“Die Verwandlung”: Ringen um einen neuen Wohlstandsbegriff

Exploring Economics
Niveau: débutant
Perspectives: Économie écologique, Économie féministe, Autre
Sujet: (Dé-)croissance, Race & Gender
Format: Essay

                          

Dieses Essay entstand im Rahmen einer Kooperation mit dem Seminar "Gender und Ökologie in der Ökonomie", als Teil des Q-Programms des bologna.lab an der Humboldt-Universität zu Berlin.

 

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„Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“
Franz Kafka

 

“Die Verwandlung”: Ringen um einen neuen Wohlstandsbegriff

Löst der Genuine Progress Indicator (GPI) die ökologische und feministische Kritik am Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf?

 

Autor*innen: Mira Leo und Pascal Kraft

Review: Kerstin Hötte


 

Erster Teil

“Gregor Samsa wacht eines Morgens auf und stellt fest, dass er „zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ wurde. Er hält diese Verwandlung anfangs nur für vorübergehend und stellt sich erst langsam den Konsequenzen seiner unfreiwilligen Metamorphose.”   Die von Franz Kafka beschriebene Transformation in seiner 1912 erschienen Erzählung “Die Verwandlung” beschreibt den unfreiwilligen, bizarren Übergang des Gregor Samsa, indem er sich selbst und sein Umfeld verliert. Zunächst unfähig aufzustehen und das Bett zu verlassen, reflektiert Gregor über seinen Beruf als Handelsreisender und Tuchhändler: Wäre er nicht alleiniger Familienernährer, der die Schulden seines bankrott gegangenen Vaters abarbeiten muss, würde er augenblicklich kündigen und dem despotischen Arbeitgeber „vom Grunde seines Herzens aus“ die Meinung sagen. So aber ist er in anscheinend unüberwindbare ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse verstrickt.

Ein Gregor Samsa, der die heutige Gesellschaft wiederspiegeln würde, sähe sich  konfrontiert mit den Umständen des überhand nehmenden Ressourcenverbrauchs, des menschengemachten Klimawandels, eines demographischen Wandels und einer weiter auf Ungleichheit und Hierarchien aufbauenden Welt. Er würde sich weiter dem Irrglauben hingeben, dass sein “alter”, “normaler” Zustand zurückkehrt und nicht akzeptieren, dass die alten Indikatoren, die das Leben einst bestimmten und definierten, nicht mehr zu den aktuellen Lebensumständen passen. Dies ist die Geschichte von einem Indikator, dessen Wirkung auf Gesellschaft und Politik wir kritisch hinterfragen wollen: das Bruttoinlandsprodukt.

“Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst die Produktion von Waren und Dienstleistungen im Inland nach Abzug aller Vorleistungen. [...] [Es] dient als Produktionsmaß und damit als Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft.”Diese Definition durch das Gabler Wirtschaftslexikon  bringt die wichtigsten Funktionen des BIP zum Ausdruck: es stellt dar, welchen Marktwert die Wirtschaft eines Landes produziert, und macht dadurch möglich, die Leistung zu beziffern und mögliches Wachstum zu erfassen. Daran wird der “Erfolg und Misserfolg der jeweiligen Wirtschaftspolitik” beurteilt. Diefenbacher et. al. sprechen hier von einem “traditionellen Schlüsselindikator”.  Das Positive am BIP ist aus ökonomischer Sicht die gute Vergleichbarkeit. Die Berechnung der Kennzahl ist international standardisiert, sämtliche wirtschaftliche Aktivitäten werden zu einer Zahl zusammengefasst, die sich mit allen anderen Zahlen vergleichen lässt. Diese Eigenschaft weisen alternative Wohlstandsindex wie zum Beispiel der „Happy Planet Index“ nicht auf. Vergleichen lassen sich Einheiten wie Global-Hektar, der beim HPI benutzt wird, und Mrd. Euro, wie beim BIP, nur schwer. Aber wie es mit vielen Traditionen so der Fall ist, werden Regeln, in ihrer langen Historie nicht auf ihre Sinnhaftigkeit oder zeitgemäße Umsetzung hin überprüft.

Das BIP hat Fehler. Wie sollte es auch anders sein: das BIP bildet als Zahl lediglich alle erwirtschafteten Produkte und Dienstleistungen ab, die auf dem Markt einen monetären Wert haben. In der Theorie kann so das BIP auch durch Ereignisse gesteigert werden, die sich negativ auf Menschen auswirken, etwa wie der Bruch eines Beines und die dadurch anfallenden Arztrechnungen. Die Ölpest im Golf von Mexiko im Jahr 2010 steigerte das BIP der USA, da die Beseitigungsarbeiten einen hohen ökonomischen Wert (18,7 Mrd. US$) hatten.

Dass Umweltverschmutzungen wie diese vom BIP sowohl bei der Entstehung (Förderung von fossilen Energieträgern wie Erdöl) als auch bei der Beseitigung (aufwändige und nur teils erfolgreiche Reinigung des verschmutzten Wassers und Küsten ) positiv in die Rechnung miteinbezogen werden, ist ein klarer Nachteil für nachhaltige ökonomische Bemühungen. Denn so wird Wirtschaftswachstum ohne seine möglichen wohlstandsmindernden Effekte bewertet. Lange Zeit, insbesondere nach der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg, wurde in westlichen Industrieländern steigendes WIrtschaftswachstum mit steigendem gesellschaftlichen Wohlstand gleichgesetzt. Insbesondere zur Nachkriegszeit in Deutschland ging diese Rechnung gut auf, und nur stückweise wird deutlich, dass externe Effekte des wirtschaftlichen Wachstums negative Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Wohlstand haben können.

Auch soziale Probleme werden vom BIP nicht berücksichtigt. Einkommensverteilungen innerhalb der Gesellschaft werden nicht unterschieden, unbezahlte Arbeit jeglicher Art, etwa Care- oder Reproduktionsarbeit (wie insbesondere von Frauen ausgeführte Hausarbeitstätigkeiten, die Erziehung von Kindern oder die Pflege kranker oder alter Menschen), aber auch das Ausführen von Ehrenämtern, tragen keinen messbaren Wert zur Berechnung bei, sofern diese Tätigkeiten ohne Entlohnung ausgeübt werden und damit keinerlei Marktanteil haben. Hier setzt auch die feministische Kritik an.

Die Feministische Kritik situiert sich, in eben jenem Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis, zwischen akademischen und aktivistischen, lokalen und globalen Praxen,wobei es zu ihrem Selbstanspruch gehört, die Spannungen zwischen den Polen weder zu beruhigen noch aufzulösen, sondern sie durch ein Aufzeigen der im Spannungsfeld wirksamen Widersprüche aufrecht zu erhalten. Die Kritik an globalen Herrschaftsverhältnissen, wie bei der beschriebenen ungerechten Einkommensverteilung und der darin rein streuenden Debatte ums Patriarchat oder den Sexismus innerhalb der Gesellschaft, steht diese in einer Spannung zur Beschreibung diverser Ungerechtigkeitserfahrungen, die meist an der Schwelle des Wahrnehmbaren zum Nicht-mehr-Wahrnehmbaren stehen.

Daher stellt sich die Frage: ist das BIP wirklich der Wert, an welchem wir den Fortschritt eines Landes und einer Gesellschaft messen sollten? Wir sollten über den Punkt hinaus kommen, an welchem wirtschaftlicher Erfolg mit Wirtschaftswachstum und gesellschaftlichem Fortschritt gleichgesetzt wird. Stattdessen könnte die Art, wie wir wirtschaften, als Mittel zum Zweck für eine Gesellschaft dienen, die ihren Wohlstand neu definiert und nicht mehr von quantitativem Wachstum abhängig macht. Wie wir Wohlstand weltweit bewerten und messen, hat doch einen elementaren Einfluss auf die Weisen, wie wir Entscheidungen treffen und wie wir wirtschaften, was wiederum Einfluss auf unsere ökologischen Systeme und sozialen Strukturen hat.

Das BIP  ist heute die wichtigste Kenngröße, nach der (nicht nur) Wirtschaftspolitik weltweit ausgerichtet wird. Er wird oft als Wohlstandsindikator fehlinterpretiert, wie Willmroth (2010) in Spiegel Online kommentiert.

Schon 1972 veröffentlichte der sogenannte Club of Rome einen Bericht über die „Grenzen des Wachstums“, in dem auf die Endlichkeit von Ressourcen hingewiesen wird. Im Artikel “Green Growth bietet genug Anlass zur Kritik” auf dem Blog Postwachstum kritisiert Riousset (2016), dass mit dem BIP kein nachhaltiges Wachstum erreicht werden kann, da die Argumentationsketten der Green-Growth Bewegung ohne jeglichen Verzicht in Richtung einer nachhaltigen Zukunft zu gehen verspricht, was angesichts der steigenden Bevölkerungszahlen, Rebound-Effekten und der inhärenten Logik des Wachstumparadigmen nicht mehr als ein soziologischer Mythos zu sein scheint. Ohne den Wandel hin zu einer Kultur der Suffizienz, einer gerechteren Ressourcenverteilung, tiefgreifenden Veränderungen des Konsumverhaltens und ökonomischen Systems sowie einer klaren Distanzierung vom Wachstumsparadigma und der gesellschaftlichen Ausbeutung der Natur wird der technologische Fetischismus nicht ausreichen, um die planetaren Grenzen zu berücksichtigen und unsere Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. 

Über die Eindimensionalität des BIP wird auch in der politischen Parteienlandschaft in Deutschland gerungen. Der deutsche Bundestag gründete Ende 2010 die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“, als Antwort sowohl auf die Kritik am BIP als Wohlstandsindikator als auch auf die nach der Finanzkrise wieder aufgeheizte Debatte, ob und zu welchem Preis ein gesteigertes Wachstum in Deutschland nötig und vertretbar sei. Seitdem wird in dieser Kommission erarbeitet, wie Wohlstand und Fortschritt in Deutschland über mehr als das BIP als Messgröße für wirtschaftliches Wachstum erfasst werden kann. Das BIP erweiternde Indikatoren sollen dabei helfen, einen Wohlstandsbegriff zu ermitteln, der auch Themen der Nachhaltigkeit umfasst.

Hierbei sollten vor allem die Aspekte materieller Lebensstandard, Zugang zu Arbeit und deren Qualität, die gesellschaftliche Verteilung von Wohlstand, intakte Umwelt und die Verfügbarkeit begrenzter natürlicher Ressourcen, Bildungschancen und Bildungsniveaus, Gesundheit und Lebenserwartung, Qualität öffentlicher Daseinsvorsorge, sozialer Sicherung und politischer Teilhabe und letztendlich die subjektive Einschätzung der Menschen zu ihrer Lebensqualität berücksichtigt werden. Unter diesen Aspekten sollte die Enquete-Kommission einen neuen Indikator entwickeln, der das BIP ergänzt und dabei auch auf die Erfahrungen mit bereits bestehenden alternativen Indikatoren zurückgreifen.

Zu den konkreten Kernbotschaften der Expertise, bestehend aus 17 Abgeordnet*innen und 17 Wissenschaftler*innen aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen, zählen das Plädoyer für eine schärfere Regulierung der Finanzmärkte, Vorschläge für eine ökologische Ausrichtung der Chemiebranche und die Forderung, die ökologischen Grenzen des Planeten auch als Grenzen der Politik zu akzeptieren. Als Erfolg verbucht wurde ein von Union, SPD und FDP entwickeltes neues "W3-Indikatoren"-Modell, mit dessen Hilfe die gesellschaftliche Wohlfahrt neu berechnet werden soll, um der Politik eine neue Handlungsschnur vorzugeben. Das "W3"-Konzept, soll die Wohlfahrt nicht mehr nur über das BIP, sondern über die drei Wohlstandsdimensionen "materieller Wohlstand", "Soziales und Teilhabe" sowie "Ökologie" ermitteln. Diese drei Kriterien werden über 20 "Leitindikatoren", "Warnlampen" und "Hinweislampen" wie etwa Artenvielfalt, Ausstoß von Treibhausgasen, Beschäftigungsquote, BIP oder Einkommensverteilung berechnet.

 

Abb. 1: Leitindikatoren aus Dimensionen des Wohlstands (Bundesfinanzministerium 2013)


Zweiter Teil

Eine in der Praxis bereits bestehende Alternative ist der sogenannte Genuine Progress Indicator (Echter Fortschrittsindikator), kurz GPI. Er hat den Anspruch, die Defizite des BIP zu korrigieren und somit alle sozialen und ökologischen “Risiken und Nebenwirkungen” von wirtschaftlicher Entwicklung zu bepreisen und dadurch sichtbar zu machen.  Das bedeutet, dass der GPI in der gleichen Art und Weise wie das BIP berechnet wird, indem allen Faktoren ein monetärer Wert gegeben wird, nur wird er durch weitere ergänzt. Das hat den Vorteil, dass es sich gut mit dem BIP vergleichen lässt und dadurch deutlich dessen Defizite hervorgehoben werden können, wenn die Differenz zwischen BIP und GPI beispielsweise sehr stark ist.

So werden Investitionen  von wohlstandsmindernden Folgekosten wie beispielsweise Umweltschäden negativ berechnet. Anders als das BIP, bei dessen Berechnung die Ausbeutung natürlicher Ressourcen positiv einfließen kann, wenn dadurch eine monetäre Wertschöpfung entsteht, gelten diese beim GPI dagegen als laufende Ausgabe. Wirtschaftliche Aktivitäten, die zum Teil starke Umweltverschmutzungen zur Folge haben, fließen ebenso in die Berechnungen des BIP ein wie deren notwendigen Beseitigungen, wohingegen bei der Berechnung des GPI die Kosten der Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt negativ eingehen.  Außerdem unterscheidet der GPI zwischen dem Betrag, der für Konsumgüter ausgegeben wird, und ihrem tatsächlichen Nutzen. So soll sich eine längere Produkthaltbarkeit positiv auf den GPI auswirken, wohingegen das BIP stets die Neuanschaffung eines Produkts positiv berechnen würde.

Unbezahlte (Care- und Reproduktions-) Arbeit, die im BIP nicht berücksichtigt wird, da sie keinen Marktanteil hat, fließt in den GPI so mit ein, als würde eine außenstehende Person dafür angestellt werden. Auch die Einkommensverteilung ist im BIP nicht berücksichtigt. Der GPI hingegen steigt (sinkt), wenn das Einkommen ärmerer Haushalte relativ zum Durchschnittseinkommen steigt (sinkt). Ein zusätzlicher Euro, den ein Mensch mit niedrigen Einkommen verdient, fällt also mehr ins Gewicht als ein zusätzlicher Euro des Einkommens einer wohlhabenden Person.

Doch auch der GPI ist nicht frei von Schwächen. Zu hinterfragen ist die Annahme, jegliche Faktoren, die den gesellschaftlichen Wohlstand abbilden, könnten in monetäre Werte umgewandelt werden. Der GPI stellt sich hiermit ebenso wie das BIP in einer zu steigernden Geldeinheit dar und verharrt damit in der Logik des unüberwindbaren Wirtschaftswachstums. Denkbar wäre schließlich auch, die Wirtschaft auf die Steigerung eines anderen, nicht monetären Index auszurichten und dabei die Annahme zu hinterfragen, gesteigerter Konsum sei das allgemeine gesellschaftliche Bedürfnis, welchem die Wirtschaft nachkommen müsse.

Die monetäre Bewertung des GPI suggeriert außerdem, dass einzelne Größen durch andere substituiert werden können. Die von Postwachstums-Theorien (siehe auch: Ökologische Ökonomik) geforderte Transformation der Gesellschaft weg von Konsum und materiellem Wachstum, bei gleichzeitigem Anstieg des gesellschaftlichen Wohlstands, kann daher durch den GPI unter Umständen nicht ideal dargestellt werden.  Maja Göpel, Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU), beschreibt die Kritik am Wachstum ganz allgemein sehr treffend mit dem „Ökonomischen Paradox“, dass es den Menschen nach Ansicht der Ökonom*innen immer besser gehe, je mehr sie konsumieren (können). Wachsender Wohlstand kann nicht mit wachsendem Konsum gleichgesetzt werden. Wohlstand, Zufriedenheit und Glück lassen sich nicht allein mit materiellen Konsumeinheiten befriedigen. Sind Grundbedürfnisse wie Sicherheit, soziale Beziehungen, Wohnraum und Nahrung befriedigt, nimmt auch die Zufriedenheit einen suffizienten Status ein. Mehr Konsum bedeutet offenkundig nicht mehr Wohlstand.

In Deutschland wird das BIP offiziell bereits mit Nachhaltigkeitsindikatoren erweitert. Diese 38 Indikatoren werden regelmäßig vom statistischen Bundesamt errechnet und veröffentlicht. Das öffentliche Interesse daran hielt sich allerdings, vermutlich wegen des Umfangs von 38 verschiedener Indikatoren, in Grenzen. Der GPI hat den Vorteil, dass er alle Werte innerhalb eines kohärenten, nachvollziehbaren Gesamtsystems definiert, gewichtet und bewertet. Die Indikatoren lassen sich immer noch einzeln betrachten, sowie im Zusammenhang weiter analysieren. Das monetäre Maß des Index kann als Orientierung und politische Zielgröße anschaulicher und überzeugender wirken als andere synthetische Indizes.

Von den aktuell existierenden Alternativen zur Messung von Wohlstand und Fortschritt ist der GPI der bisher einzige mit dem Anspruch, das BIP vollständig zu ersetzen.  Doch inwiefern ist der GPI, im Vergleich zum BIP, überhaupt praxistauglich? Zum Rio+20-Gipfel 2012 startete das "International Program on Genuine Progress Accounts (IPGPA)", um Regierungen international ein Instrument zur Fortschrittsmessung an die Hand zu geben. Gerade auf regionaler oder lokaler Ebene muss sich ein solcher Index zunächst bewähren. Gegenüber dem europäischen ISEW (Index of Sustainable Economic Welfare) ist der GPI bereits in der praktischen Anwendung viel weiter verbreitet und durch den Praxistest in den USA, Kanada, Australien und weiteren, auch europäischen Ländern, fortgeschrittener. Seit 2012 verwendet der US-Bundesstaat Maryland den GPI als zentrale Kennzahl für seine ökonomische Performance und als Basis für legislative und budgetäre Entscheidungen.

Ein solcher Indikator sollte eine möglichst realistische Bestandsaufnahme des Zustands eines Systems oder einer Gesellschaft in einem zeitlichen Rahmen ermöglichen, um diese vergleichen zu können. Auch die Bundesstaaten Oregon, Vermont und Washington State haben den GPI so in ihre Politik eingebunden. GPI Zeitreihen wurden darüber hinaus bereits für die USA, Australien, Österreich, Kanada, Chile, Frankreich, Finnland, Italien, die Niederlande, Schottland und GB berechnet. Dabei wird in den meisten Fällen eine hohe Disparität zwischen der Entwicklung des BIP und der Entwicklung des GPI deutlich. Während in vielen der Länder das BIP steigt, stagniert der GPI gleichzeitig meist bei deutlich niedrigeren Werten oder nimmt sogar zeitweise ab.

 


 
Abb. 2: Vergleich BIP (GDP) pro Kopf & GPI pro Kopf (Kubiszewski 2013)


Dritter Teil

Der GPI setzt an zwei Punkten wesentlich an feministischer Kritik des BIP an. Zum einen gibt er Reproduktions- und Care-Arbeit gesellschaftliche und wirtschaftliche Anerkennung, indem sie monetär erfasst wird. Es wird ihr ein Geldwert zugeschrieben, der in die Berechnung einfließt. Die Arbeit wird dabei so erfasst, als würde eine Person von außen dafür angestellt und entlohnt. Das ist in der Realität schon öfters der Fall. Wenn Care- und Reproduktions-Arbeit von Outsourcing betroffen sind, zum Beispiel durch das Anstellen von (weiblichen) Migrant*innen als Haushälter*innen, dann wird dies als bezahlte Dienstleistung vom BIP erfasst. Das bedeutet aber nicht, dass die Arbeit eine größere Wertschätzung in der Gesellschaft erfährt, noch, dass sie ausreichend bezahlt wird. Der Care-Sektor ist selbst, wenn er im BIP erfasst wird, ein “hochgradig feminisiert[er] und prekär bezahlt[er]” Wirtschaftsbereich.  Das lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass “der Frau” in der Gesellschaft aufgrund ihrer reproduktiven Eigenschaften diese Art von Arbeit als selbstverständlich zugeteilt wurde. Die Vorstellung, Frauen verrichten unbezahlte Care- und Reproduktionsarbeit gerne, da es quasi zu ihrer Natur gehört, rechtfertigt die geringe Wertschätzung jener Arbeit in der Wirtschaft und Gesellschaft in keinster Weise. Eine Vermarktlichung unbezahlter Care-Arbeit kann jedoch nicht die alleinige Lösung zu sein, um die feministische Kritik am BIP aufzulösen. Wird unbezahlte Care- und Reproduktionsarbeit durch den GPI erfasst, so wird sie sichtbar gemacht, das Problem bleibt jedoch erhalten, dass typisch weibliche Arbeitsverhältnisse oft unter- oder gar unbezahlt sind.

Wenn wir Wirtschaften einmal im Sinn des Wortes als das “Schaffen von Werten” verstehen würden, so kann man die Frage stellen, “welche Werte denn da geschaffen werden- und für wen.” 14 Geschaffen werden unserem System adäquate monetäre Werte. Diese werden Care- und Reproduktions-Arbeit zugeschrieben, Tätigkeiten also, bei denen sorgebedürftige Menschen von Menschen umsorgt werden. Solche Tätigkeiten haben allerdings nicht nur einen messbaren, also quantitativen Wert, sondern vielmehr einen qualitativen. Care- und Reproduktions-Arbeit ist heute also nicht nur viel zu häufig unbezahlt, sonder vor allem unbezahlbar, wie wir an der Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen sehen können. Staatliche Institutionen, wie Schulen und Altenheime, können nur begrenzt für diese Arbeit aufkommen.  Zumindest an dem einen Ende dieses Problems kann aber der GPI ansetzen, indem er den quantitativen Wert in die Wirtschaft einbettet. Die Wertschätzung dieser Art von Arbeit muss darüber hinaus auch auf eine gesellschaftliche und politischer Ebene, welche sich durch soziale Anerkennung der Berufe und finanzielle Anreize auszeichnet, weiter angehoben werden.

Dafür scheint das BIP jedoch kein ausreichender Gradmesser  zu sein, ein alternativer Indikator wie der GPI ist zumindestens ein Schritt in die richtige Richtung. So gesehen ist es besser, unbezahlte Care- und Reproduktions-Arbeit in fiktiven monetäre Größen in eine wirtschaftlich relevante Kennziffer mit einfließen, als ganz außer Acht zu lassen. Einen relevanten Effekt wird das aber nur haben, wenn der GPI das BIP in seiner Relevanz für politische Entscheidungen ersetzen würde. Care- und Reproduktions-Arbeit sollte nicht dem wirtschaftlichen Wachstumszwang erliegen. Wohlstand muss auch an der Zufriedenheit der Menschen innerhalb der Wirtschaft gemessen werden.

Der GPI berücksichtigt die Einkommensverteilung, die im BIP nicht erkennbar ist. Durch prekäre Arbeitsverhältnisse von Frauen weltweit, durch erschwerte Marktzugänge, Erwerbslosigkeit, durch unbezahlte Arbeit oder ungleichen Zugang zu Bildung ist Armut oft ein weibliches Problem.  Während das BIP diese Ungleichheiten übergeht, damit also keinerlei Abbild des tatsächlichen Fortschritts einer Gesellschaft darstellt, versucht der GPI mit seinen zahlreichen Indikatoren Abhilfe zu schaffen.

Franz Kafka schreibt: “Wege entstehen dadurch, dass man sie geht”. Ideale Lösung gibt es nicht. Der GPI löst die ökologische und feministische Kritik am BIP nicht gänzlich auf, ist jedoch durch seine realitätsnähere Betrachtungsweise, gegeben durch die Indikatoren, welche gesellschaftliche Ungleichheit bzw. ökologischen Raubbau aufzeigen, ein Schritt in die richtige Richtung.

Die aktuellen ökologischen und gesellschaftlichen Krisen warten nicht auf eine Gesellschaft, welche im Reflektionsmodus verharrt. Es müssen alternative Wege gegangen und neue Hürden überwunden werden. Wenn der aktuelle Weg zunehmend zu Krisen führt, so müssen wir ihn anpassen oder, besser noch, ganz ändern.

Ein Gregor Samsa, welcher noch lange von seiner Schwester, auch als Insekt, versorgt wurde, muss letztendlich erkennen, dass er nicht länger erwünscht ist, und stirbt, völlig ausgemergelt, noch vor dem nächsten Sonnenaufgang. Eine Gesellschaft, welche nicht in der Lage ist, sich neuen Umständen anzupassen, stirbt unweigerlich aus. Eine Überarbeitung unseres Wohlstandsbegriffs, im Einklang, die planetaren Grenzen zu achten, ist überfällig und erlaubt vor dem Hintergrund einer intergenerativen Gerechtigkeit keinen Aufschub mehr.

 

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Literatur

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