Ökonomik ohne Existenznotwendigkeit?

Sebastian Thieme
Economists for Future, 2020
Grado: debutante
Perspectivas: Economía feminista, Otros
Topic: (De-)crecimiento, Race & Gender, Reflexión sobre economía, Recursos, medioambiente y clima
Format: Ensayo

                



Im Angesicht der Klimakrise und der Fridays-for-Future-Proteste hat das Netzwerk Plurale Ökonomik unter #Economists4Future dazu aufgerufen, Impulse für neues ökonomisches Denken zu setzen und bislang wenig beachtete Aspekte der Klimaschutzdebatte in den Fokus zu rücken. Dabei geht es beispielsweise um den Umgang mit Unsicherheiten und Komplexität sowie um Existenzgrundlagen und soziale Konflikte. Außerdem werden vielfältige Wege hin zu einer klimafreundlichen Wirtschaftsweise diskutiert – unter anderem Konzepte eines europäischen Green New Deals oder Ansätze einer Postwachstumsökonomie. Hier finden Sie alle Beiträge, die im Rahmen der Serie erschienen sind.

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Ökonomik ohne Existenznotwendigkeit?

von Sebastian Thieme

Erstveröffentlichung im Makronom

 

Es ist inzwischen ins öffentliche Problembewusstsein gerückt, dass die Erreichung des 1,5-Grad-Ziels eine Notwendigkeit darstellt und dessen Nicht-Erreichung eine existenzielle Bedrohung bedeuten würde. Die Beantwortung der Klimafragen erfordert es deshalb, das Ökosystem als Existenzgrundlage des Wirtschaftens, der Gesellschaft und Menschen zu begreifen.

Wie steht es aber um die Selbsterhaltung, Existenzsicherung und Überleben als Motiv und Ziel des Wirtschaftens in den Wirtschaftswissenschaften? Die nachfolgende skizzierte Subsistenzperspektive greift diese Frage auf. (Für eine ausführliche Darstellung siehe Thieme 2017 und 2012.)

Grundriss: Moderner Subsistenzansatz

Der Begriff „Subsistenz“ steht in seiner ursprünglichen Bedeutung für das „Bestehen aus sich selbst heraus“ bzw. Selbsterhaltung. Dies bildet den Bedeutungskern ganz unterschiedlicher Vorstellungen von „Subsistenz“ in der Fachliteratur (z. B. im Bielefelder Subsistenzansatz). Entgegen der üblichen Darstellungen soll „Subsistenz“ aber nicht z. B. auf Landwirtschaft, karges Leben oder feministische Aspekte reduziert sein, sondern für ganz unterschiedliche Wirtschaftsstile fruchtbar werden. Der modernen Subsistenzperspektive geht es vielmehr darum, Selbsterhaltung ganz allgemein als ein Grundmotiv des Wirtschaftens im theoretischen und praktischen (normativen) Rechtfertigungskontext zu thematisieren. Dafür sind aber begriffliche Spezifikationen notwendig.

Konkret bedeutet „Subsistenz“ bzw. „Selbsterhaltung“ die Fähigkeit, sich pro-aktiv selbst(ständig) Möglichkeiten der Veränderung zu suchen und Selbsthilfe (Subsidiarität) leisten zu können. Selbsterhaltung setzt wiederum die Lebensfähigkeit in der Gesellschaft voraus, d. h. in einer Gesellschaft existieren und reagieren zu können, ohne durch Isolation (sozialer Tod) bedroht zu sein. Der Lebensfähigkeit vorgelagert ist der Zustand, den James C. Scott (1976) als minimum disaster level beschrieb, d. h. dass basale Grundbedürfnisse wie die nach Nahrung, Kleidung, Wohnraum usw. befriedigt sind. Ein Unterlaufen des minimum disaster levels führt nicht zum sofortigen Tod, setzt die Betroffenen aber z. B. der Mangelernährung aus, was die Lebenserwartung einschränkt. Dies kann Folge eines mangelnden Zugangs zu Ressourcen sein, z. B. durch Vertreibung von traditionell informell bewirtschafteten Landflächen oder Umweltverschmutzung.

Damit lässt sich als wichtiges Merkmal ergänzen, dass „Subsistenz“ dafür steht, nicht in einer Existenz gefährdenden Weise von der eigenen Substanz zehren zu müssen. Wer also lediglich lebensfähig ist, kann nur den eigenen gesellschaftlichen Status quo aufrechterhalten. Um Selbsthilfe angesichts veränderter Umweltbedingungen leisten zu können, müssten in der Situation Einschränkungen in der sozialen Teilhabe oder das Unterlaufen des minimum disaster levels hingenommen werden. Dies aber ginge mit einer Inkaufnahme sozialer Isolation oder z. B. Mangelernährung einher. Scott (1976) spricht hierzu davon, dass die Betroffenen in der „Zone der Subsistenzkrise“ wirtschaften.

 
 
 

Vor diesem Hintergrund wird auch eine normativ-(wirtschafts-)ethische Dimension deutlich: Maßnahmen und Handlungen, die die Lebensfähigkeit oder gar das minimum disaster level antasten, sind unzumutbar. Zumutbarkeit schafft wiederum eine Voraussetzung dafür, dass Einschränkungen im individuellen Subsistenzstreben überhaupt als „gerecht“ und (ethisch) legitim empfunden werden können. Im Sinne der Verantwortungskonzeption der Integrativen Wirtschaftsethik (Ulrich 2008) geht es darum, die Perspektive der von Handlungen, politischen Maßnahmen usw. potenziell Betroffenen in redlicher Weise einzubeziehen (Perspektivwechsel, Dialog/Partizipation). Dies umfasst auch eine Reflexion darüber, was angesichts konkreter kultureller Praktiken als „zumutbar“ gelten kann.

Nutzenmaximierung gilt zwar als standard-ökonomisches Grundwerkzeug, kennt aber die Selbsterhaltung gar nicht als Motiv oder Ziel des Wirtschaftens. Das mag abstrakt wirken, erweist sich aber als zentraler Aspekt einer sozial-ökologischen Transformation, in der es um Veränderungen im Konsumverhalten geht und dies „sozial gerecht“ gestaltet sein soll. Auch im globalen Klima-Kontext ist dies notwendig, wenn Umweltschäden aus globalen Produktionsverhältnissen vermieden oder die von durch Umweltschäden betroffenen Menschen angemessen entschädigt werden sollen (Stichwort Klimaflüchtlinge, siehe z. B. UNO).

Subsistenz und Ökonomik?

Wer nun nach der Bedeutung der Subsistenz in der Ökonomik fragt, wird feststellen, dass ihr standard-ökonomisch vor allem mit Ignoranz begegnet wird. Studierende lernen den (neoklassischen) Arbeitsmarkt kennen, auf dem sich im Schnittpunkt von Angebot und Nachfrage der gleichgewichtige Marktpreis bildet. Ob dieser überhaupt existenzsichernd ist und somit eine Produktion im nächsten Zyklus ermöglicht, interessiert nicht. Nutzenmaximierung gilt zwar als standard-ökonomisches Grundwerkzeug, kennt aber die Selbsterhaltung gar nicht als Motiv oder Ziel des Wirtschaftens – es ist schon ein ziemlich selbstlos handelnder Modellmensch, dieser nutzenmaximierende Homo Oeconomicus.

 

Dort, wo Fragen z. B. nach Ernährungssicherheit aufkommen, werden diese in Lehrbüchern wie von Krugmann/Wells (2017) mit der Behauptung zerstreut, dass die Nachfrage nach günstigen Lebensmitteln auch ein entsprechendes Angebot schaffe. Ein anderes Beispiel sind Umweltfragen, die üblicherweise als „negative Externalitäten“ behandelt und einer Marginalanalyse zugeführt werden. Studierende sind dann bisweilen von dieser Ermittlung eines optimalen Verschmutzungsgrads irritiert. Denn im Grunde wird so transportiert, dass sich die Frage nach Gesundheit oder Lebensbedrohung in eine „Wie-viel“-Frage transformieren ließe. Doch wer möchte ein bisschen mehr oder weniger „gesund“ sein oder „leben“? Es gibt nicht sehr viele Lehrbücher wie z. B. die von Deimer/Pätzold/Tolkmitt (2017), die den hypothetischen Charakter solcher Marginalanalysen kritisieren und diese angesichts der Gefahr für Leben und Gesundheit in die Schranken verweisen.

Ein zweiter Blick auf die (Standard-) Ökonomik fördert zu Tage, dass die Selbsterhaltung heute allenfalls mit negativem Vorzeichen eine Rolle in wirtschafts- und sozialpolitischen Empfehlungen spielt. Besonders deutlich wird dies in der Vorstellung, dass die Existenznot ein (legitimes) Instrument des Arbeitsmarkts sei. Das kommt in der Befürwortung von Existenz bedrohlichen Sanktionen im Sozialsystem zum Ausdruck (wie z. B. seitens Bofinger und Schmidt). Aber auch die Vorschläge der „Wirtschaftsweisen“ zeugen davon, wenn sie empfehlen, das Grundsicherungsniveau zu senken und das soziokulturelle Existenzminimum nur bei Bereitschaft zur Aufnahme einer angebotenen „Bürgerarbeit“ zu ermöglichen (siehe Jahresgutachten 2010/2011).

Wer also nach Forschungen sucht, in denen die Selbsterhaltung als Motiv des Wirtschaftens im Zentrum steht, wird sich im Urteil von Graupe/Ötsch (2016) bestätigt sehen, dass die (Standard-) Ökonomik den Anschluss an andere Disziplinen verloren hat. So arbeitet z. B. Henry Shue (1997) heraus, dass das „right to subsistence“ ein Grundrecht darstellt, das notwendig ist, um z. B. wirtschaftliche Freiheitsrechte überhaupt verwirklichen zu können. Das wäre sicher auch institutionenökonomisch höchst relevant, ist in der Ökonomik aber bislang nicht aufgegriffen worden. Der Politologe und Anthropologe James C. Scott (1976) beschäftigte sich nicht nur mit Phänomenen der Selbsterhaltung (z. B. mit Blick auf Revolten), sondern führte zentrale Subsistenz-Begriffe und -Konzepte ein, wie z. B. das „safety-first principle“ (Konzentration auf Existenzsicherung), minimum disaster level oder die „subsistence crisis zone“. Auch das ist bislang nicht zur (standard-) ökonomischen Betrachtung durchgedrungen.

Ideengeschichtlich betrachtet war es zwar nicht immer so, dass die Selbsterhaltung von Ökonominnen und Ökonomen ignoriert wurde. Aber es lässt sich feststellen, dass die Selbsterhaltung oft nur als Selbstverständlichkeit in Nebensätzen auftaucht(e) oder auf dem minimum disaster level fixiert blieb (z. B. ehernes Lohngesetz).

Subsistenz und Plurale Ökonomik?

 
 

 


Das Bild der Ökonomik muss hinsichtlich der Selbsterhaltung aber nicht trostlos bleiben. Aus Sicht einer pluralen Ökonomik bietet die moderne Subsistenzperspektive einen meta-theoretischen Analyserahmen, mit dem in der ökonomischen Ideengeschichte, im Bereich heterodoxer Ökonomiken, in interdisziplinären Randbereichen (wie Sozialökonomik) oder in anderen Disziplinen die Konzepte, Elemente usw. der Subsistenz identifiziert, eingeordnet und bewertet werden können (siehe nachfolgende Tabelle).

Quelle: Eigene Darstellung

Aus einer modernen Subsistenzperspektive heraus sind natürlich vor allem feministische Ökonomiken interessant. Das ist naturgemäß so, weil dort bereits die Reproduktion immer wieder thematisiert wird und damit vor allem Existenz notwendige Tätigkeiten wie Hausarbeit, Pflege usw., die die Voraussetzungen des Wirtschaftens bilden, zu denen ebenso Naturressourcen und Umwelt zählen. Genau das wird z. B. im Konzept Vorsorgenden Wirtschaftens herausgearbeitet (z. B. Biesecker 2009). Das heißt, dass dort ökologische, feministische, soziale, kulturelle und ethische Fragen miteinander in Beziehung gesetzt sind und die entsprechende Analyse ihren zentralen Referenzpunkt in der Achtung der Lebensprozesse von Mensch und Natur hat.

Fazit

Als kritisches Resümee lässt sich festhalten, dass sich die Notwendigkeit der Erreichung des 1,5-Grad-Ziels nicht begreifen lässt, wenn noch nicht einmal die Einsicht in die Notwendigkeit existiert, sich selbst zu erhalten. Im wirtschaftlichen und wirtschaftstheoretischen Kontext ist es geradezu erschreckend, wie wenig sich dort die Alltagserfahrung vieler Menschen widerspiegelt, wirtschaften zu müssen, um die eigene Existenz zu sichern. Insofern ist die Standard-Ökonomik denkbar schlecht aufgestellt für die Herausforderungen einer sozial-ökologischen Transformation.

Wie Papst Franziskus bereits in seiner „Öko-Enzyklika“ kritisch anmahnte, reicht es dafür auch nicht aus, nur zu versuchen, „einige negative Auswirkungen des Klimawandels zu reduzieren“. Es sind Konzepte gefragt, die sich nicht auf kleinteilige und schlimmstenfalls konservative Anpassungen beschränken, sondern die prinzipiell in der Lage sind, andere Lebens- und Wirtschaftsstile zu skizzieren, aufzugreifen und wissenschaftlich angemessen zu begleiten.

Dabei wird durchaus über einen Systemwechsel zu reden sein: Damit ist u. a. gemeint

  • „Märkte“ auch anders als standard-ökonomisch zu denken,
  •  nicht-marktliche bzw. dezentral organisierten Produktionsprozesse zu ermöglichen (solidarische Wirtschaftsformen usw.), über einen Mix aus marktlicher und nicht-marktlicher Güterversorgung nachzudenken,
  •  globale Produktionsverhältnisse einer kritischen Analyse zu unterziehen (Menschenrechte, Umweltrechte usw.), das Konsumverhalten zu verändern und dort Substitute anzubieten, wo soziale Schieflagen drohen und
  • die öffentliche Daseinsvorsorge den neuen Erfordernissen anzupassen und sie gegen marktfundamentalistische Angriffe zu verteidigen.

Es wird außerdem darüber nachzudenken sein, wie mit den bereits existierenden und den noch kommenden Folgen unserer Umweltschädigungen human (also menschenwürdig) und gerecht umzugehen ist. Die Plurale Ökonomik kann hinsichtlich dieser Herausforderungen eine zentrale Rolle spielen. Allerdings bräuchte es dazu einen akademischen Raum, um geeignete Konzepte zu entwickeln und weiterzuentwickeln. Welche Konzepte das sein können oder welche Mindestanforderungen solche Konzepte erfüllen sollten, dazu bietet die hier vorgestellte Subsistenzperspektive eine Orientierung.

Zum Autor:

Sebastian Thieme ist Diplom-Volkswirt, hat im gleichen Fach zum Thema „Subsistenz/Selbsterhaltung“ promoviert. Er ist im Wintersemester 2019/2020 Vertretungsprofessor im Fachbereich Verwaltungswissenschaften der Hochschule Harz, wo er bereits im WS 2018/2019 eine Professur für VWL vertrat, und war in verschiedenen Projekten zur Pluralität der Ökonomik tätig. Forschungsschwerpunkte sind u. a. Subsistenzethik, Selbsterhaltung als Wirtschaftsmotiv, Sozialstaat, Ökonomik und Normativität, Plurale Ökonomik, das Denken in Wirtschaftsstilen und ökonomische Misanthropie. Webseite: economicethics.blogspot.com Auf Twitter: @EconomicEthics

 

 

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