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Quelle: van Treeck, Till, and Janina Urban. Wirtschaft neu denken: Blinde Flecken in der Lehrbuchökonomie. iRights Media, 2016. Das Buch kann hier bestellt werden: http://irights-media.de/publikationen/wirtschaft-neu-denken/.
Rezensierte Bücher:
Mankiw, N.G./Taylor, M.P. (2016): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 6. Auflage, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 1172 Seiten. Im Folgenden zitiert als MT. (Abb: Schäffer-Poeschel)
Samuelson, P.A./Nordhaus, W.D. (2010): Volkswirtschaftslehre, 4. Auflage, München: mi-Wirtschaftsbuch, FinanzBuch Verlag, 1104 Seiten. Im Folgenden zitiert als SN. (Abb: mi-Wirtschaftsbuch)
„Eine gleichmäßigere Einkommensverteilung wäre ja vielleicht sozial wünschenswert, aber wirtschaftlich schädlich.“ Nach diesem Muster wurden in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten wirtschafts- und sozialpolitische Debatten immer wieder geführt. So wurden in vielen Ländern der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer und die Unternehmenssteuern stark gesenkt. Mit dem Motto „Leistung muss sich wieder lohnen“ wurde dabei die Hoffnung ausgedrückt, dass Gutverdiener_innen einen größeren Ansporn hätten, Höchstleistungen zu bringen, wenn ihnen „mehr Netto vom Brutto“ bliebe. Zugleich wurde die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer_innen unter anderem durch die Schwächung des Flächentarifvertrags, die Reduzierung der Arbeitslosenunterstützung und die Lockerung des Kündigungsschutzes tendenziell verschlechtert. Begründet wurde diese Politik mit dem Ansatz der „trickle-down economics“, wonach eine steuerliche und regulatorische Entlastung von Unternehmen und reichen Privathaushalten letztlich auch für die einkommensschwachen Haushalte mit ökonomisch vorteilhaften Ergebnissen einhergehen sollte.
Doch war die „trickle-down economics“ erfolgreich? In den meisten größeren Volkswirtschaften ist die ökonomische Ungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen. Der Anteil der Löhne an den gesamtwirtschaftlichen Einkommen ist in den meisten Ländern gefallen. Spätestens seit der internationalen Finanzkrise ab 2007 wachsen die Zweifel an der effizienzsteigernden Wirkung höherer Ungleichheit (vgl. Behringer et al. 2013 für einen Literaturüberblick).
Im Folgenden wird die Darstellung des Zusammenhangs zwischen Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit in den beiden wohl einflussreichsten Ökonomie-Lehrbüchern aller Zeiten –„Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“ von N. Gregory Mankiw und Mark P. Taylor und „Volkswirtschaftslehre“ von Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus – beschrieben und mit alternativen makroökonomischen Ansätzen kontrastiert. Aus meiner Sicht ist die Positionierung der beiden Lehrbücher zu diesem für wirtschafts- und sozialpolitische Debatten so zentralen Thema derart einseitig und offensichtlich ideologisch geprägt, dass auf den Einsatz dieser Lehrbücher verzichtet werden sollte. Auf theoretischer Ebene bleiben in der Literatur seit langem diskutierte nachfrageseitige Argumente gänzlich unberücksichtigt, die auf eine potenziell gesamtwirtschaftlich destabilisierende Wirkung steigender Einkommensungleichheit hinweisen. Zudem werden die Forschungsergebnisse zu möglichen angebotsseitigen Effekten der Ungleichheit einseitig wiedergegeben.
Der „große Zwiespalt“
Samuelson/Nordhaus widmen dem Zusammenhang zwischen Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit ein ganzes Kapitel (SN, Kapitel 17, S. 491 ff.). Das Kapitel beginnt mit einem Zitat von Arthur Okun aus dem Jahr 1975: „[Der Konflikt] zwischen Gerechtigkeit und Effizienz [ist] unser größter sozioökonomischer Zwiespalt, der uns in der Sozialpolitik in Dutzenden von Facetten heimsucht. Wir können einfach nicht beides zugleich haben: Markteffizienz und Verteilungsgerechtigkeit.“ (SN, S. 491) Bei Mankiw/Taylor (2016, S. 4) wird der vermeintliche Zwiespalt bereits als Illustration der ersten der „zehn volkswirtschaftlichen Regeln“ („Alle Menschen stehen vor abzuwägenden Alternativen.“) postuliert (siehe den Beitrag von Helge Peukert in diesem Band): „Effizienz betrifft die Größe des ökonomischen Kuchens, Gerechtigkeit die Verteilung des Kuchens. Diese beiden Ziele stehen bei politischen Maßnahmen meist im Konflikt. […] Versucht die Regierung den ökonomischen Kuchen in gleichmäßigere Stücke zu schneiden, wird der ganze Kuchen kleiner.“ Samuelson/Nordhaus (2010, S. 502) verwenden statt des Bilds des zerschnittenen Kuchens die Analogie des löchrigen Eimers, in dem das Geld von Arm zu Reich transportiert wird: „Mit seinen Versuchen, eine Einkommensumverteilung von den Reichen hin zu den Armen vorzunehmen, kann der Staat unter Umständen der volkswirtschaftlichen Effizienz Schaden zufügen und das gesamte zur Verteilung verfügbare Einkommen schmälern.“
Beide Lehrbücher halten Gerechtigkeit und Umverteilung durchaus für legitime normative Ziele, die sich nicht allein und nicht einmal in erster Linie durch ökonomische Analyse beurteilen lassen: „Eine Gesellschaft lebt nicht von der Effizienz allein. Sie kann ganz bewusst die Entscheidung treffen, die Marktergebnisse zu beeinflussen, der Gerechtigkeit ein wenig nachzuhelfen und eine gerechtere Verteilung vom Einkommen und Wohlstand sicherzustellen.“ (SN, S. 255) „Während Effizienz ein Ziel ist, das ganz objektiv beurteilt werden kann, beinhaltet Gerechtigkeit normative Urteile, welche über die Volkswirtschaftslehre hinaus- und in den Bereich der politischen Philosophie gehen.“ (MT, S. 252)
Die Autoren der Lehrbücher nehmen aber für sich in Anspruch, aus ökonomischer Sicht die Kosten von Umverteilung und Gerechtigkeit identifizieren zu können. So leiten etwa Mankiw/Taylor (2016, S. 547) in ihr Kapitel 18 zum Thema „Einkommensungleichheit und Armut“ wie folgt ein: „Die unsichtbare Hand des Marktes bewirkt eine effiziente Allokation der Ressourcen, aber sie gewährleistet nicht notwendigerweise, dass die Ressourcen gerecht verteilt werden. Infolgedessen sind viele Volkswirte – aber nicht alle – der Ansicht, dass der Staat das Einkommen umverteilen sollte, um mehr Gleichheit zu schaffen. Indem der Staat dies tut, gerät er in Konflikt mit einer anderen der zehn volkswirtschaftlichen Regeln: Alle Menschen stehen vor abzuwägenden Alternativen. Wenn der Staat Maßnahmen ergreift, um die Einkommensverteilung gerechter zu gestalten, verzerrt er Anreize, verändert Verhaltensweisen und bewirkt eine weniger effiziente Ressourcenallokation.“
Aus meiner Sicht sind derart pauschale Stellungnahmen in einem Einführungslehrbuch schlicht atemberaubend. Erstens weiß jede/r Ökonom_in, dass „die unsichtbare Hand des Marktes“ nur unter sehr speziellen, in der Realität so gut wie nie erfüllten Bedingungen zu wirklich effizienten Ergebnissen führt (siehe die Beiträge von Claudius Gräbner und Torsten Heinrich in diesem Band). Zweitens ist der von Mankiw/Taylor wiederholt erweckte Eindruck, dass der Zusammenhang zwischen Verteilung und Effizienz grundsätzlich negativ und empirisch unabhängig vom Ausmaß der Ungleichheit unumstritten ist, anmaßend und irreführend, weil wichtige relevante Forschungsergebnisse einfach ausgeblendet werden.
Samuelson/Nordhaus (2010, S. 506) erkennen zwar die Notwendigkeit einer empirischen Betrachtung an, unterscheiden aber in ihrer Interpretation der vorhandenen Evidenz lediglich zwischen den mehr oder weniger großen Effizienzverlusten durch staatliche Umverteilung in einzelnen Ländern: „Eine vorsichtige Aussage könnte lauten, dass es durch Umverteilungsprogramme, wie es sie heute in den USA gibt, nur zu geringfügigen Verlusten an volkswirtschaftlicher Effizienz kommt. […] Doch Länder, deren Wohlfahrtsprogramme weit über diejenigen der USA hinausgehen, erleiden erhebliche Ineffizienzen.“
Angebotsseitige Argumente
Beide Lehrbücher argumentieren in erster Linie angebotsseitig, das heißt mit den Anreizwirkungen der Besteuerung beziehungsweise von staatlichen Sozialtransfers. Die Anreizeffekte werden, wie gesagt, mit großer Grundsätzlichkeit propagiert: „Eine der zehn volkswirtschaftlichen Regeln in Kapitel 1 besagt, dass rational entscheidende Menschen in Grenzbegriffen denken. Aus dieser Regel lässt sich folgern, dass der Grenzsteuersatz angibt, inwieweit die Einkommensteuer Menschen davon abbringt, hart zu arbeiten. Es ist somit der Grenzsteuersatz, der den Wohlfahrtsverlust einer Einkommensteuer bestimmt.“ (MT, S. 198)
Samuelson/Nordhaus (2010, S. 504 ff.) sind deutlich differenzierter in ihrer Darstellung der potenziellen „Löcher im Eimer“:
Die Steuererhebung und Verwaltung der Sozialausgaben verursacht Verwaltungskosten. Dieser Effekt sei jedoch empirisch zu vernachlässigen.
„Die Arbeitsmoral der Bürger [wird] durch die Steuerlast […] beeinträchtigt.“ Dieser Effekt wird jedoch von Samuelson/Nordhaus ebenfalls als gering eingeschätzt.
„Das womöglich potenziell größte Loch im Umverteilungseimer ist die Sparkomponente. [...] Einigen wirtschaftlichen Studien zufolge wird die allgemeine Sparquote durch die Besteuerung der Einkommen anstelle des Konsums eher gedämpft […]. Außerdem weisen Ökonomen darauf hin, dass die Sparquote in den Vereinigten Staaten aufgrund der großzügigen Sozialprogramme […] stark gesunken ist. Solche Programme entlasten den einzelnen nämlich von dem Druck, fürs Alter und für den Krankheitsfall selbst vorzusorgen.“ (SN, S. 505) Die negativen Folgen einer geringen Sparquote werden wie folgt beschrieben: „[L]angfristig wird der Kapitalbestand eines Landes zum großen Teil von der Sparquote in diesem Land bestimmt. […] Ist die Sparquote in einem Land niedrig, veralten seine Fabriken und Industrieanlagen und die Infrastruktur beginnt zu verfallen.“ (SN, S. 627) (Für eine kritische Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Sparen und Investieren siehe den Beitrag von Fabian Lindner in diesem Band.)
Veränderung der Einstellungen der Bürger: „Werden die Leute von der Aussicht auf hohe Steuern so sehr abgeschreckt, dass die sich Drogen und Müßiggang zuwenden? Bringt das Wohlfahrtssystem eine bleibende Unterschicht hervor, die sich aus ihrer Kultur der Abhängigkeit nie wieder wird befreien können?“ (SN, S. 505)
Samuelson/Nordhaus (2010, S. 505) erwähnen immerhin Argumente, die für einen positiven Zusammenhang zwischen gleichmäßiger Einkommensverteilung beziehungsweise Umverteilungsprogramme zu Gunsten ärmerer Personen einerseits und gesamtwirtschaftlicher Effizienz andererseits schließen lassen: „Bisweilen wird das gesamte Konzept der teuren Umverteilung […] kritisiert. Die betreffenden Ökonomen behaupten, dass verbesserte Programme zur Bereitstellung medizinischer Versorgung und angemessener Ernährung für arme Familien die Produktivität und Effizienz erhöhen und keineswegs die Produktionsleistung beeinträchtigten. Indem wir heute den Teufelskreis der Armut durchbrächen, so heißt es, förderten wir das Humankapital und die Produktivität der Kinder der Armen für morgen.“ Aus Sicht von Samuelson/Nordhaus überwiegen jedoch die Argumente, die für einen „großen Zwiespalt“ sprechen.
Die Grundsätzlichkeit, mit der Mankiw/Taylor und (in etwas geringerem Maße) Samuelson/Nordhaus den Zielkonflikt zwischen Ungleichheit und Effizienz in verschiedenen Kapiteln der Lehrbücher immer wieder beschwören, ist sehr befremdlich. Denn der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Effizienz ist auch aus angebotstheoretischer Sicht offen, wie zumindest Samuelson/Nordhaus am Rande zugeben. Spätestens seit der Finanzkrise 2007, der ein massiver Anstieg der Ungleichheit in vielen Ländern vorausging, werden in der Forschung und in der Wirtschaftspolitik die möglichen wachstumsschädlichen Wirkungen hoher Ungleichheit diskutiert. So unterscheiden Ostry et al. (2014) und Dabla-Norris et al. (2015) folgende angebotsseitige Argumente:
Schwächung des Humankapitals: Wenn relativ einkommensschwache Personen nicht in der Lage sind, eine gute Ausbildung und Gesundheitsversorgung zu finanzieren, reduzieren sich durch die Zunahme von Einkommensungleichheit insbesondere in der unteren Hälfte der Verteilung die Investitionen in Humankapital mit negativen Wirkungen auf das Produktivitätswachstum.
Politische Instabilität: Ökonomische Ungleichheit kann zu politischer Instabilität führen und die damit verbundene Unsicherheit für die Marktteilnehmer kann mit geringen Investitionen und Produktivitätseinbußen verbunden sein.
Zunahme politischer Korruption: Hohe Ungleichheit kann dazu führen, dass finanzstarke Interessengruppen den politischen Prozess dominieren und beispielsweise eine übermäßige, wachstumshemmende Deregulierung der Finanzmärkte erwirken.
Nachfrageseitige Argumente
Der Zusammenhang zwischen Einkommensverteilung und gesamtwirtschaftlicher Nachfrage ist ein klassisches Thema der Makroökonomik, wird aber von Mankiw/Taylor und Samuelson/Nordhaus seltsamerweise gar nicht erörtert. Ein zentrales Problem liegt in der Frage, wie bei hoher beziehungsweise stark steigender Einkommensungleichheit eine hinreichend große Nachfrage generiert werden kann, um das gesamtwirtschaftliche Angebot auszulasten und eine hohe Arbeitslosigkeit zu verhindern. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Entwicklung des privaten Konsums, der in den entwickelten Volkswirtschaften in der Regel zwischen 60 und 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht: Wenn sich im Zuge steigender Ungleichheit die Einkommen der breiten Masse der Bevölkerung nur schwach entwickeln, droht entweder eine Überschuldung der privaten Haushalte, wenn die unteren Einkommensgruppen ihren Konsum kreditfinanziert hochhalten, oder ein gesamtwirtschaftlicher Nachfrageausfall.
So vertreten viele Ökonom_innen die These, dass der starke Anstieg der Einkommensungleichheit in den USA in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2007 steht (für einen Literaturüberblick vgl. van Treeck 2014). Besondere Aufmerksamkeit in der breiteren Öffentlichkeit erlangte diese Hypothese durch einen 2010 veröffentlichten Bestseller von Raghuram Rajan (2010), früherer Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF). Auch laut Thomas Piketty „gibt es keinerlei Zweifel daran, dass wachsende Ungleichheit zur Destabilisierung des amerikanischen Finanzsystems beigetragen hat“ (Piketty 2014, S. 391).
Der vermutete Zusammenhang zwischen steigender Einkommensungleichheit und der Entstehung einer Finanzkrise kennt verschiedene Varianten, deren Kern sich aber kurz wie folgt zusammenfassen lässt: Seit Beginn der 1980er Jahre ist die Einkommensungleichheit in den USA stark gestiegen, insbesondere am obersten Ende der Einkommensverteilung. Die darunter liegenden Einkommensgruppen konnten ihre relativen Kaufkraftverluste teilweise durch längere Arbeitszeiten, geringere Ersparnis und höhere Verschuldung kompensieren (vgl. Reich 2010; Frank et al. 2014; vgl. van Treeck 2016 in diesem Band). Der Zugang zu Krediten für Konsument_innen selbst mit zweifelhafter Bonität wurde durch deregulierte und innovative Kreditmärkte ermöglicht, aber auch durch die direkte politische Förderung von Immobilienkrediten und eine expansive Zinspolitik (vgl. Rajan 2010; Stiglitz 2012). Ohne die hohe Konsumorientierung und Kreditaufnahme aller Einkommensgruppen unterhalb der Spitzenverdiener_innen wäre das Wirtschaftswachstum demnach geringer und die Arbeitslosigkeit höher gewesen. Allerdings hat die Überschuldung der privaten Haushalte maßgeblich die Gefahr einer privaten Schuldenkrise erhöht, die sich schließlich in der Großen Rezession ab 2008 realisiert hat (Kumhof et al. 2015). Eine ganz ähnliche Entwicklung lässt sich für das Vereinigte Königreich und einige andere Länder insbesondere im angelsächsischen Raum feststellen, die im Vorfeld der Krise ebenfalls einen starken Anstieg der Spitzeneinkommen und der privaten Verschuldung erlebten. Aus dem kreditfinanzierten privaten Nachfrageboom resultierten in diesen Ländern zunehmende Leistungsbilanzdefizite, welche zunächst über die internationalen Finanzmärkte ausgeglichen werden konnten, dann aber mit zur weltweiten Finanzkrise ab 2007 beitrugen.
In einer Reihe weiterer Länder wie China, Deutschland und Japan ist es in den Jahren vor der Krise ebenfalls zu deutlichen Verschiebungen in der Einkommensverteilung hin zu mehr Ungleichheit gekommen, allerdings gingen diese mit einer relativ schwachen binnenwirtschaftlichen Entwicklung und zunehmenden Exportüberschüssen einher. Kumhof et al. (2012) argumentieren, dass in China und anderen Schwellenländern das unterentwickelte Finanzsystem den unteren Einkommensgruppen den Zugang zu Krediten verweigerte, weswegen der Anstieg der Einkommensungleichheit mit einer Schwächung des privaten Konsums und nicht mit höherer Verschuldung einherging. Die reichen Haushalte, die von der Umverteilung profitierten, erwarben daher in zunehmendem Maße ausländische Finanztitel, weil sie ihre gestiegenen Ersparnisse im Inland nicht attraktiv anlegen konnten.
In Deutschland (und anderen Exportüberschuss-Ländern) ist der Anteil der sehr hohen Einkommen an den gesamten Haushaltseinkommen (Topeinkommensquoten) weniger stark gestiegen als in den angelsächsischen Ländern. Während in den USA oder im Vereinigten Königreich die Unternehmen ihre steigenden Einnahmen unter dem Druck der „Shareholder-Value-Orientierung“ und des „Markts für Manager“ an die Spitzenverdiener_innen innerhalb des Haushaltssektors weitergegeben haben, hat der Unternehmenssektor in Deutschland seine während der 2000er Jahre explodierenden Gewinne in hohem Maße einbehalten. Die damit einhergehende schwache Entwicklung der Lohn- beziehungsweise Haushaltseinkommen (und die im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern geringeren Möglichkeiten zu kreditfinanziertem Konsum) werden von vielen Ökonom_innen als eine Ursache für die schwache binnenwirtschaftliche Entwicklung und die hohe Exportabhängigkeit der deutschen Volkswirtschaft ausgemacht (vgl. Behringer et al. 2013).
Ideologische Engstirnigkeit aus der Zeit gefallen
In der internationalen Debatte wird zunehmend die Position vertreten, dass eine steigende Einkommensungleichheit eine zentrale Ursache für geringes Produktivitätswachstum und gesamtwirtschaftliche Instabilität sein kann. Insbesondere die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsarbeiten des Internationalen Währungsfonds (IWF; für einen Überblick vgl. Dabla-Norris et al. 2015) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD; für einen Überblick vgl. OECD 2015) haben zu dieser Diskussion beigetragen.
In einem aktuellen Literaturüberblick zeigen Behringer et al. (2016), dass empirische Studien zum Zusammenhang zwischen Einkommensverteilung und Wirtschaftswachstum zu recht unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Untersuchungen für die Zeit vor der Finanzkrise ab 2007 finden häufig keinen klaren Zusammenhang, während neuere Studien tendenziell einen negativen Zusammenhang sehen. Vor diesem Hintergrund ist die Behauptung eines ewigen großen Zwiespalts zwischen Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit in den Lehrbüchern von Mankiw/Taylor und Samuelson/Nordhaus schlicht nicht zu rechtfertigen.
Wenn eine hohe Einkommensungleichheit über die im letzten Abschnitt skizzierten Nachfrageeffekte die Wahrscheinlichkeit von Finanzkrisen erhöht, verstärkt dies noch einmal den in den jüngeren Veröffentlichungen von IWF und OECD behaupteten negativen Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Wirtschaftswachstum.
Insgesamt wirken die wirtschaftspolitischen Einordnungen in Samuelson/Nordhaus reichlich aus der Zeit gefallen. In der Einleitung zum Kapitel 17 „Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit: Der große Zwiespalt“ wird behauptet, dass „den Menschen [in den USA] zunehmend bewusst [wird], dass Bemühungen um den sozialen Ausgleich von Einkommensunterschieden zu einer Beeinträchtigung von Anreizen und Effizienz führen können.“ (SN, S. 491) Offenbar war sich Paul Samuelson, Ökonomie-Nobelpreisträger und einflussreichster Lehrbuchautor aller Zeiten, kurz vor seinem Tod im Dezember 2009 selbst bewusst darüber, dass sein Lehrbuch in dieser Hinsicht veraltet ist. In einem der letzten Ausgabe seines Lehrbuchs vorangestellten „Plädoyer für eine Ökonomie der Mitte“ heißt es: „Leider begeben sich viele Lehrbücher der letzten Zeit allzu sehr in das Fahrwasser eines selbstgefälligen Laissez-faire-Liberalismus. […] Wir haben gesehen, dass ein ungezügelter Kapitalismus zu schmerzhaften Einkommens- und Vermögensungleichheiten führt. […] Nur wenn es uns gelingt, unsere Gesellschaften auf einen Weg der Mitte zurückzuführen, kann die globale Wirtschaft zur Vollbeschäftigung zurückkehren, und nur dann werden auch die Früchte des Fortschritts wieder gerecht verteilt werden.“ (SN, S. 7–8)
Leider spiegelt das Lehrbuch von Samuelson/Nordhaus diese Infragestellung des „großen Zwiespalts“ durch Paul Samuelson nur in schwachen Ansätzen wider. Das Lehrbuch von Mankiw/Taylor zeigt hingegen keinerlei Interesse an einer kontroversen Darstellung wirtschaftstheoretischer und wirtschaftspolitischer Debatten zum Zusammenhang zwischen Ungleichheit und wirtschaftlicher Entwicklung.
Literatur
Behringer, J./Belabed, C.A./Theobald, T./van Treeck, T. (2013): Einkommensverteilung, Finanzialisierung und makroökonomische Ungleichgewichte. In: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 82, Nr. 4, S. 203–221.
Behringer, J./Theobald, T./van Treeck, T. (2016): Ungleichheit und makroökonomische Instabilität. Eine Bestandsaufnahme, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Dabla-Norris, E./Kochhar, K. et al. (2015): Causes and Consequences of Income Inequality: A Global Perspective. In: IMF Staff Discussion Note 13.
Frank, R.H./Levine, A.S./Dijk, O. (2014): Expenditure Cascades. In: Review of Behavioral Economics 1, Nr. 1–2, S. 55–73.
Kumhof, M./Lebarz, C./Ranciére, R./Richter, A.W./Throckmorton, N.A. (2012): Income Inequality and Current Account Imbalances. In: IMF Working Paper 8.
Kumhof, M./Rancière, R./Winant, P. (2015): Inequality, Leverage and Crises. The Case of Endogenous Default. In: American Economic Review 105, Nr. 3, S. 1217–1245.
Ostry, J.D./Berg, A./Tsangarides, C.G. (2014): Redistribution, Inequality, and Growth. In: IMF Staff Discussion Note 2.
Piketty, T. (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert, München: C.H. Beck.
Rajan, R. (2010): Fault Lines: How Hidden Fractures Still Threaten the World Economy, Princeton: Princeton University Press.
Reich, R. (2010): Aftershock: The Next Economy and America’s Future, New York: Knopf.
Stiglitz, J. (2012): The Price of Inequality. How Today’s Divided Society Endangers Our Future, New York: W.W. Norton & Company.
van Treeck, T. (2014): Did inequality cause the U.S. financial crisis? In: Journal of Economic Surveys, 28 , Nr. 3, S 421–448.
van Treeck, T. (2016): Welches Menschenbild für die ökonomische Bildung? Zur Rolle von nicht-egoistischem Verhalten und sozialen Vergleichen in der Haushaltstheorie. In: van Treeck, T./Urban, J. (Hrsg.): Wirtschaft neu denken. Blinde Flecken der Lehrbuchökonomie, Berlin: iRights.Media.
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