Karl Beyer, Christian Grimm, Jakob Kapeller, Stephan Pühringer
Auf einen Blick
Gegenstand der Studie ist eine vergleichende Bestandsaufnahme des aktuellen Profils und der zukünftigen Entwicklungstendenzen in der deutschen und US-amerikanischen Volks- wirtschaftslehre (VWL). Hintergrund ist die Frage nach einem deutschen Sonderweg in der Ökonomie. Hierfür werden die derzeit tätigen VWL-Universitätsprofessor_innen in Deutschland und den USA im Hinblick auf ihre thematische und inhaltliche Ausrichtung sowie auf ihr akademisches und außeruniversitäres Wirkungsspektrum untersucht.
In der Erhebung wurden 1139 VWL-Professor_innen an 102 verschiedenen Standorten erfasst. In beiden Ländern sind Frauen auf Lehrstuhlebene ähnlich unterrepräsentiert. In Deutschland werden gegenwärtig 76 (13,36 %) der 569, in den USA 73 (12,81 %) der 570 Planstellen von Frauen gehalten. Der enorme Unterschied von neun Jahren beim Altersdurchschnitt – in Deutschland 51, in den USA 60 Jahre – kann auf die unterschiedliche Rechtssituation zur altersbedingten Emeritierung zurückgeführt werden. In Deutschland (89,77 %) ist zudem der prozentuale Anteil inländischer Professor_innen weitaus höher als in den stärker internationalisierten USA (70,83 %).
Die thematische Forschungsausrichtung ist für beide Länder nahezu gleich. Bei der Analyse der von den Professor_innen selbst angegebenen Forschungsinteressen stimmten 17 der 20 meistgenannten, primär mikroökonomisch orientierten Schlagwörter zwischen Deutschland und den USA überein. In Folge wurden jeweils mehr als die Hälfte der Professor_innen in der Mikroökonomie verortet. Während die Prozentsätze der als makroökonomisch (~18 %) bzw. als themenübergreifend (~16 %) eingestuften Personen in beiden Ländern etwa gleich groß sind, nimmt die Finanzwissenschaft in Deutschland eine vergleichsweise stärkere Rolle ein (7,39 % gegenüber 2,48 % in den USA). Demgegenüber besitzt die VWL in den USA tenden- ziell eine stärkere ökonometrische Fundierung.
Eine paradigmatische Klassifizierung wurde anhand der Pu- blikationen in ökonomischen Fachzeitschriften durchgeführt und offenbart für beide Länder eine starke Konzentration rund um den neoklassisch geprägten Mainstream (D 91,61 %, USA 93,93 %). Des Weiteren entfallen jeweils rund 5 % auf die Gruppe des pluralen Mainstreams, die ihren Schwerpunkt zwar im Mainstreambereich hat, sich aber auch an abweichenden (heterodoxen) Diskursen beteiligt. Die Heterodoxie nimmt mit lediglich 20 zugewiesenen Professor_innen eine stark marginalisierte Stellung ein – wobei der Anteil in Deutschland (3,04 %) etwas höher ausfällt als jener in den USA (0,54 %). Die bedeutsamsten dieser nur noch am Rande behandelten Strömungen sind der Postkeynesianismus und die Evolutionäre Ökonomie. In Deutschland gibt es fünf v. a. kleinere Standorte mit einem Non-Mainstreamanteil von 50 % oder mehr (Bremen 100 %, Darmstadt und Oldenburg je 60 %, Jena und Lüneburg je 50 %). Die höchsten Werte in der Stichprobe für die US-Erhebung wurden an den Universitäten Wisconsin-Milwaukee (37,50 %) und New York Binghamton (18,18 %) ermittelt. Dies heißt, dass die Homogenisierung der VWL in den USA in dieser Hinsicht weiter vorangeschritten ist als in Deutschland. In beiden Ländern wurden bei rund 15 % aller Professor_innen Forschungsinteressen identifiziert werden, die mit partiellen inhaltlichen/methodischen Veränderungen des ökonomischen Mainstreams assoziiiert werden (vorwiegend: Verhaltensökonomie und Ex- perimentelle Ökonomie). Diese Tendenz hat allerdings nicht zur Auflösung der bestehenden Gegensätze zwischen Mainstream und Heterodoxie geführt.
Eine zentrale Besonderheit der deutschen VWL ist das Vorhandensein ordnungstheoretischer und -politischer Konzeptionen (8 %), was auf die zentrale Bedeutung der Freiburger Schule der Nationalökonomie in der BRD der Nachkriegsjahre zurückzuführen ist. Die 1948 gegründete Zeitschrift ORDO dient dieser Gruppe als ein zentrales Publikationsorgan. Rund ein Viertel der als ordoliberal klassifizierten Beiträge wurden in diesem Journal veröffentlicht. Bei der US-Erhebung zeigte sich hinge- gen keine Verbindung zu dieser Strömung.
18,39 % (D) bzw. 21,25 % (USA) der Professor_innen beschäftigen sich seit 2008 mit der Finanz- und Wirtschaftskrise. Der Anteil variiert je nach Zuordnung des Teilgebiets bzw. je nach Denkrichtung deutlich. Personen aus dem Teilgebiet der Makroökonomie beschäftigen sich in 52,34 % (D) bzw. 63,73 % (USA) der Fälle mit der Krise. Hingegen konnte bei nicht einmal jedem Zehnten aus dem Teilgebiet der Mikroökonomie ein solcher Bezug festgestellt werden. Zudem besitzen Professor_innen mit heterodoxer Forschungsausrichtung einen dreimal so hohen Krisenbezug wie jene aus dem ökonomischen Mainstream.
Abbildung 1: Entwicklungstendenzen in der deutschen Ökonomie; Quelle: eigene Erhebung
Zur Ermittlung von Entwicklungstendenzen in der deutschen Ökonomie (Abb. 1) wurden die Professor_innen anhand ihres akademischen Alters (Jahr der Promotion) in verschiedene Kohorten eingeteilt. Die Analyse der Geschlechterverteilung ergab einen über die Zeit hinweg anwachsenden Prozentsatz weiblich besetzter Lehrstühle, welcher von rund 10 % in der ältesten Gruppe auf rund 20 % in den jüngeren Gruppen ansteigt. Bei jüngeren Professor_innen konnte sowohl eine Verfestigung der mikroökonomischen Forschungsausrichtung als auch eine zunehmende paradigmatische Verengung festgestellt werden. Letzteres Ergebnis ist als Indiz für die fortschreitende Margina- lisierung heterodoxer Ansätze zu deuten. Die Präsenz ordoliberaler Ideen in der deutschen Ökonomie wird zu einem großen Teil von Professor_innen aus älteren Generationen getragen. Auch setzen sich ältere Professor_innen vermehrt mit Themen zur Finanz- und Wirtschaftskrise auseinander.
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In der innerakademischen Vernetzung offenbart sich die zent- rale Rolle des Vereins für Sozialpolitik (VfS) (65 % der Profes- sor_innen sind Mitglied) für Deutschland. In den USA kommen der American Economic Association (AEA) (64 %) und der Econometric Society (40 %) wichtige Vernetzungsfunktionen zu. Unter pluralen und heterodoxen Professor_innen fallen dem VfS (83 %), der AEA (71 %) und der Econometric Society (41 %) eine noch bedeutsamere Rolle zu. In Deutschland haben für die Vernetzung pluraler und heterodoxer Ökonom_innen auch Vereinigungen wie der Arbeitskreis Politische Ökonomie (15 %), die International Joseph A. Schumpeter Society und die European Society for the History of Economic Thought (9 %) eine beträchtliche Relevanz.
Die Analyse der außerakademischen Vernetzung geht verschiedenen Kanälen und Ebenen der Einflussnahme der Volks- wirtschaftslehre auf die gesellschaftspolitischen Entwicklungen nach. Auf der Ebene der unterstützenden Politikberatung (policy support) stellen für Deutschland das CESifo München (120 Nennungen), das IZA Bonn (74), das Center for European Policy Research (CEPR) (56) sowie das ZEW Mannheim und das DIW Berlin (39) die quantitativ bedeutendsten Institutionen dar. In den USA sind neben dem US-Think Tank National Bureau for Economic Reserach (283) mit dem IZA Bonn (63), dem CEPR (54) und dem CESifo (45) ebenfalls europäische Institutionen bedeutsam. Weiteren akademisch geprägten US-Think Tanks kommt hingegen nur eine nachrangige Rolle zu. Anders als in Deutschland weisen US-Ökonom_innen nennenswerte Verbindungen zu den Forschungsabteilungen von internationalen (wirtschafts-)politischen Organisationen und Notenbanken auf. Auf der Ebene der aktiven wirtschaftspolitischen Einflussnahme (policy involvement) konnten für Deutschland v. a. neo- bzw. ordoliberale Akteursnetzwerke (z. B. Walter Eucken Institut, Kronberger Kreis, F.A. Hayek Gesellschaft, INSM), aber auch keynesianisch geprägte Expert_innengruppen (z B. Keynes Gesellschaft, Hans-Böckler Stiftung) ermittelt werden. Im Unterschied dazu weisen Professor_innen in den USA kaum Verbindungen zu advokatorischen, also politisch klar verorteten Think Tanks auf. Allerdings positionieren sich die Ökonom_innen in den USA über öffentliche Briefe und politische Wahlempfehlungen. Eine personenzentrierte Auswertung von 30 Ökonom_innen-Briefen und von Wahlempfehlungen zu den letzten drei Präsidentschaftswahlen ergibt eine klare politisch-ideologische Blockbildung aus demokratisch und republikanisch orientierten Ökonom_innen, wobei der demokratische Block deutlich größer ausfällt (Abb. 2). Gegensätzlich hierzu verhält es sich mit Blick auf die wirtschaftspolitische Think-Tank-Landschaft in den USA, wo Think Tanks der ideologischen Mitte und v. a. des konservativen und libertären Spektrums eine stärkere Vernetzung aufweisen.
Abbildung 2: Personenzentrierte Analyse öffentlicher Briefe und Wahlempfehlungen von Ökonom_innen
Hinsichtlich der wirtschaftswissenschaftlichen bzw. wirtschaftspolitischen Politikberatung gibt es zwischen Deutschland und den USA beträchtliche institutionelle und personell-ideologische Unterschiede. In Deutschland sind die wichtigsten, dauerhaft institutionalisierten Beratungsgremien (Sachverständigenrat, wissenschaftliche Beiräte beim BMF und BMWi) von der Politik unabhängig, was zwar ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit sicherstellt, aber auch ihre poten- tielle direkte Einflussnahme einschränkt. Gleichzeitig macht eine personenzentrierte Auswertung dieser drei Gremien ihre bemerkenswerte ordoliberale Schlagseite sichtbar. Einerseits weisen von den 34 aktiven Professor_innen, welche diesen Gremien angehör(t)en, 40 % im Rahmen ihrer Publikationstätigkeit einen ordoliberalen Bezug auf. Andererseits konnten bei 46 % der Gremienmitglieder direkte Verbindungen zu deutschen neoliberalen Netzwerken – im Vergleich zu nur zwei Personen mit Verbindungen zu keynesianisch-alternativen Institutionen– festgestellt werden. Im Unterschied dazu unterstehen in den USA mit dem CEA und dem National Economic Council die zwei wichtigsten wirtschaftspolitischen Beratungsgremien unmittelbar dem Präsidenten, der die führenden Mitglieder dieser Gremien auswählt. Aufgrund ihrer institutionellen Ausgestaltung verfügen diese Gremien über einen höheren potentiellen Einfluss als deutsche Beratungsgremien. Zusätzlich gibt es mit dem Congressional Budget Office und dem dort ansässigen Panel of Economic Advisers auch eine wichtige wirtschafts- politische Beratungsinstitution aufseiten der US-Legislative. Ein personenzentrierter Abgleich der Mitglieder dieser drei Gremien mit den öffentlichen Briefen und Wahlempfehlungen ergibt ebenfalls eine ausgeprägte politisch-ideologische Block- bildung mit demokratischer Schlagseite. Auf der Ebene von Think-Tank-Vernetzungen offenbart sich wiederum eine stärkere Vernetzung von republikanisch orientierten Ökonom_innen in rechts-konservativen bzw. libertären Think Tanks.
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