowohl außerhalb des Paradigmas »Rasse« verortet und damit »aparadigmatisch« als auch seine logische Voraussetzung, da es Weiße waren, die »Rassen« erschufen und sich gleichzeitig außerhalb ihrer Erfindung positionierten, um – gleichsam aus der Sicht Gottes – die Welt der ‚Farbigen‘ zu studieren.“ (Wollrad 2001, S. 77–78).
Eben jene Trennung zwischen einem hegemonialen Weißen wir und den als ‚farbig‘ markierten Anderen, bildet die Grundlage unseres Verständnisses von Rassifzierung und der folgenden Analyse des Lehrbuchs. Aufbauend auf der Definition von Mark Terkessidis (2004, S. 98–100), der sich wiederum auf Colette Guillaumin (2000, S. 39–40) bezieht, verstehen wir Rassifizierung als einen Prozess der Abgrenzung sozialer Gruppen durch die Zuschreibung bestimmter Merkmale:
„[G]anz allgemein [... wird] einerseits eine Gruppe von Menschen mittels bestimmter Merkmale als natürliche Gruppe festgelegt und gleichzeitig die Natur dieser Gruppe im Verhältnis zur eigenen Gruppe formuliert [...]. [...] [Dabei] bezieht sich der Ausdruck Merkmal keineswegs nur auf biologische Kennzeichen, was die Reduktion auf den Begriff ‚Rasse‘ im klassischen Sinne vermeidet. [...] [D]ie zur Diskriminierung zwischen Gruppen verwendete Vorstellung von ‚Rasse‘ [umfasst vielmehr] ein ganzes ‚Bündel von Konnotationen, ein Cluster unbeständiger Bedeutungen‘ [...]. In dieses Bündel können Elemente äußert heterogener Art einfließen: a) morpho-physiologische Kennzeichen (diese können sichtbar oder unsichtbar sein, sie gelten als natürlich/evident und als geeignet Gruppen zu unterscheiden); b) soziologische Kennzeichen (Sprache, Wirtschaftssysteme, Gewohnheiten, Ernährung, Kleidung, Musik, etc.); c) symbolische und geistige Kennzeichen (politische Praktiken, Lebensauffassungen, kulturelle und religiöse Verhaltensweisen, etc.) sowie d) imaginäre Kennzeichen (etwa phantasmatische Vorstellungen okkulter Macht etc.).“ (Terkessidis 2004, S. 98, eigene Hervorhebung) Jener Prozess ist dabei in den historischen Kontext von kolonialer Expansion und Rassismus eingebettet, der das Machtgefälle zwischen den verschiedenen, konstruierten Gruppen hervorgebracht hat. Daher findet Rassifizierung immer in einem machtvollen Kontext statt.
Während der Seminarsitzung:
Besprecht die beiden behandelten Texte ausführlich, um ein Grundverständnis der Kategorien ‚Rasse‘, Rassismus, Weißsein und Rassifizierung zu erhalten. Zur Klärung offener Fragen kann die vertiefende Literatur (Susan Arndt: Die 101 wichtigsten Fragen – Rassismus) herangezogen werden. Die weiterführende Literatur bietet die Möglichkeit, das problematische Verhältnis der Mainstream-Ökonomie zu Weißsein und Praktiken der Rassifizierung sowie zu Rassismus im Sinne eines strukturellen Machtverhältnisses zu diskutieren.
... zu verstehen, dass die Idee von ‚Entwicklung’ (bezogen auf Länder, Gesellschaften, etc.) auf bestimmten, meist unausgesprochenen Grundannahmen fußt und somit weder ‚neutral‘ noch ‚natürlich‘ ist.
... einen Überblick zu erhalten, auf welche Weise Diskurse um ‚Entwicklung‘ (bezogen auf Entwicklungszusammenarbeit, Entwicklungsökonomik, etc.) aus einer postkolonialen Perspektive kritisiert werden können.
... zu reflektieren, inwiefern jene Diskurse um ‚Entwicklung‘ in die in Einheit 2 und 3 betrachteten Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebettet sind.
Aram Ziai (2010): Zur Kritik des Entwicklungsdiskurses.
Vertiefend:
Daniel Bendix (2015): Entwicklung / entwickeln / Entwicklungshilfe / Entwicklungspolitik. Beitrag im Nachschlagewerk (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache.
Weiterführend:
Für eine ideengeschichtliche Einführung in das Konzept ‚Entwicklung‘ von dessen Anfängen bis heute siehe:
Björn Hettne (2009): Thinking About Development.
Zur Widerlegung des Mythos, dass der Wohlstand der reichen Länder auf einer wirtschaftsliberalen Entwicklungsstrategie beruht, siehe:
Ha-Joon Chang (2002): Kicking Away the Ladder: Development Strategy in Historical Perspective.
Zur Vorbereitung:
Lest den Text Zur Kritik des Entwicklungsdiskurses von Aram Ziai.
Während der Seminarsitzung:
Teilt zuerst neue Erkenntnisse aus dem gelesenen Text und klärt noch offene Fragen. Im zweiten Teil der Sitzung besteht die Möglichkeit, die Seminargruppe in zwei Kleingruppen aufzuteilen. Lest den jeweiligen Ausschnitt aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung und überlegt, inwiefern das hier geäußerte Verständnis von ‚Entwicklung‘ kritisiert werden kann. Vergleicht eure Ergebnisse mit unserer Analyse der jeweiligen Textstellen.
Gruppe 1:
S. 1/2
„Ein Entwicklungsland ist nach allgemeinem Verständnis ein Land, das hinsichtlich seiner wirtschaftlichen, sozialen und/oder politischen Entwicklung einen vergleichsweise niedrigen Stand aufweist. Mithin handelt es sich bei Entwicklungsländern um Länder, deren Bevölkerung größtenteils als ‚arm‘ (nach allgemeinem Sprachgebrauch) angesehen wird. [...] Obschon der Begriff ‚Entwicklungsland‘ in der deutschen Fach- und Alltagssprache fest verankert ist und allgemein eine hohe Akzeptanz genießt, weist er bereits rein von der Semantik her eine Unklarheit auf; denn ein Entwicklungsland ist ja gerade dadurch charakterisiert, dass es sich nicht entwickelt, d.h. keine erwünschten Entwicklungsfortschritte macht. Die trotz der Unschärfe hohe Akzeptanz des Begriffs ergibt sich vielmehr aus der relativ wertfreien Wortwahl. Synonyme Begriffe wie ‚Dritte Welt‘ [...] sind nämlich noch umstrittener und werden von den meisten Fachleuten abgelehnt.“
„Bezogen auf einen betrachteten Status Quo, also einen Zeitpunkt, lassen sich Entwicklungsländer nun so charakterisieren, dass bis zu diesem Zeitpunkt das betrachtete Merkmal sich nur unterdurchschnittlich in die gewünschte Richtung verändert hat. Somit sind Entwicklungsländer bezogen auf bestimmte Merkmale, die als Charakteristika herangezogen werden, unterentwickelt, d.h. relativ schwach entwickelt. Zugleich besteht die begründete Vermutung, dass ohne Weiteres in naher Zukunft keine Veränderung der betrachteten Merkmale in die gewünschte Richtung stattfinden wird. Somit kann man sagen, dass Entwicklungsländer nicht nur einen Entwicklungsrückstand hinsichtlich bestimmter Merkmale aufweisen, sondern zudem ein äußerst geringes Entwicklungspotenzial besitzen.“
Unsere Analyse:
Hier wird der Begriff Entwicklungsland eingeführt und definiert. Der Autor beschreibt ein Entwicklungsland als „ein Land, das hinsichtlich seiner wirtschaftlichen, sozialen und/oder politischen Entwicklung einen vergleichsweise niedrigen Stand aufweist“ und sich, bezogen auf bestimmte Merkmale, „nur unterdurchschnittlich in die gewünschte Richtung verändert hat“. In Verbindung mit anderen Begrifflichkeiten wie „‚arm‘ (nach allgemeinem Sprachgebrauch)“, „unterentwickelt“ und „Entwicklungsrückstand“ wird deutlich, dass es eine gewünschte Norm gibt und sich Länder danach klassifizieren lassen, wie weit sie von dieser Norm abweichen.
Dieses Verständnis von ‚Entwicklung‘, nach dem sich Länder anhand ihres relativen Entwicklungsstandes klassifizieren lassen, erscheint aus der Perspektive des klassischen Entwicklungsparadigmas als selbstverständlich. Als ebenso natürlich erscheint die Tatsache, dass sich die ‚weniger entwickelten‘ Länder im sogenannten globalen Süden befinden und die europäischen Gesellschaften als ‚entwickelt‘ zu betrachten sind (Ziai 2010, S. 24). Demgegenüber wurde von post-kolonialen Theoretiker*innen wie Stuart Hall (1994) aufgezeigt, dass es sich bei ‚Entwicklung‘ keineswegs um einen universellen, natürlichen Prozess handelt. Vielmehr ist die Vorstellung von ‚Entwicklung‘ untrennbar verbunden mit der europäischen Aufklärung und der damit einhergehenden Klassifizierung und Kategorisierung von Mensch und Natur, u.a. durch die Konstruktion von Menschen-‚Rassen‘ (Bendix 2015, S. 273; vgl. Piesche 2005; Farr 2005). ‚Entwicklung‘ ist also nicht denkbar ohne die Legitimierung der Herrschaft der westlichen Welt über den ‚Rest‘ der Welt und die Vorstellungen weißer, westlicher Überlegenheit (Bendix 2015, S. 277).
Im Gegensatz dazu argumentiert der Autor, der Begriff ‚Entwicklungsland‘ sei aufgrund seiner „relativ wertfreien Wortwahl“ gegenüber synonymen Bezeichnungen wie ‚Dritte Welt‘, die „noch umstrittener“ seien, zu bevorzugen. Dies zeige die „allgemein [...] hohe Akzeptanz“ des Begriffes. Jedoch verkennt diese Argumentation, dass der Begriff ‚Entwicklungsland‘ gerade innerhalb stark wertender Diskurse entstanden ist. Zudem ist er keineswegs unumstritten. Im kritisch reflektierten Sprachgebrauch wird er vielmehr oft vermieden und durch andere Bezeichnungen wie ‚globaler Süden‘ oder ‚ehemals kolonisierte Länder‘ ersetzt. Diese Begriffe sollen darauf aufmerksam machen, dass es sich bei der Einteilung der Welt in ‚Industriestaaten‘ und ‚Entwicklungsländer‘ um sozial konstruierte Kategorien handelt, die auf der Unterscheidung zwischen ‚entwickelten‘ und ‚unterentwickelten‘ Weltregionen basieren (glokal e.V. 2013, S. 8). Indem der Autor den Begriff ‚Entwicklungsland‘ als relativ wertfrei darstellt, wird diese Unterscheidung jedoch naturalisiert. Damit erscheint die mit dieser Unterscheidung einhergehende Hierarchisierung verschiedener Weltregionen, Gesellschaften und Menschen (Bendix 2015, S. 275) zementiert. Eine solche Naturalisierung steht – wie Aram Ziai (2010, S. 24) betont – in kolonialer Tradition: „Das Projekt der ‚Zivilisierung der Unzivilisierten‘ wurde in der Nachkriegszeit abgelöst durch das der ‚Entwicklung der Unterentwickelten‘.“
Gruppe 2:
S. 2
„‚Entwicklung‘ stellt die Veränderung eines betrachteten Merkmals eines Landes im Zeitablauf dar.“
S. 373
„Entwicklung ist sicherlich erst einmal ein neutraler Begriff. In diesem Buch wird Entwicklung jedoch als eine wünschenswerte gesellschaftliche (institutionelle und wirtschaftliche) Entwicklung verstanden – eine Entwicklung, die den Individuen bessere Möglichkeiten bietet, ihre unterschiedlichen Ziele und Lebensplanungen zu verwirklichen. Warum findet nun solch eine wünschenswerte Entwicklung in vielen Ländern dieser Welt bisher nicht statt? Mit dem Sozialwissenschaftler Mancur Olson lässt sich eine einfache Antwort geben: Diejenigen Individuen, die für verfehlte Entwicklungen verantwortlich sind, d.h. Korruption, Ausbeutung und Diskriminierung zulassen oder sogar forcieren, tragen in der Regel nicht die Kosten dieser entwicklungshemmenden Praktiken.“
Unsere Analyse:
In diesen Zitaten beschreibt der Autor die Banalität des Begriffs ‚Entwicklung‘‚ denn Entwicklung‘ sei „erst einmal ein neutraler Begriff“. Sicher ist diese Aussage nicht völlig falsch, da ‚Entwicklung‘ im alltäglichen Gebrauch durchaus darauf bezogen werden kann, dass sich irgendetwas irgendwie entwickelt, sei es das körperliche und kognitive Wachstum von Kindern, die deutsche Bundespolitik, der Klimawandel oder gar die Ausdehnung des Universums (vgl. Kößler 1997, S. 8). Problematisch ist jedoch hieraus abzuleiten, dass die Klassifizierung von Ländern nach ‚Entwicklung‘ eine ebensolche Banalität wie der Wandel der Jahreszeiten darstellt und somit als genauso ‚natürlich‘ und unproblematisch zu betrachten sei. Denn wie Reinhard Kößler (ebd. S. 12–15) ausführt, handelt es sich bei der Klassifizierung von Ländern um eine historisch spezifische Weltanschauung der europäischen Moderne.
Nach dieser Naturalisierung des Konzepts ‚Entwicklung‘ wird das dem Buch zugrunde liegende normative Entwicklungsverständnis als eine „wünschenswerte gesellschaftliche (institutionelle und wirtschaftliche) Entwicklung“ gekennzeichnet, die „den Individuen bessere Möglichkeiten bietet, ihre unterschiedlichen Ziele und Lebensplanungen zu verwirklichen“. Hier kommt eine liberale Grundhaltung zum Ausdruck, wie sie auch etwa der renommierte Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen geprägt hat (siehe Sen 1999). Problematisch ist jedoch die „einfache Antwort“ auf die komplexe Frage, warum nun solch eine wünschenswerte Entwicklung in vielen Ländern dieser Welt bisher nicht stattfindet: „Diejenigen Individuen, die für verfehlte Entwicklungen verantwortlich sind, d.h. Korruption, Ausbeutung und Diskriminierung zulassen oder sogar forcieren, tragen in der Regel nicht die Kosten dieser entwicklungshemmenden Praktiken.“ Aus dieser Antwort ergeben sich zwei problematische Schlussfolgerungen.
Erstens erscheinen Armut, Ausbeutung und Diskriminierung, wie sie in vielen Ländern des globalen Südens sowie weltweit existieren, als von individuellen, den eigenen Nutzen maximierenden Entscheidungsträgern verursachte Probleme. Diese Annahme lässt wenig Raum für eine strukturelle Analyse. Abhängigkeitsverhältnisse sowie historisch gewachsene Machtstrukturen scheinen in der Frage, warum sich Länder ‚entwickeln‘ bzw. nicht ‚entwickeln‘ keine Rolle zu spielen.
Zweitens erscheint fehlende ‚Entwicklung‘ als Problem der ‚Entwicklungsländer‘ selbst, denn durch den Verweis auf Korruption, werden die angesprochenen Entscheidungsträger mit ‚korrupten Politikern‘ gleichgesetzt und somit in erster Linie innerhalb des globalen Südens verortet. Die angebliche Ursache für die fehlende ‚Entwicklung‘ in diesen Ländern wird jedoch, in einer Art Zirkelschluss, bereits vorausgesetzt: Weil bestimmte Länder ‚unterentwickelt‘ sind, müssen sie logischerweise ein dysfunktionales Institutionensystem besitzen, das Fehlanreize zur Ausbeutung bereitstellt. Demgegenüber verweist der hohe ‚Entwicklungsstand‘ Europas auf ‚unser‘ fortschrittliches Institutionensystem (vgl. Chang, H.-J. 2011).
... Othering als diskursive Strategie und als Machtinstrument zu verstehen.
Option A: Bildung
... zu erkennen, dass sowohl die Frage, wie bestimmte Bildungsinhalte (z.B. über vermeintlich fremde Kulturen) vermittelt werden, als auch die Frage, wem Bildung zu und wem abgesprochen wird, oft von Othering geprägt sind.
Option B: Islam
... am Beispiel bestimmter Diskurse über ‚den Islam‘ zu erkennen, dass Othering mit Dualismen und Hierarchisierungen einhergeht und somit das Bild zweier grundverschiedener, miteinander unvereinbarer Gruppen konstruiert wird.
Verein Transfer für Bildung e.V. – Fachstelle politische Bildung (2018): „Es geht darum, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen.“ Interview mit Christine Riegel.
Vertiefend:
Sebastian Garbe (2013): Dekolonisierung des Wissens: Zur Kritik der epistemischen Gewalt in der Kultur- und Sozialanthropologie.
Zur Vorbereitung:
Lest das Interview mit Christine Riegel, Professorin für Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, sowie folgenden kurzen Text, der das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von Othering beschreibt.
Unter Othering verstehen wir, im Anschluss an die postkolonialen Studien, die Abgrenzung der eigenen Gruppe von einer als anders und fremd konstruierten Gruppe, um damit die eigene Identität zu schaffen und die eigene Machtposition zu sichern und zu legitimieren. Hierzu werden der eigenen Gruppe positive Attribute zugeschrieben (z.B. in Bezug auf Wissenschaftlichkeit, Rationalität, Zivilisation, Freiheit und Entwicklung), während die andere Gruppe mit gegensätzlichen Attributen in Verbindung gebracht wird. Diese sind entweder negativ konnotiert (wild, primitiv, aggressiv, passiv etc.) oder pauschalisierend, stereotypisierend und homogenisierend (exotisch, sexuell) und/oder werden in ein hierarchisches Verhältnis (z.B. Körper vs. Geist) gestellt (siehe Hall 2000, S. 13–16).
Während der Seminarsitzung:
Sammelt zuerst die wichtigsten Punkte aus den gelesenen Texten, um Klarheit über den Begriff des Othering zu erlangen. Lest danach folgende Textstelle aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung über die Situation der Bildung in ‚den Entwicklungsländern‘. Überlegt, unter Berücksichtigung der zwei zur Vorbereitung gelesen Texte, inwiefern diese Darstellung als Othering interpretiert werden kann. Vergleicht eure Überlegungen mit unserer Analyse der Textstelle. Die vertiefende Literatur bietet die Möglichkeit, das Konzept der ‚epistemischen Gewalt‘ einzuführen und zu vertiefen.
S. 32/33
„‚Bildung‘ ist ein Leitbegriff vieler moderner Gesellschaften. ‚Lebensbegleitendes Lernen‘ wird zu einer neuen Idee [...]. [...] Erziehung und Bildung beginnen in entwickelten Staaten im Elternhaus und in den Kindertageseinrichtungen. [...] Auch andere Organisationen tragen dazu bei, dass die o.g. Leitidee verwirklicht wird: Fremdsprachenkenntnisse, Umweltbildung oder Medienkompetenz sind dabei nur einige Beispiele für das, was täglich vermittelt und für Beruf und Freizeit genutzt wird und letztendlich eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Von den Schulen, den Hochschulen, ebenso wie von den vorschulischen und sozialpädagogischen Einrichtungen und der Erwachsenenbildung wird gefordert, im Umgang mit Wissen geschulte, flexible, ins Beschäftigungs- und Gesellschaftssystem integrierbare, innovationsfähige Individuen auszubilden. Um dies zu gewährleisten, müssen permanent Evaluationen der Einrichtungen durchgeführt werden. Nur so kann überprüft werden, ob anvisierte Ziele erreicht werden. Zudem können dann Fehler erkannt und abgestellt werden.
[...] Erst das Wissen um die Wirkung gesellschaftlicher Zusammenhänge ermöglicht die Herausbildung von Ideologien und Moral- bzw. Wertevorstellungen, die bei der Weiterentwicklung gesellschaftlicher Institutionen hilfreich sein können. Ohne entsprechende Bildung ist der Aufbau einer Zivilgesellschaft mit demokratischen Institutionen nicht möglich. [...]
Während also in den entwickelten Ländern an der Verbesserung der schon auf einem relativ hohen Niveau befindlichen Bildungseinrichtungen gearbeitet wird, sieht die Lage hinsichtlich der Bildung in den meisten Entwicklungsländern völlig anders aus: Weltweit haben [...] ca. 113 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter keinen Zugang zu Schulen. Knapp 880 Millionen Jugendliche und Erwachsene können weder lesen noch schreiben [...].
In den meisten Entwicklungsländern fehlen [...] gut ausgebildete Fachkräfte (Facharbeiter, Handwerker, Techniker, Ingenieure, Unternehmer), die eine Grundvoraussetzung für wirtschaftlichen Fortschritt sind. Häufig ist ein eigenes System beruflicher Bildung nur rudimentär vorhanden, bzw. die vorhandenen Einrichtungen sind uneinheitlich oder nicht funktional in das Bildungs- und Beschäftigungssystem integriert. Die Ausbildungssysteme vieler Entwicklungsländer stehen unter einem gewaltigen Druck, der deren Leistungsfähigkeit oft übersteigt. [...]
Neben einer eklatanten Unterinvestition in den Bildungssektor haben HIV/AIDS weitere negative Wirkungen auf die Bildung [...]. [...] [D]ie Zahl des Lehrpersonals, das an der Krankheit stirbt, [erreicht] alarmierende Höhen. In einigen Ländern Sub-Sahara Afrikas können diese Ausfälle kaum noch durch das neu ausgebildete Lehrpersonal kompensiert werden. Eine Weiterentwicklung, die den Zugang zu Bildung erweitert und deren Qualität erhöht, rückt in vielen dieser Länder in ferne Zukunft.
Die Alphabetisierungsraten und Schulbesuchsquoten belegen einen deutlichen Unterschied zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern. [...] Erschreckend gering ist vor allem die Quote im Sekundarsektor, aber auch im Grundschulsektor kann – trotz eines Aufwärtstrends – eine Quote von 62% in keinem Fall als zufriedenstellend angesehen werden.“
Unsere Analyse:
Zunächst zeichnet der Text ein homogenisierendes und überhöhtes Bild der Bildungssituation in den ‚entwickelten Ländern‘, was auch durch die Wortwahl – z.B. „Leitbegriff“ im ersten Satz des Kapitels – deutlich wird. Demgegenüber wird „Lage hinsichtlich der Bildung in den meisten Entwicklungsländern“ als „völlig anders“ charakterisiert. Den eigenen Bildungseinrichtungen, die „im Umgang mit Wissen geschulte, flexible, ins Beschäftigungs- und Gesellschaftssystem integrierbare, innovationsfähige Individuen“ ausbilden, werden die der Anderen als „rudimentär“, „uneinheitlich“ und „nicht funktional [...] integriert“ gegenübergestellt. Das Bildungssystem Europas bzw. des globalen Nordens wird somit, gerade durch die Abgrenzung gegenüber der Situation im globalen Süden, als modern dargestellt. Nur die ‚entwickelten Länder‘ scheinen aufgrund ihres überlegenen Bildungssystems in der Lage ‚fortschrittliches‘ Wissen zu produzieren.
Noch problematischer ist die Ansicht, dass formelle, westliche Schulbildung eine Voraussetzung für die Herausbildung von „Moral- bzw. Wertevorstellungen, die bei der Weiterentwicklung gesellschaftlicher Institutionen hilfreich sein können“ darstellt. Somit erscheinen die Menschen in den ‚Entwicklungsländern‘ – aufgrund ihres ‚rückständigen‘ Bildungssystems – nicht nur intellektuell (vgl. Begleitschrift Seite 39ff.), sondern auch moralisch unterlegen. Unter den gegebenen Umständen eines nicht funktionalen Bildungssystems scheint der „Aufbau einer Zivilgesellschaft mit demokratischen Institutionen“ in den Ländern des globalen Südens kaum möglich. Diese Verengung von legitimem, ‚fortschrittlichen‘ Wissen auf westliches Wissen bringt eine eurozentrische Perspektive zum Ausdruck. Postkoloniale Theoretiker*innen sprechen diesbezüglich von ‚epistemischer Gewalt‘ (siehe Garbe 2013).
Anna Daniel (2012): Der Islam als das Andere: Postkoloniale Perspektiven.
Vertiefend:
Stuart Hall (1994): Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht.
Weiterführend:
Zur Thematisierung von Geschlechterverhältnissen im Islam siehe:
Lila Abu-Lughod (2013): Do Muslim Women Need Saving?
Zur Vorbereitung:
Lest den Text Der Islam als das Andere: Postkoloniale Perspektiven von Anna Daniel sowie folgenden kurzen Text, der das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von Othering beschreibt.
Unter Othering verstehen wir, im Anschluss an die postkolonialen Studien, die Abgrenzung der eigenen Gruppe von einer als anders und fremd konstruierten Gruppe, um damit die eigene Identität zu schaffen und die eigene Machtposition zu sichern und zu legitimieren. Hierzu werden der eigenen Gruppe positive Attribute zugeschrieben (z.B. in Bezug auf Wissenschaftlichkeit, Rationalität, Zivilisation, Freiheit und Entwicklung), während die andere Gruppe mit gegensätzlichen Attributen in Verbindung gebracht wird. Diese sind entweder negativ konnotiert (wild, primitiv, aggressiv, passiv etc.) oder pauschalisierend, stereotypisierend und homogenisierend (exotisch, sexuell) und/oder werden in ein hierarchisches Verhältnis (z.B. Körper vs. Geist) gestellt (siehe Hall 2000, S. 13–16).
Während der Seminarsitzung:
Besprecht zuerst den gelesenen Text und klärt alle noch offenen Fragen. Danach besteht die Möglichkeit, die Seminargruppe in zwei Kleingruppen aufzuteilen. Lest die jeweiligen Textausschnitte aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung und diskutiert, inwiefern die hier präsentierte Darstellung ‚des Islams‘ gegenüber der ‚westlichen Moderne‘ als Othering interpretiert werden kann. Vergleicht eure Überlegungen mit unserer Analyse der jeweiligen Textstellen.
S. 217
„Der Islam ist eine sämtliche Lebensbereiche umfassende Religion (oder Ideologie), die nicht nur von ethischen Normen geprägte Grundsätze und Vorschriften für die private Lebensführung des einzelnen enthält, sondern auch eine ganze Fülle moralisch-ethisch bestimmter Ver- und Gebote für das öffentliche, wirtschaftliche und soziale Leben. So muss sich auch die Wirtschaft in den Islam einfügen; er kennt nur eine ‚normative Ökonomik‘. Auch die Wirtschaft unterliegt dem Gesetz der Schari’a. [...] So findet die Adaption modernen Wirtschaftens ihre Grenzen an den gottgegebenen Regeln.
[...] Folglich wird eine ordnungstheoretische Diskussion in den islamischen Ländern nicht mit dem Ziel der politischen Gestaltung von Regeln zum langfristigen Vorteil aller – also auf rationaler, vertragstheoretischer Basis – geführt, sondern allein zur islamischen Rechtfertigung einer bereits vorgegebenen (gottgewollten) Ordnung. Daher werden Regelanpassungen, die eine moderne Wirtschaft ermöglichen würden, nicht oder nur in einem recht kleinen Umfang akzeptiert. [...]
[...] Die Prozesse modernen Wirtschaftens werden aber in islamischen Gesellschaften nicht selten als Bedrohung der ererbten Religion gesehen und daher mit Skepsis betrachtet.“
S. 219
„Ferner behindert der weitgehende Ausschluss der Hälfte der Bevölkerung – der Frauen – von einer Mitarbeit im Geschäftsleben (erst recht in einer selbstständigen oder leitenden Funktion) das Entstehen eines modernen Wirtschaftssystems“
S. 267
„Funktional-individualistische Überlegungen – wie lässt sich mittels effizienter Verfahren kollektiven Handelns die Wohlfahrt der Bürger steigern? – bleiben weitgehend ausgeklammert [...]. Funktion und grenzen der Organisation und Allokation werden nicht systematisch behandelt; religiös motivierte moralische Diskurse treten an die Stelle einer kritisch-rationalen politischen und wirtschaftlichen Analyse.“
Unsere Analyse:
In den oben aufgeführten Zitaten erkennt man deutlich, wie Gegensätze gezeichnet werden. Der „normative[n] Ökonomik“ des Islam bzw. dem „Ausschluss [...] der Frauen [...] von einer Mitarbeit im Geschäftsleben“ wird eine „moderne Wirtschaft“ gegenübergestellt. Erstere basiere auf dem „Gesetz der Schari‘a“, d.h. einer „einer bereits vorgegebenen (gottgewollten) Ordnung“; Letztere auf „rationaler, vertragstheoretischer Basis“, d.h. einer „kritisch-rationalen politischen und wirtschaftlichen Analyse“. In dieser Wortwahl werden die Dualismen wissenschaftlich-rationale Moderne vs. normativ-irrationale Tradition (siehe Hall 1994), säkulare Moderne vs. ererbte Religion (siehe Lanwerd 2009) und individuelle Freiheit vs. Dogmatik und Zwang (Daniel 2012, S. 152; vgl. Dietze 2018) deutlich.
Diese Dualismen, die ‚den Islam‘ als Gegensatz zum ‚modernen Wirtschaften‘ konstruieren, können als Praxis des Othering interpretiert werden (siehe Daniel 2012, S. 151–153). Dies lässt sich anhand der Aussage, dass „[d]ie Prozesse modernen Wirtschaftens [...] in islamischen Gesellschaften nicht selten als Bedrohung der ererbten Religion gesehen und daher mit Skepsis betrachtet“ werden, beispielhaft aufzeigen. Zentral ist hier, dass den gewählten Zuschreibungen eine Hierarchie innewohnt: Das ‚moderne Wirtschaften‘ und die ‚ererbte Religion‘ werden in einem unvereinbaren Dualismus dargestellt. Dabei zeichnet die Betonung auf ‚ererbt‘ im Kontrast zu ‚modern‘ ein hierarchisches Bild von den traditionellen, passiven Anderen und einer modernen, westlichen Wirtschaft.
Die Gegenüberstellung vom Ausschluss der Frauen aus dem Geschäftsleben im Islam und einem modernen Wirtschaftssystem, macht deutlich, wie Othering dazu beiträgt, die Überlegenheit der eigenen Gruppe zu konstruieren, selbst wenn diese angebliche Überlegenheit einer historischen Analyse nicht standhält. Denn sowohl das moderne, kapitalistische Wirtschaftssystem westlicher Industriegesellschaften als auch die orthodoxen Wirtschaftswissenschaften begründen sich gerade auf der Trennung zwischen einer männlich codierten ökonomischen Sphäre der Produktion in Form von Lohnarbeit und der weiblich codierten, als nicht-ökonomisch verstandenen Sphäre der Hausarbeit in Form unentgeltlicher Sorgearbeit (siehe Danby 2018, S. 17–34; vgl. Marçal 2017). Aus dieser Perspektive der feministischen Ökonomik entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, den Ausschluss der Frauen aus dem Geschäftsleben als Merkmal der ‚Rückständigkeit‘ des Islam anzuführen (vgl. Begleitschrift Seite 66f.).
S. 218
„Eine Unterscheidung zwischen einem religiösen und einem nichtreligiösen Bereich, wie ihn das Christentum von seinen Anfängen her kennt (‚Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist‘) ist für Muslime bis jetzt nahezu undenkbar.
Insgesamt ist also das Verhältnis des Islam zur modernen und globalen Wirtschaft ambivalent. [...] Wirtschaftliches Handeln erfordert die Autonomie und die Freiheit der Beteiligten – auch der Frauen 40 – von religiösen Einschränkungen.
40 Geschichtlich gesehen könnte man den Islam bezüglich der Stellung der Frau auch als progressiv ansehen [...]. [...] Dennoch ist die Selbstbestimmung der Frau heute im Islam verglichen mit den Verhältnissen in den Industriestaaten kaum ausgeprägt.“
S. 219
„Hinzu kam die Auffassung, dass aller Boden Besitz des herrschenden Stammes bzw. der Dynastie und so des Staates sei. Dieser Boden konnte nach Gutdünken vergeben werden, aber es kam nur zu einer Art von ‚nichtpersönlichem Eigentum‘, eine Rechtspraxis, die sicher auf nomadische Wurzeln zurückgeht. [...] Anders als in Europa, wo die Grundbesitzer, Priester und Adlige mitten in ihrem Eigentum wohnten und es pflegten, wurde das Land nur ausgebeutet. Bis heute ist die Landwirtschaft im Islam ein Stiefkind und auch das Verhältnis zur Produktion ist distanzierter als in der westlichen Welt.“
Unsere Analyse:
Hier wird einmal mehr deutlich, dass es sich bei der Darstellung des Islam im Lehrbuch um ein schwammiges Konstrukt handelt. Denn dieser wird wahlweise als Religion dem Christentum gegenübergestellt („wie ihn das Christentum von seinen Anfängen kennt“), mit dem Kontinent Europa verglichen („[a]nders als in Europa“), als Wirtschaftssystem ins Verhältnis zur „modernen und globalen Wirtschaft“ und „den Industriestaaten“ gesetzt oder gar in Form eines Kulturraums als Gegenüber „der westlichen Welt“ betrachtet. Der Islam wird dadurch klar außerhalb der eigenen Gesellschaft verortet (siehe Bauriedel 2007).
Insbesondere im Vergleich mit dem Christentum wird eine klare Hierarchie zwischen Christentum und Islam deutlich. Dabei stützt der Autor seine Argumentation auf eine Bibelstelle („‚Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist‘“) ohne kenntlich zu machen, dass es sich um ein Jesuszitat handelt. Das erscheint insbesondere in einem wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbuch fragwürdig. Auch eine differenzierte Auseinandersetzung mit der zitierten Bibelstelle findet nicht statt. Vielmehr dient das Zitat dazu, dem Christentum pauschal „von seinen Anfängen her“ eine fortschrittliche Rolle zuzuschreiben (vgl. Lanwerd 2009). Demgegenüber wird der Islam als fundamentalistische Religion beschrieben, die keine „Unterscheidung zwischen einem religiösen und einem nichtreligiösen Bereich“ kennt und „Autonomie und [...] Freiheit“ – insbesondere der Frauen – einschränkt.
Einher mit dieser Form des Othering geht auch eine Homogenisierung der beiden als Gegenüber konstruierten Gruppen, was insbesondere an der anmaßenden Formulierung „für Muslime bis jetzt nahezu undenkbar“ deutlich wird. Die Vielzahl möglicher und tatsächlicher Identifizierungen mit dem Islam wird hier negiert.
... Praktiken der Homogenisierung zu erkennen und im Kontext von postkolonialen Machtverhältnissen und Praktiken der Rassifizierung zu reflektieren.
Option A: Verstädterung und Slums
... eine homogenisierende Perspektive auf Städte im globalen Süden als dysfunktional und ‚verslumt‘ zu hinterfragen.
Option B: Die ‚afrikanische Kultur‘
... einen essenzialistischen Kulturbegriff, der dazu dient homogen gedachte Gruppen voneinander abzugrenzen, kritisch zu reflektieren.
Option C: ‚Die Muslime’/‚der Islam‘
... ein homogenisierendes Islambild, das ‚die Muslime‘ explizit oder implizit außerhalb einer ‚europäischen Kultur‘ verortet, als Grundlage antimuslimischen Rassismus zu verstehen.
Jennifer Robinson (2006): Ordinary Cities: Between Modernity and Development, S. 1-12.
Vertiefend:
Janice E. Perlman (1979): The Myth of Marginality: Urban Poverty and Politics in Rio de Janeiro.
Zur Vorbereitung:
Lest die Einleitung des Buches Ordinary Cities: Between Modernity and Development von Jennifer Robinson sowie folgenden kurzen Text, der das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von Homogenisierung beschreibt.
Unter Homogenisierung verstehen wir die Konstruktion einer Gruppe als homogene Einheit. Dies hat zur Folge, dass Menschen aufgrund ihrer (meist nicht selbst gewählten) Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Wie in unserem Verständnis von Rassifizierung (Begleitschrift Seite 8ff.) deutlich wird, ist Homogenisierung ein essenzieller Bestandteil jeglicher ‚Rasse‘-Konstruktionen (vgl. Terkessidis 2004, S. 98).
Während der Seminarsitzung:
Besprecht zuerst den gelesenen Text und klärt noch offene Fragen. Lest dann folgenden Textauszug aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung. Inwiefern kann die Darstellung von Prozessen der Verstädterung in den sogenannten ‚Entwicklungsländern‘ als homogenisierend verstanden werden? Unter Bezugnahme auf den Text von Jennifer Robinson: Welche anderen Perspektiven auf Städte im globalen Süden ließen sich dem entgegenstellen? Vergleicht eure Überlegungen mit unserer Analyse der Textstelle.
S. 26
„Die Verstädterung setzte in den Entwicklungsländern in den 1920er Jahren in Lateinamerika ein und hat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf nahezu alle Länder übergegriffen. Jedoch weist der Verstädterungsprozess in den Entwicklungsländern gegenüber dem Verstädterungsprozess in den Industrieländern grundlegende Unterschiede auf: In den meisten Entwicklungsländern geht die Verstädterung i.d.R. der Industrialisierung voraus – die Bedingungen auf dem Land erscheinen vielen noch unerträglicher – und erfolgt zumeist unkontrolliert. [...] Die noch in den 1950er und 1960er Jahren in das Städtewachstum gesetzte Hoffnung, Motor der Modernisierung zu sein, hat sich kaum erfüllt. Vielmehr sind eine zunehmende ‚Verslummung’ und ein Werteverfall zu beobachten, weil die Familienstrukturen, die im ländlichen Raum funktionierten, in der anonymen Umgebung der Städte oftmals dysfunktional sind.“
Unsere Analyse:
Slumbildung und Werteverfall werden hier homogenisierend als generelle Konsequenz von Verstädterungsprozessen im globalen Süden dargestellt. Dass Urbanisierung im globalen Süden keinen homogenen Prozess darstellt und nicht auf zunehmende Verelendung und „Verslummung“ zu reduzieren ist, sollte bereits klar werden, wenn man die Entwicklung so unterschiedlicher Metropolen wie Kuala Lumpur, Kinshasa und Brasilia betrachtet. Zudem kann die Verknüpfung von Slumbildung mit „Werteverfall“ als problematisch betrachtet werden, wird doch Slumbewohner*innen aufgrund ihrer marginalisierten Wohnsituation pauschal Amoralität zugeschrieben. Eine derartige Verknüpfung von verräumlichter Armut und moralischem Verfall hat lange Zeit koloniale Diskurse im Zeichen der ‚Zivilisierungsmission‘ charakterisiert (Lindner 2004, S. 14-15). Es lassen sich Parallelen zu den Anfängen der Stadtforschung im viktorianischen London ziehen, in der die ‚niederen Klassen‘ als die innerstädtischen Anderen und deren Wohnviertel als ‚Brutstätten für Krankheiten und Laster‘ imaginiert wurden (siehe ebd., S. 19–43); ebenso wie zu aktuellen Ghetto-Diskursen in europäischen Städten (vgl. Best & Gebhardt 2001).
Zugleich werden angebliche moralische Defizite der städtischen Bevölkerung auf in Städten dysfunktional gewordene Familienstrukturen zurückgeführt. Hier wird ein homogenisierendes Bild ländlicher Familienstrukturen aufgerufen und gleichzeitig die Herausbildung neuer Formen der Gemeinschaft in städtischen Kontexten ausgeblendet, wie sie sich in der selbstorganisierten, kollaborativen Erschaffung von Wohnraum oder der Einforderung von Rechten und der Ausübung von Bürgerschaft äußert (vgl. Lanz 2005).
Die Unterscheidung zwischen Verstädterungsprozessen in ‚den Entwicklungsländern‘ und ‚den Industrieländern‘, wird auch durch die gewählte Kollektivsymbolik der Ansteckung/Krankheit („auf nahezu alle Länder übergegriffen“) und des Autos („Motor“) deutlich. Der Autor argumentiert, dass die Verstädterung in den Industrieländern, gegenüber den ‚Entwicklungsländern‘ mit Industrialisierung einherging und demnach als „Motor der Modernisierung“ gesehen werden kann. Die Hoffnung der 1950er und 60er Jahre eine solche Entwicklung könne sich in den ‚Entwicklungsländern‘ wiederholen, habe sich jedoch nicht erfüllt – wobei die Ausrichtung der kapitalistischen Weltwirtschaft auf die Interessen des Nordatlantiks nach dem 2. Weltkrieg ausgeblendet wird (vgl. Wallerstein 2019). Nach dem Sprach- und Literaturwissenschaftler Jürgen Link (1997, S. 348), folgt die an dieser Stelle verwendete Kollektivsymbolik einem typischen Muster: Die westliche Industriegesellschaft erscheint symbolisch als Auto, das für Fortschritt, Selbstbestimmtheit und Individualismus steht; das Andere (Verstädterung im globalen Süden) tritt demgegenüber symbolisch als ansteckende Krankheit in Erscheinung, was in Begriffen wie ‚unkontrolliert‘ und ‚dysfunktional‘ zum Ausdruck kommt.
Katrin Osterloh & Nele Westerholt (2015): Kultur. Beitrag im Nachschlagewerk (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache.
Vertiefend:
Gerhard Hauck (2006): Kultur: zur Karriere eines sozialwissenschaftlichen Begriffs.
Zur Vorbereitung:
Lest den Beitrag Kultur im Nachschlagewerk (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache sowie folgenden kurzen Text, der das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von Homogenisierung beschreibt.
Unter Homogenisierung verstehen wir die Konstruktion einer Gruppe als homogene Einheit. Dies hat zur Folge, dass Menschen aufgrund ihrer (meist nicht selbst gewählten) Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Wie in unserem Verständnis von Rassifizierung (Begleitschrift Seite 8ff.) deutlich wird, ist Homogenisierung ein essenzieller Bestandteil jeglicher ‚Rasse‘-Konstruktionen (vgl. Terkessidis 2004, S. 98).
Während der Seminarsitzung:
Lest folgenden Textausschnitt aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung. Unter Zuhilfenahme des vorbereiteten Textes: Inwiefern ist das hier geäußerte essenzialistische Kulturverständnis problematisch? Inwiefern kann es als rassifizierend kritisiert werden? Lest nun unsere Analyse der Textstelle. Evtl. mithilfe der vertiefenden Literatur: Welche anderen Möglichkeiten gibt es, über Kultur nachzudenken?
S. 192
„Die afrikanische Kultur ist sehr stark auf die Familie und die ethnische Gruppe bezogen. Nicht nur überlieferte Stammesregeln und die Religion, sondern auch die Kunst, Musik und mündlich überlieferte Mythen dienen der Stärkung der sozialen Gemeinschaft. Doch die Stärkung der eigenen Gemeinschaft ist oft mit einer Abschottung gegenüber anderen Gemeinschaften und dem wissenschaftlichen Fortschritt verbunden. Aufgeschlossene Individuen, die sich bilden und neue Fertigkeiten erlernen, werden nicht selten mit Misstrauen von denjenigen betrachtet, die den nach alten Regeln strukturierten Gemeinschaften angehören. So laufen Individuen, die sich der Moderne öffnen, Gefahr, aus der Traditionsgemeinschaft ausgeschlossen zu werden.“
Unsere Analyse:
Der Autor charakterisiert „[d]ie afrikanische Kultur“ durch zwei Hauptmerkmale: die Stärkung der eigenen Gemeinschaft und die Abschottung gegenüber dem ‚Kulturfremden‘, d.h. der Moderne, der Wissenschaft und dem Fortschritt. Afrika scheint – gegenüber modernen Gesellschaften – auf der niedrigeren Entwicklungsstufe traditioneller Gemeinschaften zu verharren (vgl. Hornscheidt 2004). Zudem scheint die vom Autor gezeichnete ‚afrikanische Kultur‘ keine kulturellen Werte an sich zu besitzen, denn „Religion, [...] Kunst, Musik, und mündlich überlieferte Mythen“ dienen, rein funktional, der Stärkung der eigenen Gemeinschaft. Aufgeschlossenen Individuen, die sich der Moderne öffnen, werde mit Misstrauen oder gar Ausschluss aus der Gemeinschaft begegnet. Afrikaner*innen, die in Städten leben und/oder einen westlichen Lebensstil pflegen, scheinen demnach kein Teil der hier dargestellten ‚afrikanischen Kultur‘ zu sein.
Die Ausführungen machen deutlich, dass der Autor hier einen essenzialistischen Kulturbegriff vertritt, nach dem Kulturen als „diskrete, gegeneinander abgeschlossene, wesensmäßig verschiedene, in sich einheitliche, weitgehend widerspruchsfreie Gebilde gesehen [werden], die ihre Entwicklungsdynamik alleine aus sich selbst [beziehen] und zwischen denen es weder Verständigung noch Vermischung geben [kann]“ (Hauck 2006, S. 10). Dieses Kulturverständnis ist auf zweierlei Ebenen problematisch. Einerseits werden historische und menschengemachte Unterschiede sowie Machtungleichheiten zwischen sozialen Gruppen naturalisiert. Andererseits werden Kulturen als intern homogen imaginiert und somit Diversität und Herrschaftsverhältnisse innerhalb sozialer Gruppen außer Acht gelassen.
Postkoloniale Theoretiker*innen und Vertreter*innen der cultural studies trugen maßgeblich zur Dekonstruktion der Annahme fester Grenzen zwischen dem Innen und Außen verschiedener Kulturen bei und etablierten ‚kulturelle Hybridität‘ als neues sozialwissenschaftliches Paradigma (siehe Bhabha 2012). Vor diesem Hintergrund muss das im Lehrbuch vertretene Kulturverständnis als zumindest antiquiert betrachten werden (Hauck 2006, S. 16). Aus unserer Sicht entscheidender ist jedoch, dass die hier vertretene Auffassung einer homogenen ‚afrikanischen Kultur‘ an dominante rassifizierende Diskurse um Wir und die Anderen anknüpft, in denen der Begriff ‚Rasse‘ durch ‚Kultur‘ ersetzt wird (ebd. S. 8–9; 130–142; vgl. Balibar 1992).
Lektüre C
Charlotte Wiedermann (2014): Islam und Menschenbild: Die Unfähigkeit, den plural zu denken. Schwarze Ninjas, weißer Feminismus. Rücksicht darauf, was anderen heilig ist.
Vertiefend:
Amadeu Antonio Stiftung – Fachstelle Gender GMF und Rechtsextremismus (2019): Antimuslimischer Rassismus.
Zur Vorbereitung:
Macht eine Mindmap zu euren Assoziationen mit dem Begriffen ‚Muslime‘/‚Islam‘. Lest nun den Text Islam und Menschenbild der Journalistin Charlotte Wiedermann. Hat sich euer in der Mindmap festgehaltenes Bild verändert? Wenn ja, wie? Lest außerdem folgenden kurzen Text, der das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von Homogenisierung beschreibt.
Unter Homogenisierung verstehen wir die Konstruktion einer Gruppe als homogene Einheit. Dies hat zur Folge, dass Menschen aufgrund ihrer (meist nicht selbst gewählten) Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Wie in unserem Verständnis von Rassifizierung (Begleitschrift Seite 8ff.) deutlich wird, ist Homogenisierung ein essenzieller Bestandteil jeglicher ‚Rasse‘-Konstruktionen (vgl. Terkessidis 2004, S. 98).
Während der Seminarsitzung:
Diskutiert in der Gruppe, inwiefern der vorbereitete Text euch neue Perspektiven auf die Thematik ‚Islam‘ eröffnen konnte. Lest nun folgende Textausschnitte aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung sowie den Flyer der Amadeo Antonio Stiftung zu antimuslimischen Rassismus (vertiefende Literatur). Inwiefern ist eine solch homogenisierende Darstellung ‚des Islams‘ und ‚der Muslime‘ problematisch? Lest auch unsere Analyse der Textausschnitte.
S. 219
„Darüber hinaus besaßen die Muslime historisch gesehen insgesamt wenig Sinn für die Bedeutung der Landwirtschaft und auch der Produktion. [...] Die Muslime kannten sogar eine Verachtung für den Ackerbau: Der Pflug entehrt. Sich seiner zu entledigen, ist ein sozialer, ja fast ein moralischer Sieg.“
S. 267
„Politik dient den Muslimen vorwiegend als Mittel zu einem Zweck: der Verwirklichung einer auf die Scharia (religiöses Gesetz, Gesetzgebung auf der Basis der religiösen Pflichtenlehre) gegründeten islamischen Ordnung, die man als eine Art ‚Tugendstaat‘ verstehen kann. Diese Sichtweise impliziert, dass Kategorien wie Macht, Interesse, Wettbewerb oder effiziente Güterbereitstellung kaum eine Rolle in der islamischen Anschauung spielen.“
Unsere Analyse:
Der Autor wirft ‚den Muslimen‘ „historisch gesehen insgesamt wenig Sinn für die Bedeutung der Landwirtschaft und auch der Produktion“ vor. Somit erscheint eine Geringschätzung der Landwirtschaft und der Produktion als historische Eigenschaft aller Muslime. Ähnlich homogenisierend ist von „der islamischen Anschauung“, in der „Wettbewerb oder effiziente Güterverteilung kaum eine Rolle [...] spielen“, die Rede. In der ersten Aussage wird zudem eine angenommene moralische Unterlegenheit der Muslime zum Ausdruck gebracht („Verachtung für den Ackerbau“), die in Ermangelung einer Quelle jedoch unklar bleibt. Im zweiten Zitat wird wiederum auf den Dualismus individuelle Freiheit vs. Dogmatik und Zwang („Wettbewerb“ vs. „Verwirklichung einer auf die Scharia [...] gegründeten islamischen Ordnung“) zurückgegriffen (vgl. Begleitschrift Seite 62ff.).
... zu erkennen, dass pauschalisierende Behauptungen implizite Vorannahmen voraussetzen, und somit an rassifizierende Diskurse anknüpfen können.
... pauschalisierende Behauptungen über die Unterdrückung der Frauen in ‚den Entwicklungsländern‘ kritisch zu hinterfragen.
... in die postkoloniale Kritik eines weißen Feminismus einzuführen.
Anke Graneß, Martina Kopf & Magdalena Andrea Kraus (2019): Feministische Theorie aus Afrika, Asien und Lateinamerika, 9-33.
Weiterführend:
Zur Erziehung von Mädchen und Jungen in Deutschland siehe:
Collien Ulmen-Fernandes (2019): No more Boys and Girls. Zweiteilige ZDF-Dokumentation.
Zur Vorbereitung:
Lest die Einleitung des Buches Feministische Theorie aus Afrika, Asien und Lateinamerika sowie folgenden kurzen Text, der das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von Pauschalisierung beschreibt.
Unter Pauschalisierung verstehen wir eine verallgemeinernde Aussage, die selbsterklärend erscheint und deshalb nicht weiter begründet wird. Pauschalisierende Aussagen können jedoch nur dann als selbstverständlich wahrgenommen werden, wenn sie an bereits existierende Diskurse anknüpfen. Im Fall von rassifizierenden Aussagen wird dabei nach Colette Guillaumin (2000, S. 39) auf Ensembles synkretistischer Merkmalszuschreibungen zurückgegriffen. Anhand eines Beispiels kann dies verdeutlicht werden. Die verallgemeinernde Aussage: ‚Muslimische Frauen schlagen ihre Männer‘ würde absurd erscheinen, da sie mit dem dominanten, rassifizierenden und sexualisierten Diskurs um gewalttätige muslimische Männer bricht (vgl. Arjana 2015, S. 11–12).
Während der Seminarsitzung:
Lest folgenden Textausschnitte aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung. Diskutiert, unter Berücksichtigung des vorbereiteten Textes, inwiefern die hier getroffenen pauschalisierenden Aussagen über die Diskriminierung von Frauen in ‚den Entwicklungsländern‘ auf der Annahme beruhen, diese seien passive Opfer eines unterdrückerischen Patriarchats. Wieso ist diese Annahme problematisch? Lest dazu auch unsere Analyse der Textausschnitte.
S. 37
„Das [die Diskriminierung von Frauen] sind Probleme, die weltweit auftreten, aber verstärkt in Entwicklungsländern.“
S. 38
„Die Diskriminierung von Frauen beginnt in vielen Entwicklungsländern bereits bei ihrer Geburt. Der niedrige Status von Mädchen spiegelt sich vor allem auch darin wieder, dass sie in punkto Nahrung, Gesundheitsversorgung, Kleidung und Bildung deutlich hinter Jungen zurückstehen müssen. [...]
Wesentlicher Bestandteil der Erziehung sind Denk- und Verhaltensweisen, die bei Mädchen die Unterordnung unter den Mann als ‚natürlich‘ erscheinen lassen, während den Jungen die Kraft zur Machtausübung als zentraler Wert vermittelt wird. So werden die Rollen, die Mann und Frau in der Gesellschaft zu erfüllen haben, bereits von Kindheit an über geschlechtsspezifische Werte, aber auch über die ihnen zugeteilten Aufgaben und die damit verknüpfte Anerkennung klargestellt. Höchstes Ziel weiblichen Lebens hat in vielen Entwicklungsländern die Mutterschaft, insbesondere das Gebären von Söhnen zu sein.“
Unserer Analyse
Der Autor hat völlig recht, wenn er die Diskriminierung von Frauen als globales Problem bezeichnet. Anstatt dies jedoch zum Anlass, zu nehmen patriarchale Strukturen weltweit kritisch zu hinterfragen, wird die Diskriminierung von Frauen als Merkmal von ‚Unterentwicklung‘ in „vielen Entwicklungsländern“ dargestellt und durch Pauschalisierungen illustriert, die nicht weiter begründet oder erläutert werden. Zum einen erfolgt somit eine homogenisierende Darstellung der Situation ‚der Frauen‘ in ‚den Entwicklungsländern‘, die hier als passive Opfer von Diskriminierung erscheinen, denen nichts anderes übrig bleibt als sich der männlichen Vorherrschaft unterzuordnen. Feministische Kämpfe für Frauenrechte und Gleichberechtigung scheint es nur im globalen Norden geben zu können, und eine Emanzipation scheint nur durch die Hilfe des Nordens möglich.
Zum anderen erscheint die Diskriminierung von Frauen in ‚den entwickelten Staaten‘ – gegenüber den ‚Entwicklungsländern‘ – als weniger problematisch. Aus einer feministischen Perspektive lassen sich jedoch viele der Zuschreibungen des Autors auch auf ‚unsere‘ Gesellschaft anwenden. Denn auch in Deutschland „werden die Rollen, die Mann und Frau in der Gesellschaft zu erfüllen haben, bereits von Kindheit an über geschlechtsspezifische Werte, aber auch über die ihnen zugeteilten Aufgaben und die damit verknüpfte Anerkennung klargestellt“ und Mädchen werden zu Denk- und Verhaltensweisen erzogen, die „die Unterordnung unter den Mann als ‚natürlich‘ erscheinen lassen“ (siehe Ulmen-Fernandes 2019).
... reduktionistische Erklärungsansätze und deterministische Argumentationsmuster zu erkennen und kritisch zu hinterfragen.
... zu verstehen, dass reduktionistische Erklärungen und deterministische Argumentationen, wenn sie dazu genutzt werden, das Verhalten bzw. die Lebenssituation bestimmter Menschengruppen zu erklären, ohne dabei strukturelle und historische Gegebenheiten in den Blick zu nehmen, zu Rassifizierungsprozessen beitragen.
... kritisch über Armut als erklärenden Faktor zu reflektieren, insbesondere dann, wenn diese angenommen, aber selbst nicht erklärt wird.
Erhard Berner (2016): Un-fassbare Armut: Definitionsprobleme und politische Brisanz.
Weiterführend:
Zur Frage, was die globale ökologische Krise mit dem Kapitalismus zu tun hat, siehe:
Ulrich Brand & Markus Wissen (2017): Imperiale Lebensweise: zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus.
Zur Kritik am Konzept der youth bulges siehe:
Anne Hendrixson (2004): Angry Young Men, Veiled Young Women: Constructing a New Population Threat.
Zur Vorbereitung:
Lest den Text Un-fassbare Armut von Erhard Berner sowie folgenden kurzen Text, der das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von Reduktionismus und Determinismus beschreibt.
Reduktionismus ist die Simplifizierung komplexer Sachverhalte durch ihre Reduktion auf einen oder wenige erklärende Faktoren. Umgekehrt beschreibt Determinismus die Annahme, einen komplexen Sachverhalt durch die Betrachtung eines oder weniger Faktoren eindeutig erklären zu können. Gerade bei einer sozialwissenschaftlichen Analyse halten wir reduktionistische und deterministische Argumentationen für problematisch, da sie der komplexen Realität menschlichen Handelns und gesellschaftlicher Prozesse nicht gerecht werden und somit einer differenzierten Analyse im Wege stehen. Wenn reduktionistische und deterministische Argumente dazu dienen, das Verhalten bestimmter Menschengruppen zu erklären, können sie als Teil von Rassifizierungprozessen betrachtet werden (siehe Hauck 2003, Kap. 3).
Während der Seminarsitzung:
Diskutiert ausgehend vom vorbereiteten Text die Komplexität und politische Brisanz des Begriffs ‚Armut‘, insbesondere was die Messung von Armut durch bestimmte Indikatoren betrifft. Nun besteht die Möglichkeit, die Seminargruppe in zwei Kleingruppen aufzuteilen. Lest die jeweilige Textstelle aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung.
Gruppe A:
Markiert alle genannten Phänomene, die hier mit ökonomischer Armut im breiteren Sinne, d.h. mit fehlenden finanziellen Mitteln bzw. fehlender ökonomischer Entwicklung, in Verbindung gebracht werden. Unter Rückgriff auf den vorbereiteten Text: Erscheint euch diese Art der Argumentation überzeugend? Welche strukturellen Faktoren werden außer Acht gelassen?
Gruppe B:
Hier wird Armut bzw. fehlende ökonomische Entwicklung, die sich in fehlenden ökonomischen und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten für die – demographisch gesehen – ‚überschüssige‘ Jugend (youth bulges) manifestiert, als Erklärungsfaktor für bewaffnete Konflikte und Terrorismus herangezogen. In welchen Metaphern wird diese deterministische Argumentation auch sprachlich deutlich? Inwiefern vermischt sie sich mit weiteren diskursiven Praktiken der Rassifizierung, insbesondere des Othering und der Homogenisierung?
Vergleicht eure Überlegungen mit unserer Analyse der jeweiligen Textstellen.
Gruppe A:
S. 26/27
„Der Prozess der unkontrollierten Verstädterung geht Hand in Hand mit einer vielerorts zu beobachtenden Verschlechterung der Qualität der Ackerböden. [...] Entscheidender Faktor ist [dabei] die Verschlechterung der Bodenqualität. Sie hat viele Gründe: Überweidung, Übernutzung, falsche Bewässerung und ungeeignete Anbaumethoden sind einige zentrale Ursachen. [...]
Armut ist einer der zentralen Gründe für die Zerstörung der Artenvielfalt in Entwicklungsländern. Der illegale Schmuggel oder gar legale Handel mit vom Aussterben bedrohten Papageien, mit Papier aus illegal geschlagenem Tropenholz oder mit Korallenschmuck aus zerstörten Riffen o.ä. ist eine der größten Bedrohungen für die Artenvielfalt. [...]
Insgesamt ist eine armutsbedingte ‚Übernutzung‘ der natürlichen Lebensgrundlagen zu beobachten. Armut zwingt zu kurzfristig orientiertem Handeln, sodass Aspekte der Nachhaltigkeit ausgeblendet werden. [...]
Probleme der Luft- und Wasserverschmutzung berühren die meisten Menschen in Entwicklungsländern weitaus stärker als Probleme der Einschränkung der Artenvielfalt. [...] [Sie werden] inzwischen auch von den Regierungen in den Entwicklungsländern verstärkt wahrgenommen. Allerdings fehlen den meisten Staaten die finanziellen Mittel zur Lösung der dringendsten nationalen Umweltprobleme. Vor diesem Hintergrund und angesichts der weit verbreiteten Armut ist es bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, dass die verantwortlichen Regierungen andere Prioritäten setzen als den Schutz der globalen Umwelt. Aus ähnlichen Gründen liegen auch die Versorgung mit Sanitäreinrichtungen und sauberem Trinkwasser weit hinter den Niveaus der entwickelten Industrieländer zurück. [...]
[...] Zudem sind Mangelernährung und tödliche Krankheiten wie Tuberkulose oder HIV/AIDS (aber auch Malaria) in Entwicklungsländern (wiederum vor allem südlich der Sahara) viel stärker verbreitet als in OECD-Staaten.“
Unsere Analyse:
„Verstädterung“, „Verschlechterung der Qualität der Ackerböden“, „Zerstörung der Artenvielfalt“, „‚Übernutzung‘ der natürlichen Lebensgrundlagen“, „Luft- und Wasserverschmutzung“, „die [unzureichende] Versorgung mit Sanitäreinrichtungen und sauberem Trinkwasser“, „Mangelernährung und tödliche Krankheiten“; all diese Themen werden hier auf nur zwei Seiten in einem Kapitel unter der Überschrift „Ökologie und Gesundheit“ (Leschke 2015, 26) zusammengefasst. Mit der Postulierung von Armut als alles determinierender Faktor wird ein fragwürdiger Zusammenhang suggeriert. Teilweise erscheinen die Verknüpfungen zwischen den einzelnen Themen willkürlich, so wie in der Feststellung, dass ein Engagement für globalen Umweltschutz und die Bereitstellung einer grundlegenden Sanitär- und Trinkwasserversorgung „[a]us ähnlichen Gründen“, d.h. aufgrund fehlender Mittel bzw. Armut, in den ‚Entwicklungsländern‘ nicht in ausreichender Weise stattfinden.
Der Determinismus, der der Argumentation zugrunde liegt, wird insbesondere an der Formulierung „geht Hand in Hand mit“ deutlich. Das dadurch vermittelte Bild ist: Bodendegradation auf dem Land, die letztendlich auf eine armutsbedingte Übernutzung zurückzuführen ist, zwingt die Menschen dazu in die Städte zu migrieren. Damit wird jedoch ignoriert, dass Land-Stadt Migration im globalen Süden auf komplexe und jeweils sehr spezifische Gründe zurückzuführen ist. Außerdem geschieht diese i.d.R. nicht einseitig vom Land in die Stadt. Vielmehr sind städtische und ländliche Gebiete in vielen Regionen des globalen Südens durch komplexe Migrationsnetzwerke sowie translokale Strategien der Überlebenssicherung miteinander verbunden und gegenseitig voneinander abhängig (vgl. Steinbrink & Niedenführ 2017).
Außerdem erscheint es nicht plausibel, Bodendegradation monokausal durch Armut bzw. fehlende capabilities („ungeeignete Anbaumethoden“) zu erklären. So kann z.B. die Bodendegradation in der Sahelzone nicht ohne den Prozess der Desertifikation (Wüstenausbreitung) und den Klimawandel verstanden werden; oder der zunehmende Verlust fruchtbarer Ackerflächen in vielen Ländern des globalen Südens nicht ohne industrielle, hochkapitalisierte Land- und Plantagenwirtschaft (siehe Langthaler 2016, S. 204–206). Durch ein solches Außerachtlassen struktureller Bedingungen und durch individualisierende Erklärungsansätze erscheinen arbeitende Bevölkerungsgruppen im globalen Süden als unwissend und in nicht-modernen Praktiken festzustecken.
Eine Erklärung, die strukturelle Faktoren außer acht lässt, zeigt sich auch daran, dass Armut als „einer der zentralen Gründe für die Zerstörung der Artenvielfalt in Entwicklungsländern“ dargestellt und dies durch willkürlich erscheinende Beispiele („[d]er illegale Schmuggel oder gar legale Handel mit vom Aussterben bedrohten Papageien“) illustriert wird. Somit werden – in kolonialer Tradition – bestimmte Bevölkerungsgruppen in den sogenannten ‚Entwicklungsländern‘ als Wilddiebe und Umweltzerstörer dargestellt (Clausing 2015, S. 461). Artensterben und Biodiversitätsverlust ist jedoch ein globales Problem und nicht zu trennen vom Klimawandel und der Überschreitung weiterer planetarer Grenzen, die im Zusammenhang mit unserer kapitalistischen Wirtschaftsweise stehen (siehe von Weizsäcker & Wijkman 2017, S. 14–15; 24). Die Zerstörung der Artenvielfalt auf Armut zurückzuführen erscheint geradezu zynisch, wenn man diese im Zusammenhang der ungleichen Nutzung globaler Ressourcen betrachtet. So wären etwa – nach einer Berechnung des Umweltbundesamtes (2019) – mehr als drei Erden notwendig, wenn die gesamte Weltbevölkerung auf dem hohen Konsumniveau von Deutschland leben würde. Etwas überspitzt formuliert könnte man also sagen: Der Reichtum im globalen Norden – nicht die Armut im globalen Süden – ist einer der zentralen Gründe für die globale Zerstörung von Artenvielfalt und Biodiversität.
Gruppe B:
S. 31
„Nach einer These des Bremer Konfliktforschers Gunnar Heinsohn sind ‚youth bulges‘, die vorwiegend in weniger entwickelten Ländern auftreten, eine Quelle für kriegerische Auseinandersetzungen bis hin zum Terrorismus, weil die heranwachsenden, zumeist männlichen Jugendlichen überwiegend keine sozialen Aufstiegsmöglichkeiten erhalten, was sie für Verschwörungsideologien radikaler Führer empfänglich macht. Der Überschuss frustrierter, zorniger Jugendlicher stellt ein unerschöpfliches Reservoir für die Rekrutierung von radikalen Kriegern oder sogar Terroristen dar.“
Unsere Analyse:
Der Autor interpretiert das Konzept der youth bulges auf deterministische Weise als monokausalen Zusammenhang zwischen Jugendüberschuss und Konflikten, ja sogar Terrorismus, was insbesondere im Begriff „Quelle“ deutlich wird. Dieser Zusammenhang wird jedoch von seriösen Wissenschaftler*innen infrage gestellt. So kommt die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu dem Ergebnis, dass es sich bei youth bulges allenfalls um einen „demographischen Stressfaktor“ (Popp 2012, S. 7) handle:
„Eine Analyse jüngerer empirischer Studien zeigt [...], dass zwischen der Altersstruktur einer Bevölkerung und dem Konfliktrisiko kein monokausaler Zusammenhang besteht.“ (Ebd. S. 1)
Manche Demographieforscher*innen lehnen das Konzept der youth bulges auch ganz ab und betrachten es als Teil eines rassifizierenden Diskurses um eine drohende Überbevölkerung, die dem globalen Süden zugeschrieben wird (siehe Hendrixson 2004).
Auch im Lehrbuch wird das Phänomen der youth bulges „vorwiegend in weniger entwickelten Ländern“ verortet und mit der Kollektivsymbolik der „Quelle“ sowie „radikalen Kriegern“ und „Verschwörungsideologien radikaler Führer“ assoziiert, eine Wortwahl die ein Bild von radikalen, irrationalen, gewaltbereiten (tendenziell muslimischen) Anderen evoziert. Dies zeigt sich daran, dass derartige Begriffe kaum verwendet würden, um Konflikte in westlichen Staaten zu beschreiben. Tragfähige Analysen, die entsprechende Phänomene hier adressieren, arbeiten etwa mit Begriffen wie ‚Autoritarismus‘ und sprechen hinsichtlich militärischer Akteure von ‚Soldaten‘ bzw. ‚Kämpfern‘.
Die genutzte Kollektivsymbolik der Quelle ist mit ausströmenden Massen assoziiert und führt so tendenziell zu einer Entmenschlichung der entsprechend codierten Anderen, die als kollektive Bedrohung erscheinen. Die implizite Konsequenz der Abschottung vor einer drohenden Flut von Kriegern bzw. Terroristen wird durch die Metapher „unerschöpfliches Reservoir“, die auf ein stetiges Anwachsen dieser Gefahr verweist, noch verstärkt.
... darüber zu reflektieren, wie tief eurozentrisches Denken im etablierten Kanon soziologischer und ökonomischer Gesellschaftstheorie verankert ist.
... zu erkennen, dass Eurozentrismus mit einem bestimmten, dominanten Geschichts- und Kulturverständnis einhergeht und somit immer im Kontext postkolonialer Macht- und Herrschaftsstrukturen zu betrachten ist.
Gerhard Hauck (2009): Die Gesellschaftstheorie und ihr Anderes: Wider den Eurozentrismus der Sozialwissenschaften.
Vertiefend:
Reawyn Connell (2007): Southern Theory: The Global Dynamics of Knowledge in Social Science.
Weiterführend:
Zur Rezeption antiker griechischer Philosophie und Wissenschaft in islamischen Gesellschaften siehe:
Thomas Bauer (2018): Warum es kein islamisches Mittelalter gab: Das Erbe der Antike und der Orient.
Zur Vorbereitung:
Lest die Einleitung aus Gerhard Haucks Buch Die Gesellschaftstheorie und ihr Anderes sowie folgenden kurzen Text, der das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von Eurozentrismus beschreibt.
Unter Eurozentrismus verstehen wir eine auf (v.a. West-)Europa zentrierte Sichtweise, die europäische Normen und Sichtweisen als universell betrachtet und Abweichungen als defizitär darstellt. Außerdem geht Eurozentrismus, nach unserem Verständnis, einher mit der Normalisierung von Weißsein sowie einem kolonialen Blick auf die Anderen. Deshalb trägt er zu Rassifizierungsprozessen bei (siehe Hauck 2003, Kap. 1; vgl. Chakrabarty 2013).
Während der Seminarsitzung:
Besprecht den gelesenen Text und klärt noch offene Fragen. Lest nun folgende Textausschnitte aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung. Worin wird eine eurozentrische Perspektive deutlich? Welches implizite Geschichts- und Kulturverständnis liegt den Textstellen zugrunde? Vergleicht eure Überlegungen mit unserer Analyse.
S. 218
„Um die institutionellen Voraussetzungen für produktive wirtschaftliche Prozesse zu etablieren, scheint im Islam eine Aufklärung erfolgen zu müssen, die noch aussteht, ja tatsächlich kaum begonnen hat.“
S. 219
„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle Versuche, die antike griechische Philosophie in das islamische Denken zu integrieren, scheiterten [...].“
S. 267
„Das zentrale Problem der Vereinbarkeit von Demokratie und Islam besteht nach der Aussage vieler Wissenschaftler darin, dass die Mehrheit der islamistischen [sic] Bevölkerung bis heute keine wirkliche Aufklärung erfahren hat.“
S. 267/68
„Die Rezeption zentraler Gesellschaftstheoretiker fand nicht (im hinreichenden Maße) in islamischen Ländern statt. Weder die Schriften von
Machiavelli – Idee des vernunftgeleiteten Interessenskalküls einer Staatsführung,
Hobbes – funktionale Vertragstheorie des Staates,
Locke – Theorie des Eigentums und des Rechtsstaates,
Rousseau – die Bindung der Herrschaft an Zustimmung und dem zentralen Protagonisten der Aufklärung [sic] oder
Kant – Philosophie der Vernunft
wurden rezipiert, noch diejenigen moderner Gesellschaftstheoretiker wie Rawls, v. Hayek, Nozick oder Buchanan. Dies führt zu der Feststellung, dass das theozentrische Weltbild hinsichtlich der Frage der Legitimität politischer Herrschaftsformen nie (hinreichend) durch ein anthropozentrisches ersetzt wurde.“
Unsere Analyse:
Im letzten Zitat wird der eurozentrische Blick besonders deutlich. Denn erstens werden bestimmte politische Philosophen der europäischen Moderne bzw. Aufklärung (Machiavelli, Hobbes, Locke, Rousseau, Kant) und bestimmte US-amerikanische politische bzw. Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts (Rawls, Nozick) sowie libertäre Wirtschaftswissenschaftler (Hayek, Buchanan) als universelle Norm gesetzt („zentrale[]“ bzw. „moderne[] Gesellschaftstheoretiker“). Zweitens erscheint die Rezeption eben dieser Theoretiker als einziger Weg zur Überwindung eines theozentrischen Weltbildes. Indem diese Rezeption von ‚den Muslimen‘ bzw. ‚dem Islam‘ nicht stattgefunden habe, wird dieser erneut – unter Rückgriff auf den Dualismus säkulare Moderne vs. ererbte Religion – als vormodern bzw. unterentwickelt konstruiert. Noch deutlicher wird dieser Dualismus in dem Argument, dass der Islam – im Gegensatz zu Europa – bisher keine Aufklärung erfahren habe. Dem gleichen Muster folgt die Gegenüberstellung „die antike griechische Philosophie“ vs. „das islamische Denken“.
Dieser Argumentation liegen – neben dem implizierten Othering – zwei problematische Behauptungen zugrunde. Erstens wird angenommen, dass es eine ‚abendländische‘ Denktradition bzw. Kultur gäbe, die sich progressiv aus dem Gedankengut der Antike über die Aufklärung – der Epoche der Überwindung theozentrischen Weltbildes des Mittelalters – hin zur ‚modernen Gesellschaftstheorie‘ entwickelt habe. Jedoch sind weder ‚die antike griechische Philosophie‘ noch ‚die Aufklärung‘ und ‚moderne Gesellschaftstheorie‘ begrifflich klar zu fassen und im Sinne einer einheitlichen Entwicklungslinie definierbar.
Die Darstellung dieser Kategorien als homogene und allein innereuropäische Denktraditionen reproduziert eine eurozentrische Geschichtsschreibung, die den europäischen Imperialismus und Kolonialismus als konstitutives Element sogenannter ‚moderner Gesellschaftstheorie‘ ausblendet. Ebenso wird die Heterogenität jeglicher Ideen- bzw. Philosophiegeschichte negiert, die immer von Gegennarrativen zu den dominanten Strömungen des Mainstreams geprägt ist (siehe Connell 2007, Kap. 1; Hettne 2009, S. 16–19).
Zweitens ist die Aussage, dass europäische Philosophen in islamischen Gesellschaften nicht ausreichend rezipiert worden seien sowie, dass der Islam bisher keine Aufklärung erfahren habe, falsch. Tatsächlich waren es muslimische Gelehrte, die das Gedankengut antiker griechischer Philosophen, Ärzte und Wissenschaftler in großem Maße rezipierten und bewahrten, bevor es dann von Europäer*innen in der sogenannten Renaissance wiederentdeckt wurde (siehe Bauer 2018). Auch lässt sich feststellen, dass die Auseinandersetzung mit den vom Autor zitierten europäischen Gesellschaftstheoretikern der Aufklärung in islamischen Gesellschaften massiv stattfand. In vielen Fällen erfolgte jedoch eine bewusste Abgrenzung zu den Lektüren, im Kontext einer europäischen Kolonialisierung des Bildungssystems und der Staatsphilosophie (siehe Connell 2007, Kap. 6).
... die Idee der Zivilisierung der als unmündig betrachteten nicht-europäischen Anderen als zentrales Element eurozentrischer und kolonial-rassistischer Diskurse zu verstehen.
Henning Melber (2000): Rassismus und eurozentrisches Zivilisationsmodell: zur Entwicklung des kolonialen Blicks.
Weiterführend:
Für eine kritische Einführung in das Denken Friedrich Hayeks siehe:
Ralf Ptak (2017): Grundlagen des Neoliberalismus.
Zur Vorbereitung:
Lest den Text Rassismus und eurozentrisches Zivilisationsmodell von Henning Melber sowie folgenden kurzen Text, der das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von Infantilisierung beschreibt.
Infantilisierung bezeichnet die ‚Verkindlichung‘ anderer Menschen, d.h. ihre Darstellung als kindlich bzw. unmündig und naiv, was mit der Annahme der moralischen und allgemeinen Überlegenheit der eigenen Gruppe einhergeht. Insbesondere die Infantilisierung von Afrikaner*innen geht auf eine koloniale Tradition zurück (Melber 2000, S. 141–142).
Während der Seminarsitzung:
Besprecht den vorbereiteten Text im Hinblick auf die Fragestellung, inwiefern eine Zivilisierung der als unmündig betrachteten Anderen eine grundlegende Rechtfertigung des europäischen Kolonialismus darstellt. Lest nun folgenden Textausschnitt aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung. Inwiefern finden sich hier entsprechende koloniale Denkmuster wieder? Lest auch unsere Analyse der Textstelle. Mithilfe der weiterführenden Literatur kann diskutiert werden, inwiefern Friedrich Hayeks Theorie der kulturellen Evolution auf eurozentrischen Grundannahmen beruht und koloniale Diskurse einer zivilisatorischen Überlegenheit Europas reproduziert.
S. 194
„Die kulturelle Verwurzelung, das Festhalten an Traditionen, die wenig fortschrittsförderlich erscheinen, kann sich nur dann wandeln, wenn von der Bevölkerung verstanden wird, dass für ein produktives Gemeinschaftsleben in einem Staat ein allgemeines Recht, das über den verschiedenen Traditionen und Religionen steht, verankert wird. Der Hayekschen Idee der Etablierung von abstrakten Regeln oder Prinzipien gerechten Verhaltens muss – bis zu einem gewissen Grad – gefolgt werden. Um solche Ideen und Konzept zu verstehen, ist allerdings eine gewisse Bildung notwendig.“
Unsere Analyse:
Für den Autor scheint klar, dass Afrika den Ideen Hayeks folgen müsse, um sich (nach dem Vorbild Europas) hin zu Produktivität und Fortschritt zu entwickeln. Doch bisher scheint der Bevölkerung das entsprechende Verständnis zu fehlen. Der Autor geht hier davon aus, dass die meisten Afrikaner*innen nicht die nötige Bildung besitzen, diese Ideen bzw. Prinzipien abstrakter Regeln und gerechten Verhaltens überhaupt zu verstehen. Damit wird ihnen – aus einer paternalistischen Haltung heraus – tendenziell die Fähigkeit abgesprochen eigene Konzepte und Ideen von erstrebenswertem, gesellschaftlichen Fortschritt zu entwickeln (vgl. Begleitschrift Seite 25ff.).
Die damit einhergehende Infantilisierung bzw. Verkindlichung Afrikas äußert sich darin, dass Afrikaner*innen als unmündig und ungebildet bzw. kindlich naiv betrachtet werden: Ihnen müssen (wie Kindern) die Institutionen eines produktiven Gemeinschaftslebens erst noch erklärt werden. Andere Sichtweisen oder Problemdefinitionen seitens Afrikaner*innen scheinen nicht möglich oder existent. Dies schließt an rassifizierende Narrative und die Tradition des Kolonialismus an; man könnte gar von der Forderung nach einer ‚Erziehung‘ bzw. ‚Zivilisierung‘ Afrikas durch die Etablierung Hayekscher Institutionen sprechen (vgl. Melber 2000, S. 141–142).
... zu erkennen, dass sich gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse – auch bezüglich Praktiken der Rassifizierung – in bestimmten Wörtern und Wendungen sprachlich manifestieren.
Option A: ‚Freie Natur‘
... die Idee einer ‚freien Natur‘ kritisch zu hinterfragen.
Option B: ‚Stämme‘
... die Charakterisierung afrikanischer Gesellschaften als ‚Stämme‘ als diskriminierend und rassifizierend zu begreifen.
Susan Arndt (2004): Kolonialismus, Rassismus, Sprache.
Vertiefend:
Peter Clausing (2015): Naturschutz. Beitrag im Nachschlagewerk (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache.
Zur Vorbereitung:
Lest den Beitrag Kolonialismus, Rassismus, Sprache von Susan Arndt sowie folgenden kurzen Text, der das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von kolonialer Sprache beschreibt.
Bestimmte Begriffe und Formulierungen tragen dazu bei, ein rassifiziertes Bild bestimmter sozialer Gruppen und Gesellschaften zu erzeugen und zu reproduzieren. Besondere Bedeutung haben dabei Begriffe, die in kolonialer Tradition stehen und somit kolonial-rassistische Bilder evozieren (siehe Arndt 2004).
Während der Seminarsitzung:
Besprecht den gelesenen Text und klärt noch offene Fragen. Lest dann folgenden Textausschnitt aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung und überlegt, inwiefern das hier gezeichnete Bild einer ‚freien Natur‘ koloniale Diskurse reproduziert. Dabei kann auch auf die vertiefende Literatur zurückgegriffen werden. Lest auch unsere Analyse der Textstelle.
S. 26/27
„Organisationen, die sich für Artenvielfalt in der freien Natur einsetzen, stellen immer wieder heraus, dass auch mit deutschen Steuergeldern im Ausland Projekte finanziert werden, die neben der Vertreibung der einheimischen Bevölkerung die Abholzung von Urwäldern und die Ausrottung von Wildtieren zur Folge haben.“
Unsere Analyse:
Die Assoziation vom globalen Süden, d.h. den ehemals von europäischen Staaten kolonisierten Weltregionen, mit „Artenvielfalt in der freien Natur“ steht in kolonialer Tradition. Denn die europäischen Kolonisatoren betrachteten die von ihnen ‚entdeckten‘ Länder als idealtypische Verkörperung von Wildnis und unberührter, ‚freier Natur‘, was auch die dort lebende Bevölkerung – in den Augen der Kolonisatoren handelte es sich um in einem noch ursprünglichen Naturzustand lebende ‚Wilde‘ – mit einschloss (siehe Hall 1994). Vor diesem Hintergrund ist die Wortwahl des Autors problematisch, insbesondere da die „Vertreibung der einheimischen Bevölkerung“ mit der „Abholzung von Urwäldern“ und der „Ausrottung von Wildtieren“ auf eine Stufe gestellt wird.
Ngũgĩ wa Thiong’o (2019): Verachtung und Selbstverachtung: Wie das Wort ›Stamm‹ die Wirklichkeit afrikanischer Politik verschleiert.
Vertiefend:
Ulrike Kaiser (2004): «Naturreligionen«. Beitrag im Nachschlagewerk Afrika und die deutsche Sprache.
Zur Vorbereitung:
Überlegt, was ihr mit den Begriffen ‚Stamm’ bzw. ’Stammesgesellschaft‘ verbindet und haltet eure Gedanken in einer Mindmap fest. Lest nun den Text Verachtung und Selbstverachtung des kenianischen Schriftstellers und Kulturwissenschaftlers Ngũgĩ wa Thiong’o. Bestätigen eure Assoziationen die Grundthese des Textes? Lest auch folgenden kurzen Text, der das unserer Kritischen Begleitschrift zugrunde liegende Verständnis von kolonialer Sprache beschreibt.
Bestimmte Begriffe und Formulierungen tragen dazu bei, ein rassifiziertes Bild bestimmter sozialer Gruppen und Gesellschaften zu erzeugen und zu reproduzieren. Besondere Bedeutung haben dabei Begriffe, die in kolonialer Tradition stehen und somit kolonial-rassistische Bilder evozieren (siehe Arndt 2004).
Während der Seminarsitzung:
Besprecht zuerst die aus dem Text und euren Mindmaps gewonnen neuen Erkenntnisse. Lest nun folgenden Textausschnitt aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung. Inwiefern ist das hier gezeichnete Bild afrikanischer Gesellschaften als ‚Stammesgesellschaften‘ problematisch? Lest auch unsere Analyse des Textausschnittes.
S. 191/192
„Innerhalb dieser [verwandtschaftlichen und regional verbundenen] Gemeinschaften spielen sogenannte tribale Regeln, die ein Relikt der Stammesgesellschaft sind, eine entscheidende Rolle. Hinzu kommen religiöse Institutionen, deren Merkmale die Ahnenverehrung mit starker Betonung der Tradition sowie okkulte Elemente wie die Verehrung von Totemtieren und Pflanzenopfern [sic] sind. Auch der Glaube an Naturgötter ist in einigen Gemeinschaften stark ausgeprägt.“
Unsere Analyse:
Die Wortwahl „ein Relikt der Stammesgesellschaft“ verweist auf ein Stufenmodell der Entwicklung, in dem die als ‚vormodern‘ und ‚primitiv‘ erscheinende ‚Stammesgesellschaft‘ an unterster Stelle steht. Nach der Argumentation des Autors ist die heutige ‚afrikanische Kultur‘ (vgl. Begleitschrift Seite Target not fff.) zwar nicht mehr als ‚Stammesgesellschaft‘ organisiert, hat diese niedere Entwicklungsstufe aber noch nicht vollständig überwunden. Denn das Festhalten an ‚vormodernen‘ „tribale[n] Regeln“ verhindere den Aufstieg in eine höhere Entwicklungsstufe.
Dieses Entwicklungsmodell sowie die Bezeichnung ‚Stamm‘ für sub-saharische Gesellschaften, stehen in kolonialer Tradition. Denn der Begriff ‚Stamm‘, der als Beschreibung einer ‚Urgesellschaft‘ bzw. der Lebensform der Germanen auf die Vergangenheit Europas verweist, wurde mit der Kolonialzeit erstmals auch auf nicht-europäische Gesellschaften angewendet, um diese – in einer zeitlichen Dimension – als außerhalb der Geschichte zu fixieren (Arndt 2015, S. 669). Die Wortwahl des Lehrbuchs („Relikt“) verweist auf eben jene Dimension des Begriffs. Mit dieser Charakterisierung ignoriert der Autor die Vielfältigkeit moderner afrikanischer Gesellschaften und zeichnet stattdessen das homogenisierende Bild eines rückständigen, in Traditionen verhafteten Afrikas (siehe wa Thiong’o 2019).
Des Weiteren erläutert der Text das postulierte „Relikt der ‚Stammesgesellschaft“ anhand der Merkmale sogenannter ‚Naturreligionen‘. Dabei verweist die Wortwahl („okkulte Elemente“, „Verehrung von Totemtieren“, „Pflanzenopfer“) auf irrationale, unberechenbare sowie potenziell bedrohliche Praktiken. Die okkulten Rituale afrikanischer ‚Naturreligionen‘ erscheinen somit als Gegenstück zur abstrakten, geistigen Gottesidee des Christentums (Kaiser 2004, S. 178). Auch diese Darstellung steht in kolonialer Tradition, diente sie doch u.a. zur Rechtfertigung der christlichen Mission (ebd. S. 177). Außerdem werden die beiden in Afrika am meisten verbreiteten Religionen, Christentum und Islam, mit keinem Wort erwähnt. Sie scheinen also nicht Teil der hier konstruierten ‚afrikanischen Kultur‘ zu sein.
... zu verstehen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit universitär vermitteltem Wissen mehr beinhaltet als die Frage nach richtig oder falsch.
... dazu einzuladen, universitär vermitteltes Wissen selbst macht- und quellenkritisch zu reflektieren.
Option A: Biologischer Determinismus
... biologisch-rassistische Argumentationsmuster zu erkennen und kritisch zu hinterfragen.
Option B: Verzerrte Darstellung der Geschichte
... über ein Ausklammern oder eine positive Bewertung des (deutschen) Kolonialismus als zentralen Bestandteil rassifzierender Diskurse zu reflektieren.
Option C: Berufung auf rechts-libertäre Denkfabriken
... über den Zusammenhang von Marktradikalismus und Rechtspopulismus sowie die ideologische Ausrichtung bestimmter Denkfabriken bzw. Thinktanks zu reflektieren.
Stephen Jay Gould (1983): Der falsch vermessene Mensch, 13-24.
Vertiefend:
Jürgen Link (2013): Normalismus und die Krise der Gegenwart, S. 150-161.
Graham Richards (1997): ‘Race’, Racism and Psychology: Towards a Reflexive History.
Zur Vorbereitung:
Lest die Einleitung aus Stephan Jay Goulds Buch Der falsch vermessene Mensch.
Während der Seminarsitzung:
Besprecht den gelesenen Text in Hinblick auf folgende Fragen: Was zeichnet biologischen Determinismus aus? Welche Trugschlüsse liegen ihm zugrunde? Warum waren und sind biologistisch-rassistische Argumentationen, obwohl wissenschaftlich nicht haltbar, dennoch enorm wirkmächtig? Lest nun folgenden Textausschnitt aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung und diskutiert ihn kritisch anhand des gelesenen Textes von Stephen Jay Gould und unserer Analyse. Mithilfe der vertiefenden Literatur (Jürgen Link: Normalismus und die Krise der Gegenwart, S. 150-161) können Parallelen zu Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab gezogen werden.
S. 34
„Intelligenzquotienten haben zwar mit Bildung nur bedingt zu tun, stellen aber eine wichtige Variable bezüglich des Humankapitalpotenzials dar. Der positive, d.h. gerichtete Einfluss des IQ auf Testnoten und gesellschaftlichen Erfolg ist unbestritten. Daher sollen im Folgenden diesbezüglich einige Erkenntnisse und Daten aufgeführt werden.
Der Intelligenzquotient IQ ist eine Maßzahl, mit der versucht wird das allgemeine intellektuelle Leistungsvermögen (Intelligenz, die Leistungsfähigkeit des Gehirns) anzugeben. Mithilfe dieser Maßzahl kann die relative Stellung einer Person im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung angegeben werden. [...] Abgefragt werden u.a. grafisch-räumliche, mathematische, sprachliche Fähigkeiten und/oder die Gedächtnisleistung. Nach diesen Kriterien wurden in einem international standardisierten Testverfahren folgende durchschnittliche IQ-Werte für folgende Länder ermittelt:
Hong Kong 107, Südkorea 106 [...], Deutschland 102, Italien 102 [...] Ägypten 83, Indien 81 [...] Äthiopien 63, Guinea 59
Abbildung 2-16: Durchschnittliche IQ-Werte ausgewählter Länder im Jahr 2002
Quellen: http://www.sq.4mg.com/IQbasics.htm und http://www.sq.4mg.com/NationIQ.htm“
Unsere Analyse:
Dass der Autor im Kapitel über Bildung (vgl. Begleitschrift Seite Target not fff.) mit IQ-Werten argumentiert, ist in vielfacher Hinsicht problematisch. Dabei muss zunächst die Darstellung des IQ als „wichtige Variable bezüglich des Humankapitalpotenzials“ und die Gleichsetzung von IQ-Testergebnissen mit „allgemeine[m] intellektuelle[m] Leistungsvermögen“ sowie der „Leistungsfähigkeit des Gehirns“ hinterfragt werden.
Erstens handelt es sich beim sogenannten ‚allgemeinen Intelligenzfaktor‘ um keine physische Eigenschaft des Gehirns, durch die sich dessen Leistungsfähigkeit bestimmen ließe. Dass es einen solchen Intelligenzfaktor geben muss, ist vielmehr eine methodologische Grundannahme der Intelligenztheorie von Charles Edward Spearman. Der durch IQ-Tests gemessene Faktor g ergibt sich aus der Korrelation verschiedener (angenommener) mentaler Einzelleistungsfähigkeiten, ist also ein statistisches Konstrukt (Gould 1983, S. 276–278).
Zweitens haben neuere Forschungen ergeben, dass verschiedene Formen der menschlichen Intelligenz existieren, deren unterschiedliche Ausprägungen nicht hinreichend durch den IQ erklärt werden können (Richards 1997, S. 269).
Drittens ist die Gleichsetzung von IQ-Werten und Intelligenz im alltäglichen Sinne fragwürdig. Denn die von IQ-Tests gemessene Form der Intelligenz kann bestenfalls – in Anlehnung an das Computerspiel – als ‚Tetrisintelligenz‘ beschrieben werden (siehe Link 2013, S. 158–161). Zentrale Aspekte von ‚Alltagsintelligenz‘, wie z.B. Beziehungsfähigkeit, werden in IQ-Tests nicht berücksichtigt (Richards 1997, S. 269). IQ-Werte als Maßzahl für „gesellschaftlichen Erfolg“ zu betrachten, ist somit höchst problematisch.
Als Quelle der Tabelle ist die Website http://www.sq.4mg.com/naioniq.htm angegeben. Sie wird nicht im Quellenverzeichnis am Ende des Buches aufgeführt und existiert aktuell nicht unter der genannten Domain. Eine Internetrecherche führt jedoch zu der Seite http://social-quotient.info/sq.4mg.com/NationIQ.htm, wo als Quelle der Daten auf das Buch IQ and the Wealth of Nations von Richard Lynn und Tatu Vanhanen verwiesen wird. Dort wird argumentiert, dass sich die enormen Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen zwischen Ländern in erster Linie durch Unterschiede in der ‚nationalen Intelligenz‘ erklären lassen (Berhanu 2007, S. 11). Dem, sowie der vom Autor angeführten Tabelle „durchschnittliche[r] IQ-Werte ausgewählter Ländern“, liegt jedoch ein grundlegender Kategorienfehler zugrunde. So kann der IQ niemals dazu herangezogen werden die Leistung einer Gruppe zu messen, in derselben Weise, wie eine Gruppe (von Staatsbürger*innen) z.B. ein bestimmtes Nationaleinkommen erwirtschaftet. Das betont auch der Psychologe Graham Richards:
„Gruppen an sich haben keine Intelligenz, nur Individuen. Gruppen [...] absolvieren keine IQ-Tests. Individuen absolvieren sie – an bestimmten Tagen, in bestimmten Stimmungslagen, in bestimmten Gesundheitszuständen und durchgeführt von bestimmten Menschen an bestimmten Orten. Der Begriff ‚Gruppenleistung‘ bezieht sich korrekterweise auf die kollektive Leistung einer Gruppe, die [als Team] an einem einzigen Projekt zusammenarbeitet [...]. Aber IQ-Tests werden nicht von solchen Teams absolviert. (Noch [...] wird die Fähigkeit erfolgreich in einem solchen [Team] zu arbeiten von IQ-Tests gemessen [...].)“ (Rirchards 1997, S. 273, eigene Übersetzung) Demnach ist ein Länderranking nach IQ-Werten unsinnig.
Betrachtet man die Methodik, nach der die vom Autor zitierten IQ-Daten erhoben wurden, dürfte klar werden, dass es sich hier um pseudowissenschaftliche Behauptungen handelt. Denn von „einem international standardisierten Testverfahren“ kann keine Rede sein. So wurden überhaupt für nur 61 von 181 Ländern Daten erhoben. Die Werte der restlichen 120 (!) Länder beruhen auf Schätzungen basierend auf „der rassischen [racial]/ethnischen Zusammensetzung [des jeweiligen Landes] und den IQ-Werten der Nachbarstaaten“ (ebd. S. 12, eigene Übersetzung). Bezüglich der erhobenen Daten berufen sich die Autoren auf diverse Studien, die in verschiedenen Jahrzehnten durchgeführt wurden und teilweise bis zu 70 Jahre (!) zurückliegen. In einigen Fällen wurde von einer Testgruppe von nur 50 Menschen (oft bestehend aus Kindern) auf den durchschnittlichen ‚nationalen IQ‘ geschlossen (ebd. S. 12–13).
Noch problematischer als diese methodischen Bedenken ist jedoch, dass den IQ-Studien Richard Lynns eine offen rassistische Ideologie zugrunde liegt. Richard Lynn ist einer der prominentesten heutigen Vertreter eines ‚wissenschaftlichen‘ Rassismus und der Eugenik sowie seit 2012 Vorsitzender des rechtsextremen und rassistischen Pioneer Fund (Southern Poverty Law Center, SPLC o.D.b; vgl. Link 2013). Diese Organisation wurde 1937 gegründet, um die US-amerikanische Eugenikbewegung durch wissenschaftliche Studien zu ‚Rasse‘ und Intelligenz zu unterstützen (Southern Poverty Law Center, SPLC o.D.a; vgl. Tucker 2007). Die Arbeiten Richard Lynns lassen sich in der Kontroverse um ‚Rasse‘ und IQ in der Psychologie verorten, die sich, wie Graham Richard (1997, S. 263) analysiert, von herkömmlichen wissenschaftlichen Kontroversen unterscheidet. Denn ginge es um die Frage, welche Position in Bezug auf ‚rassische‘ Unterschiede in der Intelligenz nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten als korrekt oder tragfähig anzusehen ist, wäre diese spätestens in den 1980er Jahren beendet gewesen. Es bleiben daher nur zwei Möglichkeiten die Aufrechterhaltung dieser Kontroverse durch Wissenschaftler wie Richard Lynn zu erklären:
„(a) [... Diese Wissenschaftler] sind naive Dummköpfe, unempfänglich für Kritik, die weder die logische Inkohärenz ihrer Position, noch den moralischen Charakter ihrer [rechtsradikalen und rassistischen] Geldgeber erkennen können [... oder] (b) Menschen mit der tiefen Überzeugung, dass die Welt als Arena schonungsloser ‚Rassen‘-Kämpfe betrachtet werden muss und deshalb all ihre Bemühungen dem Erhalt und den Interessen einer Weißen, bevorzugt nordischen, ‚Rasse‘ unterzuordnen sind, wobei die Selbstidentifikation mit dieser ‚Rasse‘ einen ausgesprochen zentralen Aspekt ihrer persönlichen Identität darstellt. Nur [Möglichkeit] (b) gibt dem Verhalten [dieser Wissenschaftler] einen Anschein echter Integrität, für wie verblendet und falsch wir ihre Überzeugungen auch halten mögen.“ (Ebd. S. 279, eigene Übersetzung)
Mark Terkessidis (2019): Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, 19-43.
Vertiefend:
Gurminder K. Bhambra (2007): Rethinking Modernity: Postcolonialism and the Sociological Imagination, 5-33.
Weiterführend:
Zum transatlantischen Versklavungshandel siehe:
Nadja Ofuatey-Alazard (2015): Die europäische Versklavung afrikanischer Menschen.
Zur Geschichte antikolonialer Befreiungskämpfe siehe:
Karim Miské (2020): Entkolonisieren. Dreiteilige Arte-Dokumentation.
Zur Vorbereitung:
Überlegt, was ihr über Deutschlands Vergangenheit als Kolonialmacht wisst und macht euch Notizen, z.B. in Form einer Mindmap. Lest dann den angegebenen Textausschnitt aus Mark Terkessides Buch Wessen Erinnerung zählt?. Hat sich euer Geschichtsbild bezüglich der deutschen Kolonialvergangenheit geändert?
Während der Seminarsitzung:
Lest und diskutiert folgenden Textausschnitt aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung unter Bezugnahme auf den gelesenen Text von Mark Terkessidis. Wie wird die vorkoloniale Geschichte Afrikas gegenüber der Europas beschrieben? Wie wird der Kolonialismus bewertet? Welches Fazit wird aus dieser historischen Betrachtung gezogen? Überlegt dann, inwiefern diese Darstellung der Geschichte Afrikas und des Kolonialismus rassifizierende Diskurse reproduziert. Was wird verzerrt dargestellt? Was wird weggelassen? Lest auch unsere Analyse der Textstelle.
S. 192/193
„Damals [vor der Kolonialzeit] war Afrika gekennzeichnet durch eine ungeheure Vielfalt verschiedener Ordnungs- und Regelformen. [...] So gab es auf der einen Seite die autoritäre bis despotische Herrschaftsform und auf der anderen Seite konsensorientierte, kollegiale, im Kern demokratisch strukturierte Gemeinschaften. Die Unterschiedlichkeit der Traditionen, Sitten und Religionen erschwerten [sic] zusammen mit der mangelnden Schriftkenntnis die Herausbildung eines formalen übergreifenden allgemeinen Rechts. So entstanden keine Staaten wie in Europa und auch die Arbeitsteilung schritt kaum voran. Der wirtschaftliche Fortschritt war gering. [...]
Wie auch immer die [vorkolonialen] Organisationsformen aussahen, sie beruhten entweder auf verwandtschaftlichen Beziehungen, streng hierarchischen Günstlingsstrukturen oder auf Mischformen. Die vorherrschenden informellen Regeln beider Strukturen waren jedenfalls wenig förderlich für zunehmende Arbeitsteilung und wirtschaftlichen Fortschritt.
Durch die Kolonialisierung trat eine gewaltige Zäsur ein. Mit der Kongokonferenz, die vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 auf Einladung von Reichskanzler Bismarck in Berlin stattfand, wurde die Grundlage für die Aufteilung Afrikas in Kolonien geschaffen. Innerhalb weniger Jahre war Afrika südlich der Sahara aufgeteilt [...]. Der größte Teil der Sahara wurde französisch, der Sudan nach der Niederschlagung des Mahdi-Aufstandes und der Beilegung der Faschodakrise britisch-ägyptisches Kondominium. Die Burenstaaten [...] wurden im Burenkrieg 1899-1902 von Großbritannien erobert. Marokko teilten sich Frankreich und Spanien ab 1911, Libyen wurde 1912 von Italien erobert. Die offizielle Annexion Ägyptens 1914 schloss die koloniale Aufteilung Afrikas ab. Mit Ausnahme von Liberia und Äthiopien stand damit ganz Afrika unter europäischer Herrschaft!
Die Grenzziehung nahm auf ethnische Gruppierungen keine Rücksicht, sie erfolgte so gesehen willkürlich nach den Besitzständen der Kolonialmächte. Die neuen Staaten können somit als Kunstgebilde angesehen werden, die i.d.R. nicht (und wenn, dann rein zufällig) mit gewachsenen politischen und kulturellen Gemeinschaften übereinstimm(t)en. [...] Aufgrund dieser Heterogenität [...] war es nicht möglich, die Rechtsordnung der Kolonialmächte erfolgreich auf die verschiedenen Staaten zu übertragen. Die Ordnungen konnten schlicht und einfach nicht ‚gelebt‘ werden. [...]
Als Folge der immer noch vorherrschenden Tribalisierung
- werden Staat und Verwaltung sowie das Militär nicht als überparteiliche, über den heterogenen Gemeinschaften stehende Instanzen aufgefasst [...];
- existiert keine strikte Trennung von Amt und Person [...];
- werden die vorhandenen Netzwerke nach wie vor streng vertikal strukturiert und sind auf Verteilungskämpfe gegen andere Gemeinschaften ausgerichtet [...];
- bringt der politische Wettbewerb keine Parteien hervor, die übergreifende Ordnungsideen entwickeln[...].“
Unsere Analyse:
Hier nimmt der Autor eine historische Kontextualisierung vor, in der erstmals auf die europäisch-afrikanische Kolonialvergangenheit Bezug genommen wird. Der Autor beginnt mit einer Darstellung des vorkolonialen Afrikas, die in sich widersprüchlich erscheint. Denn einerseits betont er die Heterogenität und Vielfalt vorkolonialer Institutionen (es existierten sogar „konsensorientierte, kollegiale, im Kern demokratisch strukturierte Gemeinschaften“), charakterisiert diese dann aber verallgemeinernd als „wenig förderlich für zunehmende Arbeitsteilung und wirtschaftlichen Fortschritt“.
reduziert diese dann aber auf „verwandtschaftliche[] Beziehungen, streng hierarchische[] Günstlingsstrukturen oder auf Mischformen“. Aufgrund dieser Heterogenität und Ethnisierung sei es – im Gegensatz zu Europa – zu keinem kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritt gekommen. Die Kolonialzeit wird schließlich als „gewaltige Zäsur“ beschrieben, wobei der Versuch der Kolonialmächte ihre jeweilige europäische Rechtsordnung in den Kolonien zu etablieren, gescheitert sei. Konsequenz sei eine „immer noch vorherrschende Tribalisierung“ im heutigen Afrika sowie eine daraus folgende dysfunktionale Staatlichkeit.
Diese Darstellung der Geschichte Afrikas ist in vielerlei Hinsicht problematisch.
Zunächst werden die Gesellschaften des vorkolonialen Afrikas auf „verwandtschaftliche[] Beziehungen, streng hierarchische[] Günstlingsstrukturen oder Mischformen“ reduziert. Im Gegensatz dazu werden die europäischen Nationalstaaten durch „Schriftkenntnis“, „die Herausbildung eines formalen übergreifenden allgemeinen Rechts“ sowie „zunehmende Arbeitsteilung und wirtschaftlichen Fortschritt und „wirtschaftlichen Fortschritt“ charakterisiert. Der Autor scheint (zumindest implizit) davon auszugehen, dass hier eine gewisse kollektive europäische ‚abendländische Kultur‘ oder Tradition existierte (bzw. noch immer existiert), die zu Rechtsstaatlichkeit, Arbeitsteilung und Fortschritt führte. Im vorkolonialen Afrika habe es demgegenüber keine solche Tradition gegeben, weshalb sich keine fortschrittlichen Institutionen entwickeln konnten. Außerdem scheint der Autor davon auszugehen, dass die europäischen Nationalstaaten aufgrund einer gewissen kulturellen Homogenität verschiedener Nationen bzw. Völker entstanden. Hier wird ein europäischer Exzeptionalismus vertreten, der historisch gesehen nicht haltbar ist (siehe Bhambra 2007; vgl. Wallerstein 2019). Zudem beruht die Gegenüberstellung von europäischen Nationalstaaten und afrikanischen ‚Stammesgesellschaften‘ auf der kolonialen Dichotomie ‚zivilisiert‘ vs. ‚wild‘ (siehe Popal 2015).
Des Weiteren entsteht der Eindruck, Sub-Sahara Afrika sei erst ab der Berlinkonferenz 1884 nennenswert mit der ‚Außenwelt‘ in Kontakt und damit in die Geschichte eingetreten. Dabei existierten bereits in der ägyptischen, griechischen sowie römischen Antike intensive Beziehungen zwischen Europa, Nordafrika und Sub-Sahara Afrika (siehe King 2018). Bereits im 4. Jahrhundert verbreitete sich das Christentum im heutigen Äthiopien und ab dem 7. Jahrhundert der Islam in Nordafrika, der Sahelregion sowie Westafrika und an den Küsten Ostafrikas (siehe Parker & Rathbone 2007, S. 72–77). Ende des 15. Jahrhunderts markierte die Gründung erster europäischer Handelsstützpunkte südlich der Sahara, den Beginn des sogenannten Handelskolonialismus und der über vierhundert Jahre andauernden Versklavung und Deportation afrikanischer Männer, Frauen und Kinder. Diese Katastrophe, der mehr als 12 Millionen Menschen zum Opfer fielen, trug maßgeblich zum wirtschaftlichen Fortschritt in Europa bei und stellte damit „die Weichen für von globalen Machtasymmetrien getragene Entwicklungsprozesse afrikanischer Gesellschaften“ (Ofuatey-Alazard 2015, S. 112–113).
Ohne auch nur einen dieser Faktoren zu berücksichtigen, wird der Beginn des europäischen Kolonialismus auf die Berliner Afrikakonferenz im Jahr 1884 datiert. Mit den Formulierungen „gewaltige Zäsur“ und „Innerhalb weniger Jahre war Afrika südlich der Sahara aufgeteilt [...].“ wird die lange Geschichte europäischer Expansion und kolonialer Aneignung vor 1884, die untrennbar mit der westlichen Moderne und der ‚Unterentwicklung Afrikas‘ (vgl. Rodney 1972) verbunden ist, nicht nur nicht thematisiert, sondern gar geleugnet. Ebenfalls nicht erwähnt werden die Kolonialmächte Deutschland, Belgien, Portugal und die Niederlande; insbesondere das deutsche Kaiserreich scheint somit – außer als Ausrichter der Berliner Konferenz 1884 – keine nennenswerte Rolle zu spielen (zum deutschen Kolonialismus siehe Terkessidis 2019). Genauso wenig werden Verbrechen an der einheimischen Bevölkerung in den Kolonien sowie anti-kolonialer Widerstand thematisiert (siehe hierfür Miské 2020). Generell bewertet der Autor Kolonialismus nicht als Unrecht, sondern rückt dessen zivilisierende Mission – dargestellt als das Brechen tribaler Regelstrukturen durch die Etablierung fortschrittlicher, europäischer Institutionen – in ein positives Licht.
Letztendlich wird deutlich, dass es bei dieser historischen Kontextualisierung um keine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte Afrikas und dem Kolonialismus geht. Vielmehr dient sie dazu, das homogenisierende Bild einer ‚rückständigen‘ Politik bzw. Staatlichkeit im heutigen Afrika durch den Verweis auf „die noch immer vorherrschende Tribalisierung“ zu rechtfertigen. Denn auch in Bezug auf jüngere politische Entwicklungen findet keine ernsthafte Auseinandersetzung mit Politik und Staatlichkeit in Sub-Sahara Afrika statt: Unabhängigkeitskämpfe und frühe Politiken des nation-building, die anhaltende politische Einflussnahme der ehemaligen Kolonialmächte nach der formellen Unabhängigkeit (bis hin zur aktiven Unterstützung von Diktatoren, wie z.B. in der Demokratischen Republik Kongo), Stellvertreterkriege im Kontext des Kalten Krieges sowie positive politische Entwicklungen in Bezug auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (siehe Cooper 2002) – all diese Aspekte werden außer Acht gelassen. Stattdessen wird Afrikaner*innen – unter der Berufung auf eine aus der Geschichte folgende ‚Tribalisierung‘ – jedwede Fähigkeit abgesprochen, überhaupt fortschrittliche Politik betreiben zu können.
Walter O. Ötsch und Stephan Pühringer (2017): Right-wing populism and market-fundamentalism: Two mutually reinforcing threats to democracy in the 21st century.
Vertiefend:
Richard Meagher (2012): The “Vast Right-Wing Conspiracy”: Media and Conservative Networks.
Zur Vorbereitung:
Lest den angegebenen Artikel von Walter Ötsch und Stephan Pühringer über den Zusammenhang zwischen Marktfundamentalismus und Rechtspopulismus. Informiert euch in einer Internetrecherche über die US-amerikanische Heritage Foundation und das kanadische Fraser Institute sowie zu den Verbindungen der deutschen Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft zur AfD.
Während der Seminarsitzung:
Besprecht den vorbereiteten Text gemeinsam, um ein Grundverständnis der hier vorgebrachten Thesen zu erlangen, und klärt zentrale Begriffe wie z.B. ‚Marktfundamentalismus‘. Inwiefern findet ihr die Argumentation des Textes, auch in Hinblick auf aktuelle politische Entwicklungen, überzeugend? Lest nun folgende Textausschnitte aus dem Lehrbuch Ökonomik der Entwicklung sowie unserer Analyse. Zurückblickend auf die bisherigen Seminareinheiten: Warum sind die genannten Organisationen bezüglich der politischen und gestalterischen Verantwortung von Wissenschaft (Einheit 1) sowie bezüglich Prozessen der Rassifizierung als problematisch und keinesfalls als neutrale Quellen zu bewerten?
S. 199
„Abbildung 4-4: Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichtsbarkeit in Sub-Sahara Afrika
Quelle: Fraser Institute (www.freetheworld.org).“
S. 206
„Im Folgenden werden nur die beiden Variablen ‚Abwesenheit willkürlicher Interventionen‘ und ‚Regelsetzung zur Etablierung bzw. Verbesserung der Wettbewerbsprozesse‘ [...] dargestellt [....]. Die (jährlichen) Werte für die einzelnen Indikatoren können für die Jahre 1995 bis 2006 der Internetseite der Heritage Foundation entnommen werden.“
S. 249
„Literaturvorschläge
[...] Einen Eindruck über den institutionellen Status Quo [der Entwicklungsländer] erhält man am besten, wenn man die unter den jeweiligen Abbildungen angegebenen Internetseiten (der Heritage Foundation, des Fraser Institute, von Transparency International, von Witold Henisz u.a.) besucht.“
Unsere Analyse:
Hier werden die Heritage Foundation und das Fraser Institute als scheinbar neutrale Quellen dargestellt. Dabei handelt es sich jedoch bei diesen Einrichtungen um libertär-neokonservative Denkfabriken, die klar eine rechte politische Agenda verfolgen. So gilt die Heritage Foundation als einer der politisch einflussreichsten konservativen Denkfabriken und Wegbereiter der neokonservativen Bewegung seit der Präsidentschaft Ronald Reagens in den 1980er Jahren (Center for Media and Democracy, CMD 2019; vgl. Meagher 2012). Das ähnlich einflussreiche kanadische Fraser Institute, das u.a. von der Tabakindustrie und dem US-Energiekonzern Exxon-Mobil finanziert wurde, relativiert wissenschaftliche Erkenntnisse über den menschengemachten Klimawandel. (DESMOG: Clearing the PR Pollution that Clouds Climate Science o.D.). Dass der Autor die Websites dieser beiden Denkfabriken Studierenden ohne Einordnung zur weiteren Recherche empfiehlt, erscheint vor diesem Hintergrund fragwürdig.
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