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„Der postmoderne Kapitalismus ist ein kalter und düsterer Ort, an dem persönliche Güte und die Fürsorge für andere einem zum Verlierer machen. [Der postmoderne Kapitalismus] ist eine großangelegte Zerstörung des Sozialen“, so urteilt César Rendueles über die aktuelle Spielart des finanzialisierten Kapitalismus. Mit diesem Einstieg in die literarische Reise durch die Geschichte der freien Marktwirtschaft, geschrieben von César Rendueles und erstmals auf Spanisch erschienen im Jahr 2015, haben wir das Pferd von hinten aufgezäumt. In den fünf vorausgehenden Kapiteln widmet sich Rendueles der historischen Entwicklung der Marktwirtschaft. So fragt er nach den Ursprüngen des wettbewerbsorientierten Marktes (Kapitel 1) im Allgemeinen, sowie nach den Anfängen des Arbeitsmarktes und seinen Bedingungen im Speziellen (Kapitel 2). Im dritten Kapitel untersucht Rendueles den Kampf gegen das Unrecht, erst auf individueller Ebene anhand von strahlenden Rebellenfiguren und anschließend, mit Blick auf die proletarischen Kämpfe des 19 Jahrhunderts, auf gesellschaftlicher Ebene. In Kapitel vier nimmt er die Fließbandarbeit als ein wesentliches Merkmal moderner Lohnarbeit unter die Lupe und stellt diese in die Tradition der frühneuzeitlichen Sklaverei. Und unweigerlich gelangt auch Rendueles über das lange 19. Jahrhundert zu der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der „der Markt sein verborgenes Gesicht zeigte“ (Rendueles, 185). Nach dem Sieg der Alliierten wirft er noch kurz einen abschätzigen Blick auf die Konsumgesellschaf, der ihn schließlich zu diesem uns schon bekannten „kalten und düsterem Ort“ führt, dem postmodernen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts. Und wie geht es weiter? Welche Türen stehen uns als BürgerInnen, als KünstlerInnen oder als PolitikerInnen offen, um diesen sozial kalten Ort zu verlassen? Und müssen wir alleine durch sie treten oder gibt es einen gesellschaftlichen Ausweg? Mit diesen Fragen entlässt uns Rendueles nach einer 300 seitigen Reise durch die Literatur und Wirtschaftsgeschichte.
„Der postmoderne Kapitalismus ist ein kalter und düsterer Ort, an dem persönliche Güte und die Fürsorge für andere einem zum Verlierer machen. [Der postmoderne Kapitalismus] ist eine großangelegte Zerstörung des Sozialen.“ Um seine Kritik an der jüngsten Spielart des Kapitalismus zu veranschaulichen, verweist Cesare Rendueles auf Neil Yaniky, den Teilnehmer eines Selbsthilfeseminars – durch den Coach motiviert, alle Beziehungen, die seinem persönlichen Erfolg im Wege stehen, aufzukündigen. Während der Vorsatz Yanikys, seine Schwester aus der Wohnung zu schmeißen, in mir Verachtung gegenüber der Selbstliebementalität unserer Tage auslöst, beschleicht mich eine kalte und düstere Ahnung. Die Ahnung, dass Yaniky, Teil des von George Saunders im Jahre 2000 kuratierten literarischen Figurenkabinetts Pastoralia keine Figur aus der sicheren Welt der Literatur ist, sondern eine Schüler*in von mir, der ich geraten habe, sich von ihrer Fürsorge gegenüber ihrer Mutter zu lösen und ihr eigenes Glück zu verfolgen. Anett hatte gerade ihr Abitur an einer städtischen Gesamtschule mit mittlerem Erfolg abgeschlossen und die Entscheidung getroffen, ihren Studienwunsch aufzugeben, um bei ihrer Mutter in der familiären Wohnung leben bleiben zu können. Damit wollte sie ihrer Mutter vor dem Umzug in eine kleinere, bedarfsgerechtere Wohnung bewahren, den das Jobcenter zur Bedingung der weiteren Zahlung des Arbeitslosengeld II machte. Der postmoderne Kapitalismus ist die großangelegte Zerstörung des Sozialen, die in Deutschland 2005 im Sozialgesetzbuch 2 von einer Koalition aus Grünen und SPD institutionalisiert wurde. Und indem ich auf meine eigene unheilvolle Rolle blickte, wurde mir klar, dass die Finsternis droht, uns zu verschlucken. Fünfzehn Jahre nach Verabschiedung der Agenda Zwanzig Zehn riet ich einer mir Schutzbefohlenen, ihre Mutter, die Verliererin, aufzugeben, ja möglichst weit weg von ihr zu ziehen, um sich aus dem Stigma der Sozialversagerin zu befreien. Von befreundeten Lehrkräften bekam ich einige Tage später viel bierselige Anerkennung für meine pädagogische Weitsicht. Die Leugnung des Sozialen war für uns alle Normalität! Im Verlaufe des gleichen Abends hörte ich, wie die Gastgeberin, eine erfolgreiche Verwaltungsrechtlerin, einem befreundeten Pärchen dringend dazu riet, auseinanderzuziehen – um sich aus ihrer Bedarfsgemeinschaft zu befreien. Das Bafög, das er für seine Studienfinanzierung bekam, wurde nämlich auf ihr Arbeitslosengeld II angerechnet – also von diesem abgezogen. Das Unsoziale war für uns alle Rationalität! Am darauffolgenden Sonntag saß ich im ICE und las die literarische Geschichte des Kapitalismus zu Ende, erzählt, geschildert und analysiert von César Rendueles –und trotz defekter Klimaanlage fand ich mich an einem dunklen, kalten Ort wieder.
Kanaillenkapitalismus - eine literarische Reise durch die Geschichte der freien Marktwirtschaft. Erzählt uns Rendueles in diesem Buch eine Geschichte? Und wenn ja – eine Geschichte wovon? Oder nimmt er uns mit auf eine Reise? Und wenn ja – eine Reise wohin? So vieldeutig der Titel auf den ersten Blick scheinen mag, ist er bei näherer Betrachtung sehr präzise. Rendueles erzählt (s)eine Geschichte der freien Marktwirtschaft und arbeitet sich dabei – chronologisch ja, aber nicht generisch - vom ausgehenden Mittelalter in das 21 Jh. vor. Er erzählt keine Literaturgeschichte, auch wenn man den Versuch erahnen kann, die unterschiedlichen Entwicklungsstufen des Kapitalismus anhand von zeitgenössischer Literatur zu veranschaulichen. Stattdessen bedient Rendueles sich der Literatur als einem Steinbruch, indem er, seine ökonomischen Überlegungen untermauernd, epochen- und genreungebunden, literarische Texte aus ihrem Kontext reißt. Und welche Rolle kommt dem Autor auf dieser Reise zu? Ist er deutender Historiker mit dem Schwerpunkt auf Wirtschaftsgeschichte oder Literaturwissenschaftler? Ist er überhaupt Wissenschaftler – oder doch eher Kritiker? Ist er Romantiker? Realist? Utopist? Marxist? Zapatist? – Rendueles versucht, all dies zu vereinen. – Und erst, nachdem man sich als LeserIn damit abgefunden hat, dass dieses Unterfangen zum Scheitern verurteilt ist, kann man beginnen, die Reise zu genießen, sich den Assoziationen hinzugeben, ihnen zu widersprechen, sich in ihnen zu verlieren, zurückzublättern und Rendueles – als einen sehr intimen Reiseführe, der freigiebig von seiner eigenen politischen Sozialisierung und seinem beruflichen Glück erzählt, sympathisch zu finden.
In der neugefundenen Gelassenheit beginnt man, die Aussagen Rendueles nach Herzenslust in Frage zu stellen. Und während man noch bezweifelt, dass der gewinnorientierte Markt (nur) auf Kanaillen zurückzuführen ist, die keinen Platz in der mittelalterlichen Subsistenzwirtschaft fanden, oder während das eigene historische Wissen gegen die Verklärung der vormodernen Gemeinschaften als „Gesellschaften, die „Mechanismen zur Begrenzung des sozialen Gefälles“ kannten“ (Rendueles S. 27) rebelliert, vergisst man, selbst auch nicht Wirtschaftsgeschichte studiert zu haben. Es bleibt das Bedürfnis, zu zahlreichen Einzelthesen ein kritisches Essay zu schreiben. Es juckt einem in den Fingern, darauf hinzuweisen, dass die Geschichte von Kohlhaas sich nicht dazu eignet, den individuellen Kampf gegen kapitalistisches Unrecht zu verdeutlichen und alles in einem möchte Rendueles anschreien: „Lies Harari!“ „Erkenne, dass funktionierende Handelsbeziehungen zur Befriedung beitragen. Löse dich von dem marxistischen Bedauern über die positiven Aspekte der kapitalistischen Gesellschaft. Verschließe deine Augen nicht davor, dass der Rechtsstaat keinen Triumph über die unrechte Marktwirtschaft darstellt, sondern (auf Seiten des Kapitals) als seine Bedingung gedeutet werden kann.“
Und nachdem man sich von dem Kritiker Rendueles in die Gegenwart hat führen lassen, deren Arbeitsverhältnisse einem selbst so unanständig nah sind, ja - um in seinem Duktus zu bleiben – die unseren Intimbereich vermessen haben, fühlt man sich an einem düsteren und kalten Ort angekommen. Und jetzt? Der erzählerische Zauber Rendueles‘, die magische Wirkung der jeweiligen Gegenwartsliteratur, wird jäh gebrochen. Und die leise nagenden Zweifel, bisher gebannt durch die verführerische Stimme des Autors, brechen sich im siebten Kapitel Bahn: Nach 250 Seiten der Kritik kann die Antwort auf die Arbeitsverhältnisse doch unmöglich in der Verheißung der Religion liegen.... SERIOUSLY? ... habe ich mir so gedacht.