Die Debatte um kollektive Erwerbsarbeitszeitverkürzung (ab jetzt nur Arbeitszeitverkürzung[1]) ist in vollem Gange. Kollektive Arbeitszeitverkürzungen gehören mittlerweile zu den Forderungen vieler Gewerkschaften und sind teilweise bereits Realität geworden. Nach einem Streik konnte die Lokführer-Gewerkschaft GDL eine kollektive Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden die Woche bei gleichbleibendem Lohn durchsetzen. Trotzdem wird die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung oft als Generationenkonflikt und als unrealistische Forderung jüngerer Generationen bezeichnet, die keine Lust auf Arbeit hätten. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden ein Überblick über die Debatte rund um Arbeitszeitverkürzungen gegeben werden, der Antworten auf zentrale Fragen zum Thema beinhaltet: Warum fordern immer mehr Menschen eine Reduzierung der Arbeitsstunden? Wie ist die 40-Stunden Woche Normalität geworden? Welche Kritik an Arbeitszeitverkürzung gibt es und was sind feministische und Degrowth-Perspektiven auf das Thema?
Wer einen ganz knappen Überblick zum Thema Arbeitszeitverkürzung sucht, wird bei der New Economics Foundation fündig. Im Video „A Shorter Working Week“ wird kurz und knapp für die 4-Tage-Woche geworben, wobei positive Effekte wie höhere Produktivität, vorteilhafte Auswirkungen auf die Gesundheit und eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit hervorgehoben werden.
Forderungen nach einer Verkürzung der Arbeitszeit sind kein neues Phänomen. Denn auch wenn es uns oft so erscheint: Die 40-Stunden Woche ist kein Naturgesetz und musste erst durch Arbeitskämpfe durchgesetzt werden. Im 19. Jahrhundert stieg die tägliche Arbeitszeit im Zuge der Industrialisierung zeitweise auf 16 Stunden täglich an sechs Tagen in der Woche. Im 'Wohlstand für alle' Podcast erzählen Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt, wie der 8-Stunden Tag und die 40-Stunden Woche erkämpft wurden und argumentieren, warum es Zeit für eine weitere Reduzierung der Erwerbsarbeit ist.
Was spricht für eine Arbeitszeitverkürzung? Die wichtigsten Argumente sind in der Agora42-Kolumne des Netzwerks Plurale Ökonomik von Lina Andres zusammengefasst. Arbeitszeitverkürzung kann Stress reduzieren, positive Klimaeffekte haben, dem Arbeitskräftemangel entgegenwirken und eine gerechtere Verteilung der Sorgearbeit erleichtern. Weitere wichtige Gründe finden sich im Bericht des Konzeptwerk Neue Ökonomie, in welchem für eine kollektive Arbeitszeitverkürzung auf 28 Stunden plädiert wird. Arbeitszeitverkürzung wird hier als notwendiger Bestandteil eines sozial-ökologischen Umbaus gesehen, in dem umweltschädliche Branchen um- oder rückgebaut werden müssen. Durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich können negative soziale Folgen abgefedert werden, indem hohe Arbeitslosigkeit vermieden wird. Kürzere Lohnarbeitszeiten sorgen außerdem dafür, dass Zeit für demokratische Teilhabe gerechter verteilt wird und mehr Menschen die Zeit und Möglichkeit dazu bekommen. Der Bericht des Konzeptwerks Neue Ökonomie geht auch auf Mythen und Missverständnisse der Arbeitszeitverkürzung ein, wie z.B. dass nur Vollzeitbeschäftigte von einer Arbeitszeitverkürzung profitieren, dass Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze vernichtet, dass Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich nicht bezahlbar ist oder dass sie keinen positiven Einfluss auf die Produktivität hat.
Bausteine für Klimagerechtigkeit - Arbeitszeitverkürzung
Arbeitszeitverkürzungen können sehr unterschiedlich gestaltet werden – kollektiv oder individuell, schrittweise oder einmalig, lokal oder national, gesetzlich festgesetzt, mit vollem Lohnausgleich oder geringerer Vergütung. Auch die Forderungen des Ausmaßes der Arbeitszeitverkürzungen variieren stark, von Forderungen nach einer 20 Stunden Woche bis zu einer 38 Stunden Woche. Hanbury et al. (2023) haben die sozialen, ökologischen und ökonomischen Auswirkungen von verschiedenen Arten der Arbeitszeitverkürzung systematisch untersucht. Die positiven Auswirkungen sind vor allem von der konkreten Ausgestaltung der Arbeitszeitverkürzung abhängig. Positive Effekte auf das persönliche Wohlbefinden, Gesundheit, familiäre Beziehungen und Ökologie zeigen sich vor allem bei einer Reduktion der Wochenstundenzahl von mindestens 6 Stunden. Außerdem finden sich positive soziale, ökonomische und ökologische Auswirkungen vor allem bei Arbeitszeitverkürzungen, die auf nationaler statt lokaler Ebene eingeführt werden. Die Studie plädiert außerdem für eine Verringerung der Wochenarbeitstage statt einer Verringerung der Stunden pro Arbeitstag und für eine Kompensation des Lohns für Gruppen mit niedrigem Einkommen.
Neben den Unterstützer*innen wird auch die Kritik an der 4-Tage-Woche zunehmend lauter. So bezeichnet Ulrike Herrmann die Forderungen der GDL nach einer 35-Stunden-Woche als finanziell nicht tragbar und argumentiert: „Eigentlich müsste mehr gearbeitet werden, nicht weniger“. Maurice Höfgen hingegen unterstützt zwar die Forderungen der GDL, spricht sich aber gegen eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit aus. Als Hauptgründe gegen eine 4-Tage-Woche nennt er den bereits bestehenden Fachkräftemangel, der sich noch verstärken würde, Produktivitätsverluste und die Gefahr, dass die höheren Produktionskosten zu einer hohen Inflation führen. Im folgenden Video diskutieren Maurice Höffgen und Ole Nymoen diese Kritikpunkte kontrovers:
Bereits 2008 schlug Frigga Haug aus einer feministischen Perspektive eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeit vor. Anstatt sich nur auf Lohnarbeit zu fokussieren, schlägt Frigga Haugg einen gleichwertigen Fokus auf vier verschiedene Arbeitsbereiche vor: Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, Kulturelle Entwicklung und Politik von unten. Diesen vier Bereichen sollen jeweils 4 Stunden pro Tag gewidmet werden. Damit schließt ihr Vorschlag an eine Kritik an, die in der feministischen Ökonomik zentral ist. Wie auch in anderen ökonomischen Debatten, fokussiert sich die Debatte rund um Arbeitszeitverkürzung meist nur auf Erwerbsarbeit, während andere Arten von Arbeit ausgeblendet werden. Aus der Perspektive der feministischen Ökonomik geht es nicht darum, Arbeitszeit insgesamt zu reduzieren, sondern Arbeit anders zu verteilen. Eine gute Einführung in die "Vier-in-einem-Perspektive" bekommt ihr im "tl;dr" Podcast der Rosa-Luxemburg Stiftung:
In der Debatte rund um Arbeitszeitverkürzung wird meistens an dem Ziel des Wirtschaftswachstums festgehalten und teilweise sogar argumentiert, dass die Produktivität mithilfe von Arbeitszeitreduktion gesteigert werden kann. Im Gegensatz dazu betrachten Vertreter*innen von Degrowth eine radikale, kollektive Arbeitszeitreduktion als Strategie hin zu einer Postwachstumsgesellschaft. Eine Reduzierung der Arbeitsstunden wird als notwendig angesehen, um trotz schrumpfender Wirtschaft und sinkender Produktion die Arbeitslosenrate niedrig zu halten. Doch innerhalb der Degrowth Bewegung gibt es auch gegensätzliche Argumente: Die steigende Produktivität der letzten Jahrhunderte sei nur durch sehr hohen Energieverbrauch und mit Hilfe von fossilen Energieträgern möglich gewesen. Der nötige Ausstieg aus fossilen Energien würde daher automatisch die Produktivität reduzieren und dazu führen, dass mehr Arbeitszeit notwendig sein wird, um Grundbedürfnisse zu decken. Einen guten Überblick über die Argumente für und gegen Arbeitszeitverkürzung aus einer Degrowth Perspektive gibt der folgende Text:
Work time reductions or work time increase?
Die jüngere Generation wird von der älteren schnell als faul bezeichnet, wenn sie gegen die 40-Stunden-Woche argumentiert. Während sich die meisten gegen diesen Begriff wehren, hat Paul Lafargue ihn sich zu eigen gemacht. Bereits 1883 forderte er in seinem Pamphlet "Das Recht auf Faulheit" eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit auf maximal drei Stunden und vertrat damit eine weit radikalere Forderung nach Arbeitszeitverkürzung als heute üblich. Damit machte er sich auch innerhalb der sozialistischen und kommunistischen Bewegung wenig Freunde, die statt eines Rechts auf Faulheit für ein Recht auf Arbeit eintrat. Während die meisten Vertreter*innen einer Arbeitszeitverkürzung Arbeit und Produktivität positiv beschreiben, kritisiert Lafargue Arbeits- und Leistungszwang an sich.
'Recht auf Faulheit' als Open Access
Es gibt noch so viel zu entdecken! 🚀
Im Entdecken-Bereich haben wir hunderte Videos, Texte und Podcasts zu ökonomischen Themen gesammelt. Außerdem kannst du selber Material vorschlagen!
[1] Wie in der Debatte gängig, wird der Begriff Arbeitszeitverkürzung verwendet, um eine kollektive Erwerbsarbeitszeitverkürzung zu beschreiben, auch wenn damit andere Formen der Arbeit, wie Sorgearbeit, ausgeblendet werden.