Quelle: van Treeck, Till, and Janina Urban. Wirtschaft neu denken: Blinde Flecken in der Lehrbuchökonomie. iRights Media, 2016. Das Buch kann hier bestellt werden: http://irights-media.de/publikationen/wirtschaft-neu-denken/.
Rezensierte Bücher:
Blanchard, O./Illing, G. (2014): Makroökonomie, 6. Auflage, London: Pearson, 912 Seiten. Im Folgenden zitiert als BI. (Abb: Pearson)
Blankart, C.B. (2011): Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 8. Auflage, München: Vahlen, 790 Seiten. Im Folgenden zitiert als CB. (Abb: Vahlen)
Mankiw, N.G./Taylor, M.P. (2016): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 6. Auflage, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 1172 Seiten. Im Folgenden zitiert als MT. (Abb: Schäffer-Poeschel)
Samuelson, P.A./Nordhaus, W.D. (2010): Volkswirtschaftslehre, 4. Auflage, München: mi-Wirtschaftsbuch, FinanzBuch-Verlag, 1104 Seiten. Im Folgenden zitiert als SN. (Abb: mi-Wirtschaftsbuch)
van Suntum, U. (2013): Die unsichtbare Hand. Ökonomisches Denken gestern und heute, 5. Auflage, Berlin: Springer, 330 Seiten. Im Folgenden zitiert als UVS. (Abb: Springer-Verlag Berlin-Heidelberg)
Einleitung: Auf der Suche nach Erklärungen für die extrem kontroverse Austeritätsdebatte in Europa
Seit dem Umschwenken auf einen strikten Austeritätskurs im Jahr 2010 hat die Europäische Union ein fiskalpolitisches Großexperiment gigantischen Ausmaßes gestartet (Blyth 2013; Truger 2013). In fast allen Euroraum-Staaten – vor allem in den Krisenländern der sogenannten Peripherie (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien) – wurden radikale Kürzungen in den öffentlichen Haushalten sowie massive Steuer- und Abgabenerhöhungen durchgesetzt. Diese Politik war von Anfang an umstritten und auch sechs Jahre später stehen sich akademische wie politische Befürworter_innen und Gegner_innen unversöhnlich gegenüber. Anhänger_innen halten die Austeritätspolitik für wachstums- und beschäftigungspolitisch wenig schädlich bis sogar hilfreich, während Gegner_innen sie für eine der zentralen Ursachen der katastrophalen Wirtschaftsentwicklung im Euroraum in den letzten Jahren verantwortlich machen.
Die Debatte hat eine Vielzahl neuer empirischer Studien zu den ökonomischen Auswirkungen der Fiskalpolitik – vor allem zur Höhe des Fiskalmultiplikators – angeregt, die den Gegner_innen der Austeritätspolitik tendenziell Recht geben (Gechert 2015): Viele der neueren Studien kommen zu hohen Multiplikatoren. Unter den gegenwärtigen Bedingungen im Euroraum, mit simultaner Konsolidierung in einer Schwächephase, in der die Geldpolitik zudem über keine Zinssenkungsspielräume mehr verfügt, liegt der Multiplikator zum Teil auch sehr deutlich über eins (Batini et al. 2012; Blanchard/Leigh 2013). Zu ähnlichen Ergebnissen konnte man auch aufgrund der älteren Literatur kommen (vgl. Hemming et al. 2002; Arestis/Sawyer 2003; Bouthevillain et al. 2009 und Creel et al. 2011). Damit liegt es nahe anzunehmen, dass die Austeritätspolitik tatsächlich wesentlich für die wirtschaftliche Misere im Euroraum verantwortlich ist.
Für einschlägige Lehrbücher lässt sich damit die Anforderung ableiten, dass sie die aktuellen Entwicklungen in der Fiskalpolitik und in der Debatte aufgreifen und diskutieren sollten. Ist dies etwa aufgrund des relativ frühen Erscheinungsdatums nicht möglich, so sollte nach der Lehrbuchlektüre zumindest verständlich werden, warum es in Fragen der Fiskalpolitik unterschiedliche, häufig diametral entgegengesetzte Ansichten gibt.
Begrenzte methodische Offenheit, katastrophale handwerkliche Fehler und Anti-Staatsschulden-Extremismus bei Blankart (2011)
Aus methodischer Sicht macht Blankarts Lehrbuch zunächst durchaus einen interessanten Eindruck. Während der moderne Mainstream der Finanzwissenschaft, die sogenannte Neue Finanzwissenschaft, im Wesentlichen über die neoklassische Methode der Optimierung unter Nebenbedingungen, den Ausschluss stabilisierungspolitischer sowie die Höhergewichtung allokativer gegenüber distributiven Fragestellungen gekennzeichnet ist (Richter/Wiegard 1993; beispielhaft Corneo 2012; kritisch Söllner 1994 und Truger 1998), geht es Blankart schon im Vorwort zur ersten Auflage von 1991 um eine integrierende Gesamtperspektive: „Ziel dieses Lehrbuchs ist eine methodisch geschlossene Darstellung der Finanzwissenschaft. Diese Disziplin umfasst im Wesentlichen zwei Elemente: die finanzwissenschaftliche Institutionenlehre und die wohlfahrtsökonomische Grammatik (von der Marktversagenslehre über die Stabilisierungspolitik bis zur optimalen Besteuerung). In der traditionellen Finanzwissenschaft führen diese beiden Teile zwei voneinander weitgehend unabhängige Eigenleben, so dass es den Studierenden oft schwer fällt, aus dem Dickicht der Institutionen den theoretischen Kern und umgekehrt aus der Theorie die Relevanz für die institutionelle Realität zu finden. Dieser Zwiespalt soll in dieser modernen Finanzwissenschaft überwunden werden. […] Dieses Buch versteht sich als praxisorientierte Theorie: Es soll gezeigt werden, wie der Staat in seinen Institutionen funktioniert.“ (CB, S. XI) Durchaus vielversprechend hinsichtlich der aktuellen Fiskalpolitik und der Eurokrise klingt auch, dass Blankart im Vorwort zu den Änderungen in der 8. Auflage explizit auf die Staatsschuld hinweist: „Diese hat seit der Euro-Staatsfinanzkrise ganz neue Fragen aufgeworfen. […] Im 17. Kapitel wird die theoretische Seite der Staatsverschuldung, später im 28. Kapitel die Anwendung auf die Schuldenkrise der Euro-Staaten behandelt.“ (CB, S. VIII)
Positiv hervorzuheben ist, dass Blankart im ganzen Buch tatsächlich eine ungeheure Fülle an Themen – durchaus auch aus unterschiedlichen Perspektiven – behandelt. Auch ist der sehr ausführliche Überblick über die EU-Institutionen (CB, S. 653–667) hilfreich. Allerdings steht Blankarts inhaltliche Offenheit bei der Vielzahl der Themen eine große Enge hinsichtlich der letztlich immer wieder eingenommenen Sichtweise auf staatliches Handeln gegenüber: Es ist die Sichtweise der konstitutionellen Ökonomie und der Public-Choice-Theorie in der Tradition James M. Buchanans, bei der es letztlich immer um die Begrenzung der Spielräume demokratischer Finanzpolitik geht. Dies deshalb, weil vermutet wird, dass die Spielräume von eigennutzmaximierenden Politiker_innen, Bürokrat_innen und Interessengruppen zu Lasten der Bürger_innen ausgenutzt werden. So wird in eigentlich allen Kapiteln immer die traditionelle Sichtweise mit der konstitutionellen kontrastiert, was regelmäßig zu einer deutlich kritischeren Haltung gegenüber staatlichem Handeln führt.
Zentral für dieses Resultat ist allerdings, dass es auf der Übertragung des Homo-oeconomicus-Ansatzes auf die Politik basiert: „Im Markt wie im Staat wird von der gleichen menschlichen Motivation, nämlich derjenigen der Eigennutzorientierung ausgegangen. Demgegenüber wird in der traditionellen Finanzwissenschaft ein gespaltener Mensch unterstellt. Im Markt handelt er eigennützig – er ist ein homo oeconomicus –, während er im Staat als homo politicus ganz andere, irgendwie übergeordnete Ziele zum Ausdruck bringt. Um diese nicht sehr realistische Annahme zu überwinden, wird hier die Annahme des homo oeconomicus vom Handeln im Markt auf das Handeln im Staat ausgedehnt.“ (CB, S. 2) Da sich im Rahmen der Behavioural Economics allerdings schon seit langem die Belege häufen, dass der Mensch selbst im Markt häufig nicht als Homo oeconomicus agiert (Kahnemann 2012; Falk 2003; siehe auch den Beitrag von Till van Treeck zum Menschenbild in diesem Band), dürfte Blankarts Ansatz methodisch bei Weitem zu eng und finanzpolitisch deutlich zu staatsskeptisch sein.
Nirgendwo kommt diese Skepsis deutlicher zum Ausdruck als in seinen Ausführungen zur Staatsverschuldung und zur Fiskalpolitik. So beginnen die Ausführungen zur Staatsverschuldung im 17. Kapitel gleich mit dem Abschnitt „A. Wege zum Staatsbankrott“ und münden relativ bald in die Frage: „Wenn aber die Staatsverschuldung immer wieder im Staatsbankrott endet, warum lernen die Politiker nicht aus ihren Fehlern? Ganz klar ist das nicht. Doch Reinhart und Rogoff zufolge sagen sie sich immer wieder: ‚Diesmal ist es anders‘, was natürlich nicht stimmt, sondern Politiker nehmen Schulden auf und geraten so auf die schiefe Ebene.“ (CB, S. 362).
Unabhängig von den ziemlich flapsigen und seltsam psychologisierenden Formulierungen ist die gesamte Analyse von einer Ansammlung katastrophaler handwerklicher Fehler getrübt. Das beginnt mit dem Literaturverzeichnis zu Kapitel 17 (CB, S. 401–404), in dem häufig das Prinzip der alphabetischen Reihenfolge durchbrochen wird. Es setzt sich fort in einer unpräzisen und teilweise falschen Zitierweise und Erläuterung der angeführten Quellen. So ist die Grafik zur Häufigkeit von Staatsbankrotten (CB, Abbildung 17.1, S. 362) offenbar Reinhart und Rogoff (2009, Abbildung 5.4) entnommen. Blankart (2011, S. 362) gibt als Quelle ohne weitere Spezifikation „nach C.M. Reinhart und K.S. Rogoff (2010)“ mit offenbar falscher Jahreszahl an. Zudem behauptet Blankart (2011, S. 361–362), die Grafik gebe „Staatsbankrotte […] und Inflation […] in Prozent aller Staaten“ an, was gleichgesetzt wird mit „Staatsbankrotten durch Zahlungsausfall und Staatsbankrotte über Geldentwertung“. Tatsächlich zeigt die im Original korrekt beschriftete Grafik den Anteil der zahlungsunfähigen Staaten und den Anteil der Staaten mit einer Inflationsrate von mehr als 20 Prozent pro Jahr und weist für verschiedene Phasen den Korrelationskoeffizienten zwischen beiden Größen aus.
Die Kuriositäten gehen weiter: In den Tabellen 17.2. und 17.3 stellt Blankart die Staatsverschuldung der öffentlichen Haushalte dar, ohne dabei die Haushalte der Sozialversicherung einzubeziehen. Katastrophal gerät schließlich die Analyse der Frage „Wie viel Verschuldung kann sich der Staat leisten?“ (CB, S. 370 ff.). Blankart suggeriert hier, er lehne sich an den „einfachen Ansatz“ von Blanchard et al. (1990) an, obwohl diese einen viel komplizierteren Fall in völlig anderer Notation behandeln.
Was dann an Rechenschritten mit der staatlichen Budgetrestriktion angestellt wird, ist abenteuerlich: Großbuchstaben wechseln in Kleinbuchstaben, der Index „r“ wird sinnentstellend in den Index „‘“ verkehrt, Minus- und Gleichheitszeichen werden verwechselt. Abbildung 17.3 wird pathetisch mit „Alternative Sichtweisen von Last und Segen der Staatsschuld“ betitelt (CB, S. 372), obwohl sie lediglich (unpräzise) die drei möglichen Bedingungen für die Konstanz der Schuldenstandquote in Abhängigkeit von der Zins-Wachstums-Differenz bei gegebener Wachstumsrate darstellt. Im anschließenden Abschnitt über „Inflation ein Ausweg aus der Schuldenklemme“ (CB, S. 372) wird mittels einer erneut falschen Formel (Gr(t) wird diesmal nicht mit G‘(t) sondern mit D‘(t) verwechselt) mit gleichsam vom Himmel fallenden rationalen Erwartungen argumentiert. Angesichts der katastrophalen Häufung von Fehlern und Ungereimtheiten darf man ernsthaft die Frage nach der Fachkompetenz des Autors stellen.
Die keynesianische Logik der antizyklischen Finanzpolitik wird nirgendwo auch nur ansatzweise diskutiert; nur die Extremposition von Abba Lerners functional finance wird als „totalitär“ (CB, S. 395–396) gebrandmarkt. Völlig einseitig auf eine Begrenzung der Staatsverschuldung und eine Verschärfung der Regeln ausgerichtet ist auch Kapitel 28 zur Europäischen Union. Die Eurokrise wird einseitig als Staatsschuldenkrise und als Konflikt zwischen Staaten, die ein „Stabilitätsregime“ und ein „Inflationsregime“ praktizieren, beschrieben; unter anderem über die Nationalität verschiedener europäischer Politiker wird dann versucht die Krisenpolitik zu erklären (CB, S. 668 ff.). Dies ist umso einseitiger und zweifelhafter, als schon zuvor Reinharts und Rogoffs (2009) Werk, das allgemein von Finanzkrisen handelt, auf Staatsschuldenkrisen verengt wird (CB, S. 362), während Rating-Agenturen kritiklos eingeführt werden: „Rating Agenturen haben daher eine wichtige Funktion. Indem sie Transparenz schaffen, machen sie Märkte erst möglich.“ (CB, S. 391)
Studierende, die eine Bachelor-Arbeit mit solchen handwerklichen Schnitzern und in solcher Einseitigkeit vorlegten, würden durch die Prüfung fallen. Für Professor_innen gelten offenbar andere Maßstäbe: Blankart wird laut Klappentext ausgerechnet für dieses Kapitel von Bruno S. Frey gepriesen: „Besonders spannend für die heutige Zeit sind die Kapitel über Staatsverschuldung und den Staatsbankrott […]. Sehr empfehlenswert.“
Methodische Offenheit, aber fiskalpolitische Einseitigkeit und Polemik bei van Suntum (2011)
Obwohl es sich bei van Suntum (2013) um eine ganz andere Art von Lehrbuch handelt, weist es bei der Behandlung der Fiskalpolitik doch gewisse Parallelen zu Blankarts Werk auf – allerdings ohne die katastrophalen handwerklichen Fehler und mit spürbar geringer ausgeprägter Einseitigkeit. Aus pluraler Perspektive beginnt er durchaus vielversprechend. Im Vorwort zur fünften Auflage betont van Suntum die Bedeutung der Dogmengeschichte im Zusammenhang mit Finanzkrisen: „Einmal mehr hat sich damit gezeigt, wie wichtig die Beschäftigung mit der Geschichte der Volkswirtschaftslehre ist.“ (UVS, S. 5) Und schon im Vorwort zur ersten Auflage dankt er seinem akademischen Lehrer Hans Besters: „Er hat mich stets davor gewarnt, allein der Mathematik zu trauen, wenn es um ökonomische Probleme geht. Letzten Endes ließ er immer nur das gelten, was man notfalls auch ‚Lieschen Müller‘ klarmachen konnte, und das war gut so. Er war es auch, der mein Interesse auf geschichtliche Hintergründe und Zusammenhänge lenkte.“ (UVS, S. 7)
Im Gegensatz zu Blankart stellt van Suntum auch die Leistung John Maynard Keynes im Unterkapitel „Die keynessche Revolution“ (UVS, S. 110–115) heraus: „An seiner glänzenden Analyse der damaligen Wirtschaftskrise ist auch aus heutiger Sicht kaum etwas auszusetzen. Sie zeigt in aller Deutlichkeit, dass makroökonomisch völlig falsch sein kann, was mikroökonomisch richtig wäre. Letztlich ist es diese kreislauftheoretische Erkenntnis, die seit Keynes dem Staat eine besondere Rolle in der Steuerung des Wirtschaftsprozesses verschafft hat.“ (UVS, S. 113) Und auch im Kontext der jüngsten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise wird Keynes’ Ansatz gelobt: „Aber diesmal hat die Politik sofort richtig reagiert, ganz im Sinne von Keynes. […] So konnte das Schlimmste verhindert werden. Es kam weder zum völligen Kollaps der Finanzmärkte noch zu Deflation und Massenarbeitslosigkeit […]. Insofern ist die Finanzkrise auch ein ermutigendes Beispiel für den Erfolg richtigen ökonomischen Denkens und Handelns gewesen.“ (UVS, S. 115) Dem Lob für die keynesianische Fiskalpolitik werden auch kritische Betrachtungen angefügt: „Gleichwohl ist große Vorsicht bei der Anwendung der keynesschen Rezepte am Platze, wie die weitere Wirtschaftsgeschichte gezeigt hat. […] Keinesfalls darf man den Fehler machen, jedwede Arbeitslosigkeit mit keynesschen Mitteln bekämpfen zu wollen.“ (UVS, S. 113) Dies ist genau die Art differenzierte Analyse, die man sich aus pluraler Perspektive wünscht.
Leider wird der positive Eindruck im Kapitel „Staatsverschuldung und nachhaltige Finanzpolitik“ wieder zunichte gemacht. Im Gegensatz zu Blankart stimmen aber wenigstens die Formeln zur Schuldendynamik. Die Staatsverschuldung wird als dem Rauchen ähnliches Laster beschrieben: „Es ist ähnlich wie beim Rauchen: Kurzfristig gewinnt man vielleicht dadurch an Genuss und Lebensqualität, auf lange Sicht aber folgt unweigerlich der große Katzenjammer“ (UVS, S. 310). Die Finanzierung der Zinslast mittels erneuter Kredite wird mit Charles Ponzis betrügerischen Ponzi games gleichgesetzt und es wird polemisiert: „Während Charles Ponzi zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurde und im Armenhaus starb, haben die Politiker das gleiche Spiel jahrzehntelang völlig ungestraft betrieben.“ (UVS, S. 310)
Die europäische Schuldenkrise wird sodann als warnendes Beispiel für gefährliche Staatsverschuldung angeführt, ohne dabei auf die privatwirtschaftlichen Wurzeln der Staatschulden aufgrund von Finanzmarktrettungsmaßnahmen im Privatsektor einzugehen. Von „Schuldendroge“ (UVS, S. 310) ist die Rede. Im Euroraum werde es „den Staaten schlichtweg zu leicht gemacht, ihre Schuldenorgien einfach weiter zu betreiben“ (UVS, S. 311). Man könne sich „über die Rettungsmaßnahmen daher im Euroraum bequem einen ‚schlanken Fuß‘ auf Kosten der Partnerländer machen“ (UVS, S. 311). Bei der praktizierten EZB-Politik habe man den Politiker_innen auch gleich eine „Gelddruckmaschine“ (UVS, S. 312) zur Verfügung stellen können. Auf diese Weise könnten die Politiker_innen „ständig hemmungslos Geld ausgeben […] nach dem Motto: nach uns die Sintflut“ (UVS, S. 312). Schließlich wird konstatiert: „Mit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 fielen dann auch noch die letzten Hemmungen, und so schnellte die Staatsverschuldung […] deutlich über die 60%-Grenze. So richtig das staatliche Gegenlenken […] gewesen sein mag, so notwendig ist auf der anderen Seite eine Rückkehr zu solider Haushaltspolitik nach ihrer Überwindung geworden.“ (UVS, S. 313). Vor dem Hintergrund dieser einseitigen Positionierung wird die kontroverse Debatte um die Austeritätspolitik gewiss nicht verständlich.
Mainstreammethodik, aber kontroverse Diskussion der Fiskalpolitik in den internationalen VWL-Lehrbüchern von Samuelson/Nordhaus (2010) und Mankiw/Taylor (2016)
Die internationalen Standardlehrbücher der VWL sind wegen mangelnden Methodenpluralismus sehr angreifbar – sie basieren fest auf dem neukeynesianischen Mainstreammodell. Dass dieses Modell selbstverständlich wenig mit den eigentlichen Keynes’schen Vorstellungen zu tun hat, ist klar (Davidson 2011, insbesondere S. 320 ff.; Lavoie 2014; siehe auch den Beitrag von Eckhard Hein in diesem Band). Ebenso klar ist, dass durch die diesem Modell inhärente mittelfristige Tendenz zum Gleichgewicht die Wirksamkeit der Fiskalpolitik automatisch eher zurückhaltend eingeschätzt wird. Dennoch kann man – anders als bei Blankart und van Suntum – weder Samuelson/Nordhaus (2010) noch Mankiw/Taylor (2016) den Vorwurf einer besonderen politischen Einseitigkeit machen. Beide Lehrbücher nennen Vor- und Nachteile der Staatsverschuldung und bemühen sich explizit, kontroverse Standpunkte innerhalb des verwendeten Modellrahmens nachvollziehbar zu machen. Relativ gering ausgeprägt ist dies noch beim deutlich älteren Samuelson/Nordhaus; dennoch wird auch hier sehr stark auf die Unterschiede zwischen kurzer und langer Frist abgestellt und die scheinbar unvereinbaren Positionen des „Senators Taube“, der für eine expansive Finanzpolitik mit höheren Defiziten, und des „Senators Falke“, der für Haushaltskonsolidierung eintritt, werden in diesem Rahmen verortet (SN, S. 938–939).
Noch politisch ausgewogener geht es bei Mankiw/Taylor zu, die im Unterkapitel 33.3 „Der Einsatz der Geld- und Fiskalpolitik zur Stabilisierung der Volkswirtschaft“ (MT, S. 1006 ff.) explizit Pro und Contra einer aktiven Stabilisierungspolitik diskutieren und mit einem Kasten zu unterschiedlichen Multiplikatorschätzungen aufwarten (MT, S. 1012–1013). Ein eigenes Kapitel zu Währungsunionen im Allgemeinen und der Europäischen Währungsunion im Besonderen (Kapitel 36) bezeichnet einerseits den Stabilitäts- und Wachstumspakt in einem Kasten als „Papiertiger“ (MT, S. 1094); andererseits wird im Haupttext explizit auf Probleme der Konsolidierung hingewiesen: „Die wirtschaftlichen Konsequenzen eines angestrebten Budgetausgleichs sind für die Regierung demnach nicht zu unterschätzen und können zu politischer Instabilität führen, wodurch das Vertrauen der Märkte weiter sinkt.“
In den Unterkapiteln 37.2 und 37.3 werden schließlich die Schuldenkrise in Europa und die eingeleitete Sparpolitik erneut jeweils explizit kontrovers diskutiert: „Die Politik sollte strukturelle Defizite beseitigen.“ vs. „Das Konzept des strukturellen Defizits ist ein Mythos.“ (MT, S. 1124); „Der Staat sollte zu einem strikten Budgetausgleich verpflichtet sein.“ (MT, S. 1125 ff.) vs. „Der Staat sollte nicht nach einem ausgeglichenen Budget streben.“ (MT, S. 1127–1128), „These 1: Für eine strikte Sparpolitik“ (MT, S. 1128–1129) vs. „These 2: Gegen eine strikte Sparpolitik, für Wachstum“ (MT, S. 1129).
Mainstreammethodik, aber differenzierte und halbwegs kontroverse Analyse der Fiskalpolitik im Blanchard/Illing (2014)
Hinsichtlich der Ergebnisoffenheit und der Kontroversität der dargestellten Position zur Fiskalpolitik ist das ausführliche internationale Lehrbuch der Makroökonomie von Blanchard/Illing (2014) ähnlich wie die beiden internationalen VWL-Standardlehrbücher einzustufen. Da es sich ganz auf die Makroökonomie konzentriert, ist naturgemäß allerdings viel mehr Raum für eine detailliertere und ausführlichere Behandlung.
Aus pluraler Perspektive ist außerdem der kurze „Epilog – die Geschichte der Makroökonomie“ (BI, S. 827 ff.) im Kapitel 28 grundsätzlich positiv hervorzuheben. Allerdings zeigt sich dort auch unmissverständlich, dass es sich um ein reines Mainstream-Lehrbuch handelt. „Dynamic Stochastic General Equilibirum“-Modelle (DSGE-Modelle) werden als „Weg zu einer neuen Synthese“ diskutiert (BI, S. 839–840) und die nachträgliche „Entdeckung“ des Finanzsektors in der Makroökonomie wird – bei aller Selbstkritik – durchaus als Fortschritt gesehen: „Das Finanzsystem mit den makroökonomischen Wechselbeziehungen hat sich mittlerweile – nicht ganz überraschend – zu einem zentralen Forschungsgebiet entwickelt. Die Integration der Einzelteile in große makroökonomische Modelle ist auf gutem Weg.“ (BI, S. 841; siehe den Beitrag von Sebastian Dullien in diesem Band) Eher hilflos lässt einen die letzte Aussage zur Geschichte der Makroökonomie zurück: „Aktuell geht es primär darum, in der Forschung besser zu verstehen, wie es zur Krise kam, und in der Wirtschaftspolitik darum, die verfügbaren Instrumente so gut wie möglich einzusetzen, um die Wirtschaft wieder auf einen gesunden Pfad zu bringen.“ (BI, S. 842)
Aus methodischer Sicht ist zudem bemerkenswert, dass das Buch letztlich weiterhin komplett die traditionelle AS-AD-Analyse, basierend auf dem IS-LM-Modell verwendet, während die neueren New-Consensus-Ansätze, die ohne LM-Kurve arbeiten und bei denen die Zentralbank mittels Inflation-Targeting und Zinssteuerung die Volkswirtschaft ins Gleichgewicht bringt (siehe etwa Carlin/Soskice 2015), lediglich gestreift werden. Die eingebaute mittelfristige Gleichgewichtstendenz im AS-AD-Modell führt zu einem starken Glauben an die Selbstheilungskräfte von Marktwirtschaften: „Wenn die Wirtschaft sich auf mittlere Frist wieder erholt, kehrt sie in der Regel auf das natürliche Produktionsniveau zurück, bei der alle Ressourcen eingesetzt werden.“ (BI, S. 31) Dementsprechend gering fällt damit letztlich der Stabilisierungsbedarf durch makroökonomische (Fiskal-)Politik aus.
Dennoch kann kein Zweifel an der Differenziertheit der fiskalpolitischen Positionen bestehen; potenzielle Gefahren und Grenzen der Staatsverschuldung werden genauso wahrgenommen und analysiert wie die potenzielle Wirksamkeit stabilisierender Fiskalpolitik und die makroökonomischen Kosten von Konsolidierungspolitik. Allerdings wird die implizit angelegte Kontroversität nicht wirklich in einzelnen Kapiteln oder Abschnitten explizit verdichtet. Vielmehr muss man sich die unterschiedlichen möglichen Positionen aus den verschiedenen behandelten Perspektiven im Buch zusammensuchen. Eine kritische Analyse angeblich expansiv wirkender Konsolidierungspolitik findet sich zum Beispiel in einem Kasten „Fokus: Kann der Abbau eines Budgetdefizits die Nachfrage stimulieren? Das Beispiel Irland“ (BI, S. 508–509) im Kapitel 17 zur Rolle von Erwartungen, unter anderem unter Verweis auf Ergebnisse von Analysen des Internationalen Währungsfonds (IWF). In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich – wenngleich unter Bescheidenheitsaspekten möglicherweise ehrenhaft –, dass Blanchard die von ihm, damals in der Funktion als Chef-Ökonom des IWF, selbst mit angestoßene Debatte zur Höhe des Fiskalmultiplikators unerwähnt lässt. Blanchard hatte mit seiner Behauptung, die makroökonomischen Kosten der Austeritätspolitik im Euroraum seien aufgrund zu gering veranschlagter Multiplikatoren massiv unterschätzt worden, eine handfeste Kontroverse unter anderem mit der EU-Kommission hervorgerufen.
Insgesamt können sich Leser_innen nach Lektüre des Blanchard/Illing sicherlich eine eigene Meinung zur gegenwärtigen fiskalpolitischen Kontroverse im Euroraum bilden. Hinsichtlich der offenen Kontroversität bleibt das Buch allerdings hinter dem Mankiw/Taylor zurück. Wer wirklich wissen möchte, wie kritisch man innerhalb des Mainstreams gegenüber der Austeritätspolitik argumentieren kann, sollte Krugman (2012) oder Simon Wren-Lewis Makro-Blog lesen (Wren-Lewis 2016).
Die Analyse der ausgewählten, auf dem Markt erfolgreichen Lehrbücher ergibt ein gewisses Paradoxon: Die im Original deutschsprachigen Lehrbücher von Blankart (2011) und van Suntum (2013) sind zwar in methodischer Hinsicht durchaus heterodox, weil sie nicht rein mit mathematischen neoklassischen Methoden operieren, sondern explizit historische und dogmengeschichtliche Hintergründe beleuchten (van Suntum) und auf unterschiedliche Theorien sowie institutionelle Faktoren eingehen (Blankart). Dafür sind diese beiden Bücher hinsichtlich ihrer Analyse der Fiskalpolitik politisch geradezu dogmatisch einseitig und betonen dabei vor allem die potenziellen Risiken und Probleme der Staatsverschuldung, während ihr möglicher Nutzen und die Probleme und Risiken von Austeritätspolitik fast völlig ausgeblendet werden. Dagegen sind die ausgewählten internationalen VWL-Lehrbücher und das Makroökonomie-Buch von Blanchard/Illing zwar fest im methodischen Mainstream verwurzelt, enthalten jedoch im Rahmen der dadurch vorgegebenen Grenzen eine durchaus kontroverse und ziemlich ausgewogene Debatte von Kosten und Nutzen der Fiskalpolitik (siehe dazu schon Truger 2003).
Aus wirtschaftspolitischer Sicht weisen die in Deutschland verbreiteten Lehrbücher von Blankart und van Suntum damit erhebliche – und politisch geradezu gefährliche – Defizite auf. Aufgrund ihrer Einseitigkeit bieten sie keinerlei fiskalpolitische Erklärung für die tatsächliche Entwicklung der Staatsverschuldung und die kontroverse Austeritätsdebatte in Europa. Stattdessen wird den Leser_innen Staatsverschuldung vor allem als Resultat unverantwortlich handelnder Politiker_innen oder der Defizite des demokratischen politischen Prozesses vorgeführt – letztlich Wasser auf die Mühlen von Populist_innen, die vom um sich greifenden Politikverdruss zu profitieren hoffen.
Literatur
Arestis, P./Sawyer, M. (2003): Reinventing fiscal policy. In: Journal of Post Keynesian Economics 26, Nr. 1, S. 3–25.
Batini, N./Callegari, G., Melina, G. (2012): Successful Austerity in the United States, Europe and Japan. In: International Monetary Fund Working Paper 190/2012.
Blanchard, O./Chouraqui, J.-C./Hagemann, R.P. /Sartor, N. (1990): The sustainability of fiscal policy: New answers to an old question. In: OECD Economic Studies 15 (Autumn), S. 7–36.
Blanchard, O./Leigh, D. (2013): Growth Forecast Errors and Fiscal Multipliers, International Monetary Fund Working Paper 1/2013.
Bouthevillain C. et al. (2009): Pros and cons of various fiscal measures to stimulate the economy, Banco de Espana Economic Bulletin, Juli 2009, S. 123–144.
Blyth, M. (2013): Austerity. The history of a dangerous idea, Oxford: Oxford University Press.
Carlin, W./Soskice, D. (2015): Macroeconomics: Institutions, Instability, and the Financial System, Oxford: Oxford University Press.
Corneo, G. (2012): Öffentliche Finanzen: Ausgabenpolitik, 4. Auflage, Tübingen: Mohr Siebeck.
Creel J./Heyer, E./Plane, M. (2011): Petit précis de politique budgétaire par tous les temps. Les multiplicateurs budgétaires au cours du cycle. In: Revue de l’OFCE 116, Nr. 1, S. 61–88.
Davidson, Paul (2011): Post Keynesian Macroeconomic Theory: A Foundation for Successful Economic Policies for the Twenty-First Century, 2. Auflage, Cheltenham: Edward Elgar.
Falk, A. (2003): Homo Oeconomicus versus Homo reciprocans: Ansätze für ein neues wirtschaftspolitisches Leitbild?. In: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 4, Nr. 1, S. 141–172.
Gechert, S. (2015): What fiscal policy is most effective? A meta-regression analysis. In: Oxford Economic Papers 67, Nr. 3, S. 553–580.
Hemming, R./Kell, M./Mahfouz, S. (2002): The Effectiveness of Fiscal Policy in Stimulating Economic Activity: A Review of the Literature. In: International Monetary Fund Working Paper 208/2002.
Kahnemann, D. (2012): Thinking, Fast and Slow, London: Penguin.
Krugman, P. (2012): End this depression now!, New York: W.W. Norton & Company.
Lavoie, M. (2014): Post-Keynesian Economics. New Foundations, Cheltenham: Edward Elgar.
Reinhart, C.M./Rogoff, K.S. (2009): This Time Is Different: Eight Centuries of Financial Folly, Princeton: Princeton University Press.
Richter, W.F./Wiegard, W. (1993): Zwanzig Jahre „Neue Finanzwissenschaft“, Teil I: Überblick und Theorie des Marktversagens, Teil II: Steuern und Staatsverschuldung. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 113, S. 169–224 und S. 337–400.
Söllner, F. (1994): Die „neue“ Finanzwissenschaft – Fortschritt oder Rückschritt?. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Band 114, S. 231–244.
Truger, A. (1998): Die neue Finanzwissenschaft zwischen Realitätsferne und Irrelevanz der Annahmen, Frankfurt am Main: Peter Lang.
Truger, A. (2003): Der missachtete Mainstream – Die deutsche wirtschaftspolitische Debatte leidet weniger unter dem Neu-Keynesianismus als unter seiner fast völligen Missachtung. In: Hein, E./Heise, A./Truger, A. (Hrsg.): Neu-Keynesianismus – der neue wirtschaftspolitische Mainstream?, Marburg: Metropolis, S. 245–278.
Truger, A. (2013): Austerity in the euro area: the sad state of economic policy in Germany and the EU. In: European Journal of Economics and Economic Policies, Intervention 2/2013, S. 158–174.
Wren-Lewis, S. (2016): Mainly Macro. Comment on macroeconomic issues, https://mainlymacro.blogspot.de/ (Zugriff: 12. Juni 2016).