Social Reproduction Theory: Ein neuer Ansatz der feministischen Ökonomik?

Irina Herb und Sarah Uhlmann
Exploring Economics, 2024
Niveau: débutant
Perspectives: Économie féministe, Économie politique marxiste
Sujet: Critique du capitalisme, Histoire économique, Inégalité & classe, Travail & soins, Relations Nord-Sud & développement, Race & Gender, Réflexion sur l'économie, Mouvements sociaux & transformation
Format: Texte de base

Es gibt viele Bewegungen, die sich für queer-feministische Forderungen und gegen weitere Unterdrückungsformen wie Rassismus einsetzen. Dabei fehlt es oftmals an einem Verständnis davon, wie Diskriminierungen im Kapitalismus verankert sind. Ohne ein solches Verständnis können wir die strukturellen Ursachen der Unterdrückung aber nicht bekämpfen und laufen Gefahr sogar weiteres Leid zu produzieren. So wurde zum Beispiel sogenannten ‚weißen Feminist*innen‘ zurecht vorgeworfen, dass sie durch den Fokus darauf, Frauen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, Hausarbeit lediglich an andere – wie zum Beispiel Migrant*innen – auslagerten statt das Problem der unbezahlten, prekären Hausarbeit für alle zu lösen.

Vor diesem Hintergrund wollen wir in diesem Beitrag die „Social Reproduction Theory“ (SRT) vorstellen, die uns dabei helfen kann, die Verwobenheit von Produktionsverhältnissen und Unterdrückungsmechanismen im Kapitalismus zu analysieren und zu verstehen. Die SRT ist eine neue Strömung innerhalb der politischen Ökonomie, die in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Aufbauend auf einem Buch von Lise Vogel von 1983 (deren Punkte sie teilweise in dem Text Domestic Labor Revisited von 2000 überarbeitete) entwickelte sich ab den 2010ern um US-Amerikanische Marxist*innen wie Tithi Bhattacharya, Sue Ferguson, Aaron Jaffe und viele weitere die s.g. Social Reproduction Theory (SRT). Eine besonders einschlägige Publikation war dabei der von Bhattacharya 2017 veröffentlichte Sammelband Social Reproduction Theory: Remapping Class, Recentering Oppression.

Die SRT, die nun langsam auch in Deutschland ankommt, steht in der Tradition des marxistischen Feminismus. Seit jeher gab es kritische Interventionen innerhalb des und in den Marxismus, die das Patriarchat, die Rolle von Frauen und/oder unbezahlter ‚Hausarbeit‘ thematisierten und sich über unterschiedliche Kontexte hinweg in verschiedene Strömungen ausdifferenzierten. In jüngerer Zeit entstanden beispielsweise die s.g. Zwei-System-Ansätze, die davon ausgehen, dass Kapitalismus und Patriarchat zwar ineinandergreifen, aber als getrennte Herrschaftssysteme verstanden werden sollten. In Abgrenzung dazu existieren Ansätze, die im Sinne einer einheitlichen Theorie davon ausgehen, dass der Kapitalismus in seiner Existenz und Funktionsweise maßgeblich mit der geschlechtlichen Arbeitsteilung verknüpft ist.

In Deutschland entwickelten sich etwa die subsistenztheoretischen Ansätze um die „Bielefelder*innen“ Maria Mies, Claudia von Werlhof, Veronika Bennholdt-Thomsen, die schon früh auf den Zusammenhang der Ausbeutung von unbezahlter Sorgearbeit, der Ausbeutung der Kolonien und der Natur verwiesen. Darüber hinaus sind in Deutschland auch die durch den Postoperaismus inspirierten Ansätze sehr populär. Vertreter*innen dieser Strömung sind unter anderem Silvia Federici und Mariarosa Dalla Costa, die hierzulande viel rezipiert werden. Auch sie beschäftigen sich mit der Frage, wie die ökonomische Produktion im Kapitalismus mit der Reproduktion der Menschen verknüpft ist.

Die SRT unterscheidet sich von diesen anderen Strömungen insbesondere darin, dass sie sich in der Beantwortung dieser Frage vornehmlich am Marx’schen Kapital und der Werttheorie orientiert und dementsprechend ein strukturelles Argument macht. Auch wenn dieser Zugriff auf den ersten Blick wie eine theoretische Spitzfindigkeit erscheinen mag, möchten wir im folgenden Beitrag erläutern, warum die Argumentation der SRT für eine gesellschaftskritische Analyse erhellend ist. Dafür wenden wir uns in den ersten drei Abschnitten den Basics zu, und damit der Frage, was wir unter ‚sozialer Reproduktion‘ verstehen (1), wie sich ‚Tätigkeiten am Menschen‘ von anderen Tätigkeiten unterscheiden (2) und mit welchen Konsequenzen dies für die kapitalistische Mehrwertproduktion einhergeht (3). Durch diesen Zugriff kann die SRT nicht nur die unterlegene Position von Frauen im Kapitalismus erklären, sondern vermag darüber hinaus auch eine ganzheitliche Theorie zu entwerfen, die die grundlegende Verwobenheit von Sexismus, Rassismus und anderen Unterdrückungsverhältnissen mit der kapitalistischen Produktionsweise begründen kann: Sobald wir die abhängige und gleichzeitig widersprüchliche Beziehung von Produktion und Reproduktion in den Mittelpunkt unserer Analyse stellen (4), erhalten wir neue Analysemöglichkeiten mit Blick auf Enteignung und Ausbeutung (5 & 6), der Kommerzialisierung von sozialer Reproduktion (7) sowie/und der Verwobenheit von Ausbeutung und Unterdrückung (8). Wie wir am Ende des Textes sehen werden, erweitert diese Perspektive der SRT auch unser Verständnis von sozialen Kämpfen und Klassenauseinandersetzungen (9), was angesichts aktueller gesellschaftlicher Konflikte von Vorteil sein kann (10).

1. Marx & Engels feministisch ergänzen: „Soziale Reproduktion“ mitdenken

Die Marxistische Analyse beschäftigt sich eingehend mit der Produktion von Waren denn dabei, so zeigen Marx und Engels, werden Arbeiter*innen ausgebeutet und Mehrwert geschaffen. In der Mehrwerttheorie legen Marx und Engels – einfach gesagt – dar, dass im Kapitalismus Arbeiter*innen angehalten sind, mehr Wert zu schaffen als sie zu ihrer eigenen Erhaltung benötigen: Nehmen wir an eine Arbeiter*in braucht am Tag 50 Euro, um die Miete zu bezahlen, Essen zu kaufen, Hobbies nachzugehen, Kinder zu ernähren und Gesundheitsversorgung sicher zu stellen. Wenn das Material und die Produktionsmittel pro Hose 5 Euro kosten, könnte die Arbeiter*in eigentlich nachhause gehen, wenn sie 5 Hosen geschneidert hat, die für 15 Euro verkauft werden. Wenn sie pro Hose 1 Stunde braucht, könnte sie nach 5 Stunden Feierabend machen. Sie wird aber von dem Besitzer der Schneiderei angehalten, 7 Hosen zu schneidern, also zwei extra Stunden zu bleiben und der Besitzer behält die 20 Euro für die zwei extra Hosen ein. Die Kapitalist*innen eignen sich also Mehrwert an – ein Mechanismus, der als „Ausbeutung“ bezeichnet wird, weil die Arbeiter*innen gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Schließlich besitzen sie weder eigene Produktionsmittel noch Land.

Aus Sicht von Kapitalist*innen sind manche Arbeitsverhältnisse also so strukturiert, dass Mehrwert generiert wird, der angeeignet werden kann (sogenannte „produktive Arbeit“). Hier werden Arbeiter*innen also ausgebeutet, weil sie mehr arbeiten, als sie mit nachhause nehmen. Manche Arbeiten werden aber auch außerhalb solcher ausbeuterischen Verhältnisse vollbracht, z.B. wenn Menschen als Hobby oder aus Not selbst Hosen für sich und ihre Angehörigen schneidern (sogenannte „unproduktive Arbeit“). Die gleiche Arbeit kann also mehrwertgenerierend und nicht-mehrwertgenerierend strukturiert sein. Dieser Punkt ist, wie wir sehen werden, für die SRT von zentraler Bedeutung.

Nachdem Marx und Engels ausgiebig die Produktion von mehrwertgenerierender Arbeit beleuchtet hatten, blieb eine Leerstelle. Wie Feminist*innen seit Jahren betonen, fielen Arbeiten, die keinen Mehrwert generieren, aus dem Blickfeld der Analyse. Hiermit sind vor allem die meist von Frauen ausgeübten Haus- und Sorgearbeiten in der Familie gemeint. Tithi Bhattacharya, eine der Gründer*innen der SRT, fragte treffend: Wenn die Arbeiter*innen Waren (und Wert) produzieren, wer „produziert“ dann die Arbeiter*innen? (Bhattacharya 2017: 1)

Diese Frage verweist darauf, was mit „sozialer Reproduktion“[1] gemeint ist: Die Prozesse und die Arbeit, die nötig sind, damit die Arbeiter*in qualifiziert am Arbeitsplatz erscheint und eine neue Generation von Arbeiter*innen geboren, großgezogen und ausgebildet wird und tagtäglich bereitsteht. „Soziale Reproduktion“ umfasst also all die Arbeiten, die nicht Waren, sondern Menschen erschaffen und eben reproduzieren. Dazu gehören Schwangerschaft und Geburt, das Großziehen von Kindern, das Pflegen von Bedürftigen und die sogenannte Hausarbeit für sich selbst, für Familien und Communities, die Behandlung von Kranken in Krankenhäusern oder die Bildung von Kindern in Schulen.

Die SRT ist also die Frage nach der Arbeit hinter sozialer Reproduktion zentral: Wie ist soziale Reproduktion im Kapitalismus strukturiert? Von wem werden diese Arbeiten gemacht? Mit welchen Konsequenzen für die Arbeitenden und die Gesellschaft? Die SRT knüpft hier an die Einsichten marxistischer Feminist*innen wie Margaret Benston und Mariarosa Dalla Costa der 1960er/70er Jahre an, die in der sogenannten Hausarbeitsdebatte in mehreren Ländern dafür stritten, die unbezahlte Hausarbeit, die vielfach von Frauen geleistet wurde, mitzudenken (für einen Überblick siehe z.B. Vogel 2008). Gleichzeitig geht die SRT über diese Debatte hinaus, da sie nicht ‚Hausarbeit‘ oder ‚Frauenarbeit‘ als analytischen Ausgangspunkt setzt. Vielmehr interessiert sie sich für die Frage, wo und wie soziale Reproduktion erfolgt. Damit gelangt sie zu einem breiten Verständnis von sozialer Reproduktion, die eben nicht nur ‚zuhause‘, sondern auch in den Stadtteilen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und in den staatlichen Institutionen des Wohlfahrtstaates, aber auch durch internationale Arbeitsmigrationsregime stattfindet. Zugleich wirft sie einen Blick darauf, wer vornehmlich diese Arbeiten verrichtet, nämlich nicht nur Frauen, sondern auch andere marginalisierte Gruppen, wie zum Beispiel Migrant*innen.

2. ‚Tätigkeiten am Menschen‘ als strukturelles Problem im Kapitalismus

Um den Kern von sozialer Reproduktion im Kapitalismus zu veranschaulichen, lohnt es sich, eine merkwürdig klingende Frage zu stellen: Warum werden Arbeiter*innen nicht, wie andere Waren, in der Fabrik hergestellt? Die Antwort liegt erst einmal intuitiv an der Hand: Weil das Kindergroßziehen, Kranke pflegen und unsere Erholung irgendwie anders zu funktionieren scheinen als Arbeiten am Fließband, auf dem Feld, oder, wie im obigen Beispiel, in der Schneiderei. Feminist*innen benennen diese Tätigkeiten als „Sorge- oder Carearbeit“, um auf die Besonderheiten dieser Aktivitäten hinzuweisen. Wir sprechen, in Anlehnung an solche Begriffe von „Arbeiten am Menschen“.

Und hier kommt ein zentraler Punkt für unsere Analyse: „Arbeiten am Menschen“ gehen aus Sicht von Kapitalist*innen mit gewissen Nachteilen für die Mehrwertgenerierung einher. Um die Mehrwertrate – also das Geld, welches Kapitalist*innen aneignen können – stetig zu erhöhen, versuchen Kapitalist*innen unter anderem, mehr und schneller zu produzieren. Im oben genannten Beispiel kann z.B. durch Nähmaschinen die Stückzahl der Hosen pro Stunde erhöht werden. Wenn Arbeiter*innen dann nicht mehr eine, sondern fünf Hosen pro Stunde nähen können, aber weiterhin sieben Stunden pro Tag arbeiten, kann der*die Kapitalist*in (bei gleichbleibenden Verkaufspreisen) nun statt der obigen 20 Euro, 300 Euro (minus der Kosten für die Nähmaschinen) aneignen. Kapitalist*innen geht es also darum, immer schneller und billiger zu produzieren (indem die Stückzahl pro Stunde erhöht und/oder die Kosten gesenkt werden), um die Mehrwertrate zu erhöhen, und um in Konkurrenz mit anderen Kapitalist*innen bestehen zu können. Das Problem mit „Arbeiten am Menschen“ ist hier, dass sie nur schlecht schneller gemacht werden können. Ein Kind zu betreuen, dauert nun mal 24 Stunden an sieben Tagen der Woche. Und wir alle haben schon erlebt, dass es für Kranke oder Bedürftige mit Leid einhergeht, wenn wir versuchen, uns möglichst schnell um sie zu kümmern.

Diese „Arbeiten am Menschen“ sind also für Kapitalist*innen erst einmal nicht so attraktiv, da das Potenzial, die Mehrwertrate immer weiter zu erhöhen, geringer ist. Und trotzdem müssen diese Arbeiten gemacht werden, denn das Kapital ist davon abhängig, dass es qualifizierte Arbeiter*innen zur Verfügung stehen hat. Hier sehen wir also ein Strukturproblem des Kapitalismus: Die Frage ist, wie diese Arbeiten kostengünstig erledigt werden können. Die Antwort erleben viele von uns tagtäglich: 'Tätigkeiten am Menschen“ wurden in Bereiche, in denen kein Mehrwert generiert wird und keine (ausreichende) Entlohnung fließt, ausgelagert: in (Wahl-)Familien, Nachbarschaftliche Solidaritätsbezüge oder staatlich (unter-)finanzierte Kitas. Also „Sphären der Reproduktion“, die sich mit dem Kapitalismus herausgebildet haben und anders funktionieren als die Sphären der Warenproduktion (ein Punkt, der weiter unten noch vertieft wird).

3. Eine ‚Sphäre der Sozialen Reproduktion‘ – Die Frage des Mehrwerts

Nancy Fraser bezeichnet diese Sphären, die sowohl Haushalte und Community-Orte, als auch den (Wohlfahrts-)Staat und die Natur mit einschließen, als „Zone der Nicht-Kommodifizierung“, die sich in Abgrenzung zur kommodifizierten, ökonomischen Sphäre durch “distinctive normative and ontological grammars” (Fraser 2014: 66) auszeichnen. Damit meint sie, dass unsere Arbeiten in den Sphären der sozialen Reproduktion anders strukturiert sind als in der Sphäre der Produktion: Sich um Kinder, Kranke und Bedürftige zu kümmern, oder auch nur für sich selbst zu kochen, wird gemeinhin nicht als ‚Arbeit‘ verstanden, sondern als ‚Liebe‘, ‚Fürsorge‘ oder ‚self-care‘. Sexistische und rassistische Vorstellungen, nach denen manche Gruppen eben "natürliche Veranlagungen" zu Sorge-Arbeit hätten, legitimieren dabei häufig den Umstand, dass diese Arbeiten un- oder unterbezahlt verrichtet werden.

Hier sind wir an einem Punkt angekommen, der unter marxistischen Feminist*innen umstritten ist: Die meisten sind sich darin einig, dass die Sphäre der Reproduktion anderen Logiken folgt als die der Produktion von Waren. Das materielle Strukturmerkmal einer solchen Unterscheidung bleibt dabei allerdings aus Sicht der SRT zum Teil uneindeutig oder verkürzt dargestellt. Einige, wie zum Beispiel die aus dem Post-Operaismus entstandene Strömung um Silvia Federici, Selma James, Mariarosa Dalla Costa (und heute beispielsweise vertreten durch Alessandra Mezzadri), argumentieren zum Beispiel, dass auch in der Sphäre der Reproduktion Mehrwert generiert wird. Die SRT stimmt zwar zu, dass die soziale Reproduktion die Voraussetzung für die Generierung von Mehrwert ist (denn ohne qualifizierte Arbeiter*innen gibt es keinen Mehrwert) und damit indirekt eine Rolle spielt. Gleichzeitig argumentieren wir mit der SRT, dass die Frage, ob in einem Arbeitsverhältnis direkt Mehrwert generiert wird, zentral ist, um Unterdrückung zu verstehen: Wie viele von uns alltäglich erleben, macht es nämlich einen großen Unterschied, ob wir Arbeiten in direktem Bezug zu Kapitalist*innen tätigen, oder ‚zuhause‘, als ‚Freiwilligendienst‘ oder als Gefallen für die Nachbar*innen. Bei den letzten Beispielen haben wir keinen Boss, der*die uns antreibt, schneller zu arbeiten. Dafür sind unsere Erfahrungen auch dort möglicherweise durch Sexismus, Rassismus oder Ableismus geprägt. Die SRT erklärt also die Unterschiede zwischen den Sphären der Produktion und Reproduktion entlang der Marx’schen Wertlehre: Die Sphäre der Reproduktion folgt deshalb anderen Logiken, da hier nicht intendiert wird, Mehrwert anzueignen.

An diesem Punkt haben wir begriffliche Klarheit gewonnen: Als Sphäre der Reproduktion bezeichnen wir die Tätigkeiten, die so strukturiert sind, dass sie keinen Mehrwert zur Aneignung generieren – hier ist also das Verhältnis zur Mehrwertgeneration das zentrale Merkmal. Bei den „Tätigkeiten am Menschen“, die dem Begriff der Care-Arbeit entsprechen, handelt es sich hingegen um eine bestimmte Qualität von Arbeit. Der Begriff der sozialen Reproduktion wird gemeinhin breit genutzt, nämlich als all die Arbeiten, die zur Herstellung und zum Erhalt der Arbeiter*innenklasse notwendig sind.

4. Produktion & Reproduktion: Eine abhängige, aber widersprüchliche Beziehung

Die strukturellen Unterschiede zwischen der Herstellung von Waren im privatwirtschaftlichen Bereich und der unbezahlten reproduktiven Arbeit sind nicht zufällig, sondern zentral für die kapitalistische Funktionsweise – sie bilden eine abhängige Beziehung. Diese Beziehung ist notwendig, weil durch die unbezahlte Arbeit die Arbeitskraft kostengünstig wieder hergestellt wird. Zugleich ist sie aber auch widersprüchlich (Ferguson 2017; Luxton 2006: 37; Fraser 2016: 100), da Produktion und Reproduktion unterschiedlichen Logiken folgen: Zum Beispiel haben Kapitalist*innen Anreize, die Kosten für die Arbeiter*innen (Löhne und Sicherheitsstandards) so niedrig wie möglich zu halten, um Mehrwert zu erhöhen. Gleichzeitig sind sie aber von einer gesunden, gut ausgebildeten Arbeiter*innenklasse abhängig, sodass die Löhne, Sicherheitsstandards und Steuerabgaben nicht unter ein gewisses Niveau fallen dürfen.

Allerdings beschränken sich die Widersprüche nicht auf „Kapital versus Klasse“. Auch die Klasse des Kapitals ist widersprüchlichen Anreizstrukturen und Zwängen – zwischen Einzel- und Gesamtkapital und Kurzzeit- und Langzeitinteressen – ausgesetzt. Während beispielsweise das Einzelkapital ein Interesse hat, die Löhne zu drücken, ist das Gesamtkapital auf eine Ankurblung der Kaufkraft innerhalb der Arbeiter*innenklasse als Konsument*innen angewiesen (Bhattacharya 2017: 79). Außerdem – und damit fügen wir der obigen Argumentation noch ein Level an Komplexität hinzu – ist es zwar generell richtig, dass „Tätigkeiten am Menschen“ weniger attraktiv für die Mehrwertgenerierung sind. Gleichzeitig können in bestimmten Fällen, wie Gabriele Winker herausgearbeitet hat, manche Branchen, wie zum Beispiel die der Pflege und Medizin, durchaus profitabel für das jeweilige Einzelkapital sein – nämlich insbesondere dann, wenn Menschen darauf angewiesen sind und/oder es ein Lohngefälle gibt, welches ausgenutzt werden kann. Für das Gesamtkapital sieht die Lage jedoch anders aus: „ein hoher Prozentsatz von über die Warenwirtschaft abgewickelten Care Dienstleistungen [steigert] die durchschnittlichen Reproduktionskosten der Lohnarbeit. Dies erhöht tendenziell den durchschnittlichen Wert der Arbeitskraft und senkt damit tendenziell die Mehrwertrate” (Winker 2011: 337).

Diese Widersprüche zwischen der Arbeiter*innen- und Kapitalklasse, zwischen Langzeit und Kurzzeitinteressen und zwischen Einzel- und Gesamtkapital werden unterschiedlich eingedämmt, wobei der Staat häufig eine vermittelnde Rolle einnimmt (siehe zum Beispiel Kipka 2019). Dies äußert sich beispielsweise in der Bereitstellung von Reproduktionsleistungen wie Kitas und Schulen, oder in Migrationsregimen, die den Zulauf an Arbeiter*innen (für viele tödlich) regulieren.

5. Ursprüngliche Akkumulation und die Entstehung einer „Sphäre der Reproduktion“

Nachdem wir das dialektische Zusammenspiel zwischen Produktion und Reproduktion und einige damit zusammenhängende Widersprüche des Kapitalismus beleuchtet haben, soll im Folgenden ein Blick auf die historische Herausbildung dieser Sphären geworfen werden. Denn viele gesellschaftliche Bedingungen, die uns heute als natürlich erscheinen, sind das Ergebnis ökonomischer Entwicklungen und gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen darum.

Ab dem 15. Jahrhundert setzte in Europa ein Prozess ein, den Marx als die s.g. ursprüngliche Akkumulation bezeichnet (Marx 1986: Kap. 24). Ländliche Gebiete und Gemeindeland wurden zunehmend durch Adelige privatisiert und für die Schafszucht genutzt, wodurch immer mehr Bauern und Bäuerinnen ihre Existenzgrundlage verloren. Nach Marx schufen diese – durchaus gewaltvollen und zugleich auch umkämpften – Enteignungen die gesellschaftliche Grundlage des Kapitalismus. Während einerseits einige wenige Kapital anhäuften, entstand andererseits eine Arbeiter*innenklasse, die weder Zugang zu Produktionsmitteln noch zu Land hatte. Da die Menschen nicht mehr auf Subsistenzproduktion zurückgreifen konnten, um zu überleben, waren sie zunehmend darauf angewiesen, in das Lohnarbeitssystem einzutreten. Eine Folge dieser Entwicklung ist die immense Abwanderung der Bevölkerung in die Städte, bedingt durch die Ansiedlung neuer Fabriken.

Im Laufe der nächsten 150 Jahre setzte sich die kapitalistische Produktionsweise sukzessive durch. Dadurch änderte sich die Art zu Leben und zu Arbeiten grundlegend. Mit diesem Prozess ging auch eine massive Umorganisation der von Frauen ausgeführten reproduktiven Arbeit einher (Ferguson 2020: 12 f.). In vorkapitalistischen Gesellschaften bildete das Haus (mit regionalen Variationen) die produzierende Wirtschaftseinheit, in welcher sowohl produktive als auch reproduktive Aufgaben am selben Ort verrichtet wurden (Eisenstein 1999 [1978]). Frauen überwachten dabei häufig den Produktionsprozess des Spinnens, Webens, Seifensiedens und Backens (Davis 1998) oder arbeiteten auch in der Landwirtschaft mit. Wie Ferguson beschreibt, wurde mit dem Aufkommen der Industrialisierung und des Kapitalismus die von Frauen ausgeübte Subsistenzarbeit und Reproduktionsarbeit zunehmend von Lohnarbeit räumlich und zeitlich getrennt (Ferguson 2020: 13).

Es kam zu einer folgenreichen Arbeitsteilung, die die Gesellschaft in eine mehrwertgenerierende Sphäre und eine nicht-mehrwertgenerierende Sphäre aufspaltete. Während in der Sphäre der Produktion Waren mit dem Ziel hergestellt wurden, Profite zu generieren, vollzog sich auch zu Hause ein Wandel. Immer weniger Waren produzierte man privat, weil es günstiger war, diese auf dem Markt zu erwerben. Der Fokus verschob sich zunehmend auf die Tätigkeiten am Menschen, weshalb diese Sphäre „soziale Reproduktion“ getauft wurde. Es waren vor allem Frauen, die diese Arbeiten im privaten Bereich unentgeltlich oder schlecht bezahlt übernahmen.

Wie bereits dargelegt, impliziert die Annahme von der Unproduktivität der Sphäre der Reproduktion weder, dass die in diesem Kontext ausgeübten Tätigkeiten einen geringeren normativen Wert aufweisen, noch dass keinerlei Dinge im Haushalt hergestellt werden. Was wir zeigen wollen ist, dass wir es im Kapitalismus mit zwei unterschiedlichen Sphären der Arbeit zu tun haben. Da im Kapitalismus die Generierung von Profit zur Maxime wird, wird die sogenannte Sphäre der Reproduktion der mehrwertgenerierenden Lohnarbeit untergeordnet. Dies ist kein zufälliger Prozess, wie Bhattacharya beschreibt:

“The social relations outside of wage labor are not accidental to it but take specific historical form in response to it. For instance, the gendered nature of reproduction of labor power has conditioning impulses for the extraction of surplus value. Similarly, a heterosexist form of the family unit is sustained by capital’s needs for the generational replacement of the labor force” (Bhattacharya 2017: 87).

Wie viele feministische Aktivist*innen schon seit langem betonen, ist ohne die häufig von Frauen ausgeübte Haus- und Reproduktionsarbeit die Kapitalakkumulation nicht möglich, da hierdurch die Ware Arbeitskraft reproduziert werde. Vor fast fünfzig Jahren hat Silvia Federici in der sogenannten Hausarbeitsdebatte diesen Umstand schon mit folgenden Worten skandalisiert: „Sie nennen es Liebe, wir nennen es unbezahlte Arbeit“ (Federici 2020: 15). Diese Form der Arbeitsteilung führt häufig zu einer finanziellen Abhängigkeit von denen, die diese Arbeit verrichten – bis heute meist Frauen.

6. Enteignung neben Ausbeutung als das bestimmende Prinzip im Kapitalismus

Einige Feminist*innen haben im Anschluss an diese Debatte die Rolle der Hausarbeit weiter theoretisiert. So haben die „Bielefelder*innen“ schon in den 1980er Jahren mit Rückgriff auf Rosa Luxemburg argumentiert, dass die sogenannte ursprüngliche Akkumulation kein – wie von Marx angenommen – einmaliges Ereignis in der Geschichte sei (Werlhof 2015). Vielmehr setzte sie sich weiter fort, da die Enteignung nicht nur die Bauern und Bäuer*innen, die Kolonien und Sklav*innen, sondern eben auch die Reproduktionsarbeit der Frauen umfasse (Ferguson 2020: 13).

Angesicht der krisenhaften Entwicklung der letzten Jahre knüpfen diverse Autor*innen an diese Analyse an. Manche der Autor*innen, die sich auf neuere Arbeiten der sozialen Reproduktion beziehen, entwickeln den Gedanken der sich stetig fortsetzenden ursprünglichen Akkumulation weiter (Casalini 2017; Moore 2023). Andere stellen allgemeiner die Zentralität der Enteignungsprozesse im Kapitalismus (insbesondere auch für die Herausbildung von sozialen Hierarchien) heraus, ohne diesen Prozess aber als ursprüngliche Akkumulation zu bezeichnen (Sears 2017). Inwiefern Enteignung und Ausbeutung bei der Konstitution der Produktions- und Reproduktionssphäre ineinandergreifen und wie dabei, die rassifizierte und geschlechtliche Arbeitsteilung koproduziert wird, ist u.E. noch nicht vollumfänglich innerhalb des SRT Rahmens analysiert. Erste zentrale Ideen von Autor*innen, die sich im Rahmen der SRT verorten, wollen wir aber im Folgenden skizzieren.

So argumentiert etwa Fraser, dass die nicht-marktwirtschaftlich organisierten Bereiche elementar zum Kapitalismus gehören und für sein Überleben notwendig seien ((Fraser 2014: 59). Demnach komme die Kapitalakkumulation nicht allein durch Warentausch und vertraglich geregelte Lohnarbeit, d.h. durch Ausbeutung am Arbeitsplatz zustande. Sie sei zugleich Ergebnis von gewaltsamen und teilweise auch strukturellen Enteignungen. Damit ist gemeint, dass entweder Mehrwert anderer konfiszierst wird oder Land, Tiere, Werkzeuge, Rohstoffe und sogar Menschen, d.h. ihre Arbeitskraft oder ihre sexuellen oder reproduktiven Fähigkeiten enteignet werden (Fraser 2023: 69; Fraser/Jaeggi 2020: 65). In der Folge werden Gebrauchswerte, die „unter dem Durchschnitt der Wertzusammensetzung des Kapitals liegen“, für das Kapital als Ressource freigesetzt (Moore 2020: 86). Somit ist die Herstellung einer Ware günstiger und damit auch wettbewerbsfähiger und profitable). Diese Prozesse der Enteignungen lassen sich u.E. analytisch auf drei Ebenen fassen. 

Erstens basiert der Kapitalismus, wie schon beschrieben, auf einer Unmenge unbezahlter Reproduktions- und Subsistenzarbeit. Es sind in der Regel Frauen und andere marginalisierte Gruppen, die diese Arbeiten verrichten ohne eine Entlohnung zu erhalten, die ihre eigene Reproduktion sicherstellen würde. Diese Arbeiter*innen werden also nicht, wie im ersten Teil dieses Beitrags dargestellt, ausgebeutet, indem sie länger arbeiten, als sie eigentlich müssten, um mit dem nötigen Geld nachhause zu gehen. Vielmehr werden sie gar nicht oder so schlecht bezahlt, dass sie davon abhängig sind, ihr Überleben durch alternative Quellen zu sichern: Beispielsweise durch Subsistenzarbeit, d.h. durch den eigenen Anbau von Lebensmitteln, oder durch eine Abhängigkeitsbeziehung zu einer verdienenden Person, wie es traditionell in mittelständigen Familien zu finden ist, in denen Hausfrauen, deren Arbeit unentlohnt bleibt, durch erwerbstätige Männer „miternährt“ werden.

Zweitens ist der Kapitalismus auf die Enteignung von Rohstoffen und Territorien angewiesen. Diese fand nicht nur gewaltvoll zu Zeiten des Kolonialismus statt, sondern setzt sich durch die Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise stetig fort. So erwerben internationale Firmen etwa in Argentinien günstig Konzessionen, um hoch profitabel Lithium abzubauen. Indem das Metall extrahiert und dessen Wert abgeschöpft wird, zerstören sie für immer Landstriche, die vormals die Lebensgrundlage vieler indigener Bauern und Bäuer*innen darstellten.

Drittens werden, wie wir im nächsten Abschnitt darstellen, immer mehr Bereiche der kapitalistischen Gesellschaft, die vorher nicht marktwirtschaftlich organsiert wurden, dem Profitinteresse untergeordnet. Vor allem in Krisenzeiten ‚braucht‘ der Kapitalismus außerökonomische Bereiche, um sie kapitalistisch umstrukturieren und für eine Verwertung zugängig zu machen.

Mit der SRT argumentieren wir also, dass die kapitalistische Wertschöpfung neben der Ausbeutung im Arbeitsverhältnis systematisch auf der fortlaufenden Enteignung und Aneignung von der unbezahlten Arbeit marginalisierter Gruppen und der Natur (siehe z.B. Jason Moore) beruht. Dementsprechend sind Ausbeutung und Enteignung keine getrennten, sondern eng miteinander verflochtene Prozesse (Fraser 2023: 72). Die Erkenntnis bietet dementsprechend auch die Möglichkeit, Einsichten und Kämpfe, die aus antisexistischen, antiqueerfeindlichen, antikolonialen, antirassistischen und ökologischen Kämpfen hervorkommen, zu verbinden. Denn im Kern geht es auf materieller Ebene um das „Klauen“ von Arbeit, Land und Rohstoffen, welche auf ideologischer Ebene durch Sexismus, Rassismus und weitere gruppenbezogene Feindlichkeiten legitimiert oder unsichtbar gemacht werden.

7. Kommerzialisierung und Krise der sozialen Reproduktion

Seit den neoliberalen Umstrukturierungen der 1980er Jahren können wir beobachten, dass sich die marktwirtschaftliche Integration der sozialen Reproduktion massiv verstärkt hat. Einerseits erfolgt die Unterordnung der sozialen Reproduktion unter die Produktion dadurch, dass Aktivitäten, die vorher unentgeltlich im privaten Bereich ausgeübt wurden, nun als schlecht bezahlte Lohnarbeit verrichtet werden. Mehr und mehr Arbeiten werden somit mehrwertgenerierend ausgeführt, sodass beispielsweise der Servicesektor in den Sozialberufen floriert und auch Pflege und Krankenhäuser immer häufiger von ökonomischen Dienstleister*innen übernommen werden. Andererseits werden Profite zunehmend nicht nur mit Reproduktionsarbeit, sondern auch mit einer steigenden Kommerzialisierung und Finanzialisierung von „Reproduktionsmitteln“ (wie sie Irina Herb in einem bald erscheinenden Artikel nennt) wie Wohnraum gemacht. Die Verschiebungen hin zur Kommerzialisierung im Bereich der Reproduktion, beziehen sich dementsprechend nicht nur auf reproduktive Arbeit, sondern auch auf die Mittel und die Umgebung, mit und in der diese Reproduktion stattfindet, wie man etwa im Bereich der Wohnraumversorgung deutlich sieht.

Was sich hier zeigt, ist, dass die Sphären der Produktion und Reproduktion bzw. die darin verübten Tätigkeiten bzw. die darüber organisierten Güter nicht festgeschrieben sind. Sie befinden sich in steter Transformation, was wiederum Auswirkungen auf die Geschlechterordnung hat: „By demanding retrenchment of public provision while at the same time massively recruiting women into low-waged service work, moreover, it is remapping the institutional boundaries that previously separated commodity production from social reproduction, and thus reconfiguring the gender order in the process” (Fraser 2014: 62).

Die gerade beschriebenen Entwicklungen gehen mit Widersprüchen einher, die die Krise der sozialen Reproduktion verstärken. Obwohl der Kapitalismus darauf angewiesen ist, dass große Teile der Reproduktion unbezahlt und privat oder durch staatliche Subventionen getragen werden, findet zugleich eine Kommerzialisierung der sozialen Reproduktion statt. Dies ist in der strukturellen Entwicklung des Kapitalismus angelegt. Da die industrielle Produktion von Gütern oder der Verkauf von Dienstleistungen im Globalen Norden immer weniger Profite bringt, werden Tätigkeiten am Menschen immer mehr zu Waren. Aufgrund des oben ausgeführten Problems, dass diese Tätigkeiten am Menschen aufwendig und unprofitabel sind, werden allerdings nur lukrative Märkte von Einzelkapitalen besetzt – etwa die exklusive Versorgung von zahlungskräftigen Bevölkerungsteilen. Gleichzeitig wird die Grundversorgung immer prekärer. Mit der Kommerzialisierung der sozialen Reproduktion gehen also soziale Polarisierungstendenzen einher. Schöne Wohnungen, gute Zahnversorgung und eine hochwertige Altenpflege können sich nur noch diejenigen mit entsprechenden Einkommen leisten. Demgegenüber sind größer werdende Teile der Bevölkerung mit einer Krise der sozialen Reproduktion konfrontiert, die sich strukturell zuspitzt. Weder reicht der Lohn für gesunde Lebensmittel und die Miete, noch gibt es genügend Zeit, sich um Familie und Freund*innen zu kümmern. Hinzu kommt, dass die zunehmende Integration von Frauen* in Lohnarbeit zu einem Loch in der unbezahlten Reproduktion führt. Es zeigt sich also, dass zwischen den Sphären der Produktion und Reproduktion ein Widerspruch existiert, da der Zwang zur steigenden Profitsteigerung die stabilen Bedingungen der sozialen Reproduktion für die Mehrheit der Bevölkerung untergräbt.

8. Wie Unterdrückungsverhältnisse die Kapitalakkumulation begünstigen

Wie Vertreter*innen der SRT betonen, werden zwar alle Arbeiter*innen entmenschlicht, doch die Arbeitskraft von Menschen wird zusätzlich entlang rassifizierender, vergeschlechtlichter und kolonialer Trennungen abgewertet (Ferguson 2020: 116). Der Blick auf die ökonomischen und politischen Prozesse jenseits der Lohnarbeit kann das Verständnis schärfen, wie die kapitalistische Produktionsweise und die verschiedenen Unterdrückungsformen und -mechanismen miteinander verschränkt sind.

Wie bereits erläutert, wird die Arbeiter*innenklasse sowohl historisch wie auch in kontinuierlichen gegenwärtigen Prozessen durch die Enteignung von Produktions- und Reproduktionsmitteln hervorgebracht. Zugleich führen solche Enteignungsprozesse, wie Fraser betont, zu einer Unterscheidung zwischen freien Subjekten, die ausgebeutet werden, und abhängigen Subjekten, die enteignet werden (Fraser 2023: 72). Sie hebt hervor, dass die Enteignung, die die Grundlage der Ausbeutung bildet, besonders stark Menschen tangiert, die von Rassismus betroffen sind. Das heißt: Durch die systematische Enteignung bestimmter Gruppen bilden sich diese nicht nur als ökonomische Klassen heraus. Sie werden zugleich auch symbolisch als „anders“ und rechtlos klassifiziert und damit zu „rassifizierten Subjekten“. Die Frage, was als produktive und somit als zu entlohnende Arbeit zählt, betrifft daher nicht nur die feminisierte Sorgearbeit. Auch Gargi Bhattacharya kommt zu dem Schluss: „The perceived boundary between work and non-work goes to the heart of the practices of differentiation for exploitation and expropriation that make up racial capitalism“ (Bhattacharyya 2018: 42). Bei Fraser ist die Differenzierung zwischen Ausbeutung und Enteignung dabei nicht nur eine ökonomische Frage. Die Unterscheidung in Gruppen, wer ausgebeutet und wer wie enteignet wird, ist stets an Herrschaft und somit an politische Entscheidungen geknüpft (Fraser 2023: 73).

Die rassifizierte und geschlechtliche Arbeitsteilung zeigt sich an verschiedenen Beispielen und trifft vor allem in Bezug auf die Organisation der Sorgearbeit zu. Seit der höheren Lohnerwerbsquote von Frauen im Globalen Norden wird diese sukzessive kommodifiziert. Tätigkeiten, die vorher ‚privat‘ im Haushalt stattfanden, werden nun als bezahlte Dienstleistungen in ein „hierarchisches Wertesystem der Arbeit“ eingeordnet, wobei nach Zhivka Valiavicharska in diesem Prozess „rassis[tis]che, geschlechtliche und ethnische Unterschiede sowie der Einwanderungsstatus“ (Valiavicharska 2020: 5) eine Rolle dabei spielen, die Kosten zu drücken. Vor allem migrantisierte Menschen gewährleisten im Globalen Norden die soziale Reproduktion, indem sie prekär und schlecht bezahlt, etwa als Putzkraft oder als Altenpfleger*in, tätig sind. Die im Sinne der kapitalistischen Logik notwendige Abwertung der Reproduktion zeigt sich somit auch dann, wenn reproduktive Tätigkeiten nicht mehr ‚zu Hause‘, sondern in Form von Lohnarbeit auf dem Markt organisiert werden.

Auch Migrationsregime spielen hierbei insofern eine zentrale Rolle, als dass sie die Reproduktion der Arbeitskraft durch den Zufluss an Arbeitskräften ermöglichen. Zugleich gibt es zahlreiche Belege, dass die Arbeitskraft von Personen in peripheren Gebieten und zuweilen auch von migrantischen und illegalisierten Menschen in den kapitalistischen Zentren systematisch überausgebeutet wird (Puder 2022). Sie erhalten nicht genügend Lohn, um die nötigen Lebenshaltungskosten bezahlen zu können, weshalb Arbeiter*innen darauf angewiesen sind, ihr Einkommen durch Subsistenzproduktion oder irreguläre Arbeit zu ergänzen beziehungsweise auf alternative Reproduktionsnetzwerke (Nassif 2022) zugreifen zu können.

Die rassifizierende und vergeschlechtlichte Arbeitsteilung wird laut Autor*innen der SRT nicht reduktionistisch abgeleitet, sondern als Ergebnis einer historischen Entwicklung begriffen, die nicht statisch festgeschrieben ist. Race und Geschlecht sind, auch wenn sie als Strukturkategorien unterschiedlich funktionieren, ähnlich, da „naturalisierende Argumente genutzt werden, um Menschen auf bestimmte Bereiche der (Re-)Produktion festzulegen und dies dann ideologisch zu legitimeren“ (Voegele/Roldán Mendívil 2022: 81). Der theoretische Rahmen der SRT setzt jedoch keine spezifischen Unterdrückungsformen voraus, sondern versteht diese als kontingente Antworten auf ein Strukturproblem der Kapitalakkumulation, die Kosten zur Reproduktion der Arbeitskraft zu drücken. Insofern diese Formen der Unterdrückung die Kapitalakkumulation begünstigen, müssen sie auch als gesellschaftliches Verhältnis angesehen werden, das mit der Produktionsweise verwoben ist.

9. Klassenkämpfe in der Reproduktion

Sobald wir die Enteignungsprozesse und die Reproduktion der Arbeiter*innen als einen zentralen Teil des kapitalistischen Systems verstehen, muss auch die marxistische Annahme zur Konstitution von Klassen und zum s.g. revolutionären Subjekt überdacht werden. Hier wollen wir aufgrund unserer Überlegungen zu sozialer Reproduktion drei Einwürfe machen.

Erstens stellt sich die Frage nach dem Klassenbegriff: In der marxistischen Theorie wird Klasse abhängig davon definiert, wem die Produktionsmittel gehören. Während also die einen über Produktionsmittel wie Kapital oder Fabriken verfügen, besitzen Arbeiter*innen nur ihre Arbeitskraft. Das heißt, sie müssen arbeiten, um zu überleben, und werden, wie oben beschrieben, dabei ausgebeutet. Diese Form der Ausbeutung bildet die Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft. Wie wir jedoch aufgezeigt haben, beruht der Kapitalismus nicht nur auf Ausbeutung, sondern auch auf Enteignung: Reproduktionsarbeit, (Neo-)Kolonialismus und die Nutzung der Natur sind beispielsweise von Enteignungsprozessen durchzogen.

Darüber hinaus werden, wie bereits ausgeführt wurde, auch die Reproduktionsbedingungen zunehmend kommerzialisiert: Wohnraum, Parks, Spielplätze, Krankenhäuser und Pflegeheime werden sukzessive aufgekauft. Profite werden also nicht nur durch die Ausbeutung von Arbeitskraft gemacht, sondern auch durch das Abschöpfen von Mieten generiert. Dementsprechend werden Reproduktionsorte und Reproduktionsarbeiten zunehmend zu Waren, die sich nicht mehr alle leisten können. Vor diesem Hintergrund zeigen sich Vertreter*innen der SRT, wie zum Beispiel Tithi Bhattacharya überzeugt, dass Kämpfe verstärkt in der Sphäre der sozialen Reproduktion ausbrechen werden (Bhattacharya 2017: 86). Sie gehen davon aus, dass wir weniger Streiks um bessere Löhne und kürzere Arbeitszeit erleben werden, dafür aber mehr Proteste, in denen etwa der Zugang zu Wohnraum, Bildung, aber auch Klimagerechtigkeit verhandelt werden. Initiativen wie „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“ oder „Fridays for Future“, die in Deutschland mit die größten Proteste der letzten Jahre organisiert haben, bestätigen diese Annahme.  

In anderen Worten: Es sind nicht nur die Produktionsmittel, um die gekämpft wird, sondern auch die, wie wir sie hier vorläufig nennen, „Reproduktionsmittel“ (siehe Herb, forthcoming). Ähnlich argumentieren manche Autor*innen, wie Søren Mau (2019: 121f; 2023: 26) und Sue Ferguson (2016: 52), insofern die Herrschaft im Kapitalismus darauf beruht, dass den Arbeiter*innen die Kontrolle über die soziale Reproduktion und somit über die Mittel zur Reproduktion entzogen wurde und wird. Dem folgend, sollte auch Klasse nicht auf die Stellung im Produktionsprozess und die Aneignung des Mehrwerts reduziert werden, sondern auch als ein Verhältnis zu den Bedingungen der sozialen Reproduktion verstanden werden.

Als zweites gilt es die Vorstellung vom revolutionären Subjekt zu hinterfragen. Gemeinhin wird das Proletariat aufgrund der Stellung im Produktionsprozess als die „wirklich revolutionäre Klasse“ (MEW 1959: 472) verstanden. Doch Fraser plädiert dafür, dass wir unser Verständnis von Klassenkämpfen erweitern sollten, und entwirft das Konzept der sogenannten „Grenzkämpfe um soziale Reproduktion“ (Fraser 2023: 25). Dabei geht es um diejenigen Kämpfe, die darum ringen, wo die Grenze zwischen der Sphäre der Produktion und der Reproduktion verlaufen soll – das heißt um die Frage, welche Arbeit Mehrwert schaffen muss und welche nicht: Sollten Krankenhäuser wirklich Profit generieren? Sollte Wohnraum gemeinwohlorientiert in Genossenschaften oder als marktwirtschaftlich organisiertes Privateigentum verwaltet werden? Sollte es möglich sein, Schwangerschaftsarbeit (sogenannte Leihmutterschaft) zu verkaufen? Für Fraser gehören diese Grenzkämpfe genauso emblematisch zum Kapitalismus wie die Kämpfe der Lohnarbeiter*innen.

Geht man davon aus, dass sich Klassenauseinandersetzungen sowohl in Lohnarbeitsverhältnissen als auch in Grenzkämpfen um Reproduktion und Reproduktionsmittel äußern, geht es nicht darum, diese gleichzusetzen. Vielmehr hilft die Differenzierung das Verständnis für die unterschiedlichen Funktionsweisen und Wirkungen von Klassenverhältnissen zu schärfen. Aufgrund der Mehrwertaneignung in der „Sphäre der Produktion“ können Arbeiter*innen, wenn sie für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen streiken, ökonomischen Druck und damit strukturelle Macht ausüben. Mit Blick auf die spezifischen Qualitäten von „Arbeiten am Menschen“ müssen wir die Streikfähigkeit in der Sphäre der Reproduktion differenzierter betrachten: In den Pflege- und Sozialberufen lässt sich schwerer streiken. Das liegt an dem Charakter der Arbeit, die als eine Tätigkeit am Menschen wertschöpfungsschwach und kaum rationalisierbar ist. Infolge dieser – im Vergleich zur traditionellen Warenproduktion niedrigeren Produktivität – verfügen die Angestellten in Sozialberufen über eine geringere strukturelle Macht.

Noch schwieriger verhält es sich mit den Kämpfen um bessere Bedingungen in der Sphäre der sozialen Reproduktion, etwa gegen zu hohe Mieten, Klimawandel oder gegen unbezahlte ‚Hausarbeit‘. Hier sind Streiks kaum das richtige Mittel: Die eigenen Kinder in einem ‚Hausarbeitsstreik‘ zu bestreiken würde nicht nur die Falschen treffen, sondern auch keinen Druck auf die Verantwortlichen ausüben. Interessanter ist das Mittel des Mietstreiks: Mietstreiks kommen in Bewegungen selten vor, da in den meisten Rechtssystemen Zwangsräumungen staatlich durchgesetzt werden können. In anderen Worten: Klassenkämpfe im Lohnsektor sind in Deutschland zum Beispiel besser geschützt als Kämpfe um Wohnraum.

Dementsprechend äußern sich Kämpfe in der Sphäre der sozialen Reproduktion eher durch Proteste und alternative Formen des Widerstands. Wie Salar Mohandesi und Emma Teitelmann (2017) auf der Basis einer historischen Studie dargelegt haben, erfordern Proteste, Boykotte und Demonstrationen ein hohes Maß an Selbstorganisation. Sie zeigen sich daher überzeugt, dass das Terrain der sozialen Reproduktion als Ort der Klassenformierung fungieren kann. Aktuelle Studien zeigen in Bezug auf städtische Protestbewegungen ebenfalls, dass eine territoriale Verankerung und die Bereitstellung alternativer sozialer Ressourcen die Organisationsmacht stärkt und Prozesse der Kollektivierung fördert (Uhlmann 2022).

10. Fazit

Wie wir mit Hilfe der SRT in diesem Beitrag zu zeigen versucht haben, beinhaltet eine feministische Kritik der politischen Ökonomie, dass sich der Kapitalismus in seiner Gesamtheit nur dann verstehen lässt, wenn wir auch außerökonomische Bereiche in die Analyse einbeziehen.

Die SRT unterscheidet sich hier von anderen feministischen marxistischen Ansätzen dadurch, dass sie die Beziehung zwischen Produktion und Reproduktion entlang der Marx’schen Werttheorie analysiert. Dadurch ist sie in der Lage, aufzuzeigen, wie kapitalistische Produktionsverhältnisse mit Unterdrückungsmechanismen wie Sexismus und Rassismus verflochten sind. Die vergeschlechtlichte und rassifizierende Arbeitsteilung und postkoloniale Abhängigkeiten bilden die Grundlage des Kapitalismus und werden als Verhältnisse hervorgebracht, überformt, eben koproduziert. Die damit einhergehenden Enteignungen von unbezahlter Arbeit, Land oder Rohstoffen, aber auch die prekäre Vergütung der entlohnten Sorgeberufe ermöglichen es, die Kosten der Reproduktion der Arbeitskraft und damit die der Warenherstellung zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund wird dann auch deutlich, dass die Kapitalakkumulation und die Reproduktion des Lebens in Widersprüchen zueinanderstehen: Der Drang nach Profitmaximierung gefährdet die sozialen Reproduktionsbedingungen für breite Bevölkerungsschichten, während aber die Profitmaximierung gleichermaßen von der Reproduktion der Arbeiter*innen abhängt.

Wenn wir anerkennen, dass die Kapitalakkumulation nicht nur die Lohnarbeiter*in ausbeutet, sondern auch auf der Aneignung und damit Enteignung unbezahlter reproduktiver Arbeit und Natur, sowie der Abschöpfung von Mieten im Kontext der ‚Reproduktionsmittel‘ beruht, entstehen zwei vielversprechende Momente: Zum einen lohnt es sich, den Begriff und die Funktionsweise der Klassenkämpfe neu zu denken. Des Weiteren kommen wir zu einem ganzheitlicheren Bild momentaner neoliberaler Entwicklungen, die mit multiplen Krisen, darunter die sogenannte „Care Krise“ (z.B. Dowling 2021) und tödlichen Migrationsregimen, einhergehen. Eine solche Analyse gilt es dringend weiterzuentwickeln – nicht zuletzt angesichts zunehmender Unzufriedenheiten mit dem liberal-kapitalistischen Projekt in breiten Bevölkerungsschichten, welche es dringlich machen, eine Analyse zu liefern, die, im Gegensatz zu rechten Narrativen, zum eigentlichen Kern der Probleme führt und Arbeiter*innenkämpfe für die Produktions- und Reproduktionsmittel ermutigt.

 

Ähnliche Gedanken zur Social Reproduction Theory haben wir in einem wissenschaftlichen Artikel mit dem Titel Zum Widerspruch zwischen Akkumulation und der Reproduktion von Leben: Social Reproduction Theory als umfassende Analyse kapitalistischer Gesellschaften? zusammengetragen. Dieser ist Open Access hier erhältlich: https://www.prokla.de/index.php/PROKLA/article/view/2107

 

Zitierte Literatur

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[1] Der Begriff der Sozialen Reproduktion führt mitunter zu Verwirrungen und Kontroversen, da er von manchen als Reproduktion des gesamtgesellschaftlichen kapitalistischen Systems genutzt wird. Wir argumentieren, dass schon Marx und Engels die Reproduktion sowohl im weiteren Sinne als gesamtgesellschaftliche Reproduktion (z.B. MEW 24: 142) als auch im engeren Sinne als Reproduktion der Arbeiter*in (z.B. Engels 1975 [1884]: 71f.; MEW 23: 155f.) verwendet haben. Die jeweilige Bedeutung kann dementsprechend lediglich dem entsprechenden Kontext entnommen werden. Allerdings führte die Übersetzung ins Englische zu Verschiebungen: das Adjektiv „sozial“ kommt in der deutschen Ausgabe des Kapitals nicht vor. »Gesellschaftliche Reproduktion« wurde aber als „social reproduction“ übersetzt (z.B. Marx 1992 [1885]: 358; MEW 24: 261). Als Laslett und Brenner (1989) – ausgehend von marxistisch-feministischen Diskussionen um unentlohnte reproduktive Arbeit der 1960er-Jahre – den Vorschlag machten, Marx’s „social reproduction“ als „societal reproduction“ zu begreifen, nahmen sie sozusagen eine Übersetzungskorrektur vor. Der Begriff der „social reproduction“ etablierte sich dann unter Feminist*innen in Abgrenzung zur „societal reproduction“, um die Arbeit und Prozesse der (Re-)Produktion der Arbeiter*innenklasse, für die es bei Marx noch keine explizite Terminologie gab, benennbar und analysierbar zu machen.

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