Christian Grimm, Jakob Kapeller, Stephan Pühringer
In der Volkswirtschaftslehre (VWL) hat sich seit Mitte der 1970er Jahre mit der Neoklassik ein dominierendes theoretisches Paradigma etabliert, welches das ökonomische Denken im Wesentlichen bis heute prägt. Dieser Zustand, der insbesondere seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 nicht nur in der akademischen Fachwelt durchaus kontrovers diskutiert wird, hat sowohl weitreichende Auswirkungen auf die innerdisziplinären Machtverhältnisse (z. B. Einseitigkeit in Forschung und Lehre, hierarchische Strukturierung, geringe Beachtung sozial- wissenschaftlicher Forschung und interdisziplinärer Ansätze) als auch auf gesellschafts- und wirtschaftspolitische Entwicklungen (z. B. Ökonomisierung sozialer und politischer Bereiche, einseitige Einflussnahme durch Expertengremien und Think Tanks).
Ausgehend von diesen Überlegungen wurde in dieser Studie eine Bestandsaufnahme der institutionellen und personellen Struktur der Disziplin der Volkswirtschaftslehre im deutschsprachigen Raum (Österreich, Deutschland, Schweiz) durchgeführt. Im Rahmen einer empirischen Analyse wurden die im angegebenen Untersuchungsraum wirkenden Professor_innen der Volkswirtschaftslehre hinsichtlich ihrer theoretischen und inhaltlichen Ausrichtung (Forschungsprofil) sowie ihrer inner- und außerwissenschaftlichen Vernetzung (Wirkungsspektrum) untersucht. Die Datengewinnung selbst erfolgte anhand eines mehrstufigen Erhebungsverfahrens auf den entsprechenden Institutshomepages sowie den Lebenslaufangaben der einzelnen Professor_innen und wurde im Zeitraum von November 2015 bis April 2016 durchgeführt.
Im Zuge der empirischen Analyse wurde eine Grundgesamt- heit von 708 VWL-Professor_innen an 89 Universitätsstandorten ermittelt. Im Hinblick auf soziodemografische Daten konnte ein sehr unausgewogenes Geschlechterverhältnis bei den Professor_innen ermittelt werden. So sind lediglich 89 (13,36 %) der 708 Professuren mit Frauen besetzt. Der Frauenanteil fiel dabei in der Schweiz besonders niedrig aus (7,37 %). Die Untersuchung der Nationalitätszugehörigkeit ergab, dass an Deutschlands Universitäten neun von zehn Professor_innen die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen (89,95 %). Der Anteil „inländischer“ Professor_innen fällt demgegenüber in Österreich (60,98 %) und der Schweiz (34,85 %) wesentlich geringer aus. Eine Erklärung dafür kann im gemeinsamen Arbeitsmarkt für deutschsprachige Professor_innen ge- funden werden. An Österreichs Universitäten verfügt rund ein Fünftel (19,51 %), in der Schweiz sogar ein Viertel (27,27 %) über eine deutsche Staatsbürgerschaft.
Die Analyse der Forschungsschwerpunkte der untersuchten Professor_innen zeigt einen starken Fokus auf mikroökonomische Themen und Fragestellungen – ein Umstand, der sowohl an den Selbstangaben der Professor_innen hinsichtlich ihrer Forschungsinteressen als auch anhand der anschließenden teilgebietlichen Zuordnung nachgewiesen werden konnte. So haben sieben der zehn meistgenannten Forschungsschwerpunkte einen vorwiegend mikroökonomischen Bezug (Indus- trieökonomie, Arbeitsmarktökonomie, Experimentelle Ökono-
mie, Verhaltensökonomie, Umweltökonomie, Spieltheorie und Angewandte Mikroökonomie) – dementsprechend wurde auch knapp die Hälfte der Professor_innen (50,35 %) primär in der Mikroökonomie verortet. Demgegenüber steht knapp ein Fünftel der Professor_innen, die vorwiegend im Teilgebiet der Mak- roökonomie zu verortet sind (18,76 %), also einen gesamtwirtschaftlichen Schwerpunkt aufweisen. Die beiden ergänzend erhobenen Gebiete der Finanzwissenschaft (6,63 %) bzw. der Ökonometrie und Statistik (6,21 %) sind hingegen tendenziell unterrepräsentiert.
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Der paradigmatische Status der Ökonomik wurde mittels zweier verschiedener Klassifizierungsverfahren (Mainstream-Heterodoxie Klassifizierung; Klassifizierung nach David Colander) ermittelt und soll Auskunft über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten (theoretischen) Denkrichtung geben. In beiden Fällen offenbarte die Analyse eine starke Konzentration rund um den traditionellen Mainstream neoklassischer Prägung, wobei der Anteil der Professor_innen aus diesem Bereich je nach Verfahren variierte (91,27 % bzw. 76,11 %). Mithilfe der Mainstream-Heterodoxie Klassifizierung lässt sich darüber hinaus eine Gruppe an Ökonom_innen identifizieren, die ihren eigentlichen Forschungsschwerpunkt in der Mainstreamökonomie hat, aber fallweise auch an heterodoxen Diskursen partizipiert. Diese Gruppe eines „pluralen Mainstreams“ ist mit knapp 6 % der untersuchten Professor_innen zwar von überschaubarer Größe, aber immerhin noch doppelt so groß wie der Anteil vorwiegend heterodoxer Professor_innen. Die Klassifizierung nach Colander, mit deren Hilfe versucht wird einen möglichen Wandel innerhalb des ökonomischen Mainstreams zu erfassen, zeigte zudem, dass sich mit der Verhaltens- und Experimentalökonomie ein neuer Forschungszweig innerhalb der Mainstreamökonomie etablieren konnte. Ob dieser Aufstieg der Verhaltens- und Experimentalökonomie, die von knapp 15 % der untersuchten Professor_innen betrieben wird, als echter Wandel der Disziplin zu werten ist, ist dabei durchaus umstritten: Obwohl die Experimentalökonomie wesentliche Grundannahmen des traditionellen Homo-oecnomicus-Modells widerlegen konnte, gilt letzteres nach wie vor als zentraler theoretischer Rahmen ökonomischen Denkens – und das gilt auch innerhalb der Verhaltensökonomie. Dieses Resultat deutet an, dass der innere Wandel der Mainstreamökonomik durchaus beschränkt ist.
Abbildung 1: Landkarte pluraler und heterodoxer ökonomischer Standorte in Deutschland, Österreich und der Schweiz; Ökonom_innen, die dem pluralen Mainstream zugeordnet wurden, sind grün, heterodoxe rot dargestellt.
Die angewandten Verfahren zeigen darüber hinaus eine gegenwärtige Marginalisierung heterodoxer Strömungen, da lediglich 22 Professor_innen (3,15 %) als „heterodoxe“ Ökonom_innen identifiziert werden konnten. Institutionell sind diese vor allem an kleinen Universitätsstandorten (sechs oder weniger Professuren) vertreten (z. B. Bremen, Darmstadt, Ol- denburg, Lüneburg, Jena). In Summe konnten nur fünf Universitäten identifiziert werden, wo mindestens die Hälfte der VWL-Professor_innen dem pluralen Mainstream (4) bzw. der heterodoxen Ökonomie (1, Bremen) zugeordnet werden können. Innerhalb der Heterodoxie sind postkeynesianische mit acht, bzw. evolutionäre Ansätze mit sieben Professor_innen am stärksten vertreten. In Deutschland konnte, im Vergleich zu Österreich und der Schweiz, eine Verankerung ordoliberaler Konzepte (8,04 % zu 2,22 % bzw. 2,13 %) festgestellt werden, die auf den „deutschen Sonderweg“ in der Entwicklung der Volkswirtschaftslehre nach dem Zweiten Weltkrieg verweist und maßgeblich von der so genannten „Freiburger Schule“ getragen wurde. Abschließend bekräftigt der geringe Prozentsatz an Professor_innen, die sich seit 2008 in ihren Beiträgen mit der Wirtschafts- und Finanzkrise beschäftigt haben (14,45 %), den Vorwurf an die ökonomische Forschung zu wenig auf aktuelle wirtschaftliche Probleme und Entwicklungen zu fokussieren.
In der innerakademischen Vernetzung zeigt sich die zentrale Rolle des „Vereins für Socialpolitik“ (VfS), dem 427 (60 %) der Professor_innen zugehörig sind. Wichtige Rollen für den aka- demischen Forschungsaustausch spielen darüber hinaus die „American Economic Association“ (12 %) und die „European Economic Association“ (11 %). Unter den heterodoxen Professor_innen besitzt der VfS eine noch zentralere Stellung (77 %). Die „European Society for the History of Economic Thought“ (23 %) und der „Arbeitskreis Politische Ökonomie“ (18 %) verkörpern zwei spezifische Plattformen für heterodoxe Professor_innen im deutschsprachigen Raum. Die Analyse der außer- akademischen Vernetzung verfolgt verschiedene Kanäle der Einflussnahme der Volkswirtschaftslehre auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen. Auf der Ebene der unterstüt- zenden Politikberatung („policy support“) stellen das CESifo München mit 146 (21 %), das „IZA Bonn“ mit 91 (13 %) sowie das „CEPR London“ mit 90 (13 %) die quantitativ bedeutendsten Institutionen dar. Auf der Ebene der aktiven wirtschafts politischen Einflussnahme („policy involvements“) konnten sowohl neo- bzw. ordoliberale Akteursnetzwerke (z. B. Walter Eucken Institut, Kronberger Kreis, F.A. Hayek Gesellschaft, INSM, Hamburger Appell) als auch keynesianisch geprägte Expertengruppen (z. B. Keynes Gesellschaft, Hans-Böckler Stif- tung) identifiziert werden, wobei hier ein klares Übergewicht neo- bzw. ordoliberaler Think Tanks besteht. Diese ungleiche Machtverteilung bietet auch eine mögliche Erklärung für ein, insbesondere im Zuge der deutschen Krisenpolitik attestiertes, „Fortleben“ bzw. „Revival“ eines explizit konservativ verstandenen Ordoliberalismus, das die außergewöhnliche Persistenz neoliberaler Anschauungen und Politiken unter deutschen Wirtschafts- und Politikeliten erklären würde.
[1] - Die Colander Klassifizierung weist die neuen Forschungs- bereiche behavioral economics, experimental economics, evo- lutionary game theory, computational economics, ecological economics und economic geography aus.