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Der 14. Mai 2024 bedeutete eine Zäsur für das europäische Grenzregime. Nach einer fast zehn Jahre dauernden politischen Blockade und einem im Juni 2023 erzielten Verhandlungsdurchbruch verabschiedete der EU-Ministerrat einen Kompromiss zwischen Europäischer Kommission, Europäischem Parlament und den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten. Dieser beinhaltet weitreichende Reformen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (European Council 2024). Gemeinsamer Nenner der damit einhergehenden Veränderungen ist ein neues Niveau an Repression gegenüber Fluchtmigration. Ein Großteil der in der EU gestellten Asylanträge könnte als „unzulässig“ abgelehnt werden. Zehntausenden Schutzsuchenden droht monatelang Inhaftierung in grenznahen Lagern. Pushbacks werden noch wahrscheinlicher (Pro Asyl 2024). Funktionieren wird die Abschottung nicht. Chaos, bittere Konflikte und massenhaftes Leiden sind vorprogrammiert (Pichl 2023; Kasparek 2023).
Parallel zu dieser restriktiven Entwicklung wird in Deutschland und anderen EU-Ländern seit vielen Jahren ein Arbeitskräftemangel beklagt, insbesondere bei Fachkräften (vgl. Georgi et al. 2014). In diesem Zusammenhang wird aktiv darauf hingearbeitet, Einwanderung zu fördern. Deutschland wirbt u.a. auf den Philippinen, in Ghana und Brasilien um Pflegekräfte und beschloss im Juli 2023 das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung“. Dieses erlaubt es ausländischen Lohnabhängigen mit der richtigen Qualifikation ohne konkretes Job-Angebot nach Deutschland zu kommen (Palop-García/Engler 2023). Auch die EU-interne Freizügigkeit gilt weiterhin. Parallel zum repressiven Vorgehen gegen Fluchtmigration wird somit die Politik gegenüber spezifischen Arbeitsmigrant*innen zunehmend liberalisiert.
Wie lässt sich diese Gleichzeitigkeit einer immer brutaler werdenden Repression gegen Asylsuchende und die fortgesetzte Liberalisierung der Arbeitsmigrationspolitik erklären? Migrationspolitische Think Tanks beklagen sich in diesem Kontext oft über eine „paradoxe“ oder „irrationale“ Politik und verlangen mehr „Kohärenz“ (Godin et al. 2022). Es fällt ihnen schwer die Gegenläufigkeit der beiden Tendenzen zu erklären. Aus Perspektive einer kritischen politischen Ökonomie und einer materialistischen Staatstheorie ist das anders. Aus diesen Perspektiven werden widersprüchliche Politiken als Ausdruck der widersprüchlichen Strukturprinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung und der mit ihnen einhergehenden sozialen Kämpfe und Kräfteverhältnisse analysiert. (vgl. Buckel et al. 2014: 31ff.). Zu klären ist somit, wie Migration und Grenzen, sowohl grundlegend als auch in der gegenwärtigen historischen Phase, mit dem Kapitalismus zusammenhängen.
Die Mobilität von Arbeiter*innen ist sowohl historisch wie theoretisch ein zentraler Ausgangspunkt der kapitalistischen Re/Produktionsweise. Kapitalistisch organisierte Produktion und Reproduktion braucht mobile Arbeiter*innen. Diese müssen flexibel zu den Orten ‚migrieren‘, an denen sie für die Profitstrategien von Staaten und Unternehmen benötigt werden. Das umfasst etwa Plantagen, Minen und Fabriken, aber auch Orte von Care- oder Reproduktionsarbeit wie Krankenhäuser, Pflegeheime oder Privathaushalte. Damit Menschen zu solch flexiblen Arbeiter*innen werden (können) müssen sie, so Karl Marx (MEW 23: 183), „doppelt frei“ sein: frei von feudalen und anderen Fesseln, die sie an einen bestimmten Ort binden und zugleich frei von Alternativen zum Verkauf ihrer Arbeitskraft, etwa eigene Produktionsmittel oder ein großes Vermögen. Wären Arbeiter*innen immobil, weil sie juristisch oder politisch gezwungen sind, an einem bestimmten Ort zu bleiben oder weil sie über Alternativen zum Verkauf ihrer Arbeitskraft verfügen, könnte kapitalistische Produktion nicht stabil und profitabel stattfinden. Die Reproduktion kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse wäre schnell am Ende (Gambino/Sachetto 2009; de Genova 2019; Basso 2021).
Diese grundlegende Abhängigkeit kapitalistischer (Re-)Produktion von der Mobilität der Arbeitskräfte drängt kapitalistische Unternehmen und Staaten dazu, strategisch zu versuchen, die Mobilität der Lohnabhängigen in einer für die Profitproduktion vorteilhaften Weise zu steuern, zu lenken und zu ’managen‘. Hierfür reicht es allerdings nicht aus, dass irgendwelche Arbeitskräfte irgendwie und irgendwo mobil sind. Aus der Perspektive von Branchen, die auf mobile Arbeitskräfte angewiesen sind (heute zum Beispiel Landwirtschaft, Bau, Pflege, IT-Industrie) ist es nötig, die Mobilität der arbeitenden Klassen so zu steuern, dass Arbeitskräfte mit bestimmten Qualifikationen, in ausreichenden Zahlen an spezifischen Orten zur Verfügung stehen (vgl. Georgi 2016: 196ff.). Hätten Menschen nicht nur formal das Recht, sondern auch die reale, materiell abgesicherte freie Wahl, eigensinnig dorthin zu gehen oder dort zu bleiben, wo sie möchten (auch über Staatsgrenzen hinweg), wäre dies für den Kapitalismus mitunter dysfunktional. Dies gilt besonders für die komplexen und dynamischen Arbeitskraftbedürfnisse kapitalistischer Produktion hinsichtlich Qualifikation, Zahl und Ort. Eine freie Eigensinnigkeit von Menschen zu gehen und zu bleiben wäre mit den regional und lokal spezifischen Arbeitskraftbedürfnissen kapitalistischer Unternehmen und Staatsapparate oft nicht vereinbar. Würden Staatsapparate und Unternehmen somit nicht versuchen, die Mobilität und Immobilität von Arbeiter*innen zu ‚managen‘, dann würden die Arbeitskraftprobleme des Kapitals häufig nicht oder nicht in ihrem eigenen Interesse gelöst werden.
Je nach historischer Situation nimmt dieses ‚Management‘ der Arbeitskräftemobilität verschiedene Formen an (vgl. Cohen 1987; Potts 1988; Gambino/Sacchetto 2009). Manchmal werden Arbeiter*innen zur Immobilität gedrängt oder gezwungen, etwa weil sie an einem bestimmten Arbeitsort benötigt werden. Manchmal wird Mobilität und Migration gefördert oder erzwungen, z.B. wenn Arbeitskräfte an neuen Produktionsstandorten gebraucht werden. Zudem ermöglicht es die ausländerrechtliche Kontrolle migrantischer Arbeiter*innen diese in unterschiedlichen Kategorien von Aufenthaltstiteln einzusortieren. Dies macht es möglich, ihnen unterschiedliche Rechte zu verleihen bzw. sie verschiedenen Beschränkungen zu unterwerfen. Arbeiter*innen am unteren Ende solcher Hierarchien können so, im Zusammenwirken mit rassistischen Praktiken, gezwungen werden, prekäre und harte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne zu akzeptieren, die ein (Über-)Leben wenn überhaupt nur mit großen und leidvollen Schwierigkeiten erlauben (vgl. Sarbo 2022: 43f.; Georgi 2022a: 99f.). Ein Beispiel sind nicht-deutsche EU-Bürger*innen, die in Deutschland zwar arbeiten dürfen, aber über weniger soziale Rechte verfügen. Sie sind deshalb oft gezwungen, prekäre und harte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder in der Fleischindustrie zu akzeptieren. Aus Sicht kapitalistischer Unternehmen und Staaten ergeben sich aus der Kontrolle migrantischer Arbeitskräfte somit verschiedene Vorteile.
Vor diesem Hintergrund wird verstehbar, warum die Arbeitsmigrationspolitik schrittweise liberalisiert wird. Es handelt sich um eine strategische Reaktion auf einen vermeintlichen ‚Fachkräftemangel‘ und den demographischen Wandel. Prinzipiell stehen Unternehmen und Staatsapparaten bei einem Mangel an Arbeitskräften allerdings eine ganze Reihe weiterer ‚Arbeitskraftstrategien‘ zur Verfügung. Annäherungsweise lassen sich acht Strategien unterscheiden (vgl. Georgi et al. 2014: 211f.). Unternehmen und Staaten können erstens ökonomischen, juristischen oder gar physischen Druck auf lokale Arbeitskräfte vergrößern, bestimmte Jobs anzunehmen, zum Beispiel durch Workfare-Politiken, gewaltsame Drohungen oder ausländerrechtliche Bestimmungen. Sie können zweitens Arbeitsbedingungen verbessern und Löhne erhöhen, um Arbeitskräfte anzuziehen oder drittens im Arbeitsprozess unterrepräsentierte Gruppen (etwa Arbeitslose, ältere Menschen, nicht erwerbstätige Frauen, vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Minderheiten) in diesen integrieren. Viertens können sie dafür sorgen, spezifische Arbeitskräfte neu oder anders so zu qualifizieren und auszubilden, so dass sie Plänen entsprechen, Produktionsprozesse zu verändern oder zu expandieren. Sie können fünftens die Ausbeutung bestehender Belegschaften intensivieren (Arbeitstag verlängern oder verdichten) oder sechstens menschliche Arbeitskraft durch Maschinen und neue Technologien ersetzen. Sie können siebtens versuchen, die Produktionsstätten an Orte zu verlagern, an denen genügend passend qualifizierte oder billigere Arbeitskräfte zu Verfügung stehen (Standortverlagerung, globale Zulieferketten). Schließlich können sie achtens darauf hinwirken, dass von anderen Orten mobile Arbeitskräfte zum Produktionsort migrieren (Migrationspolitik). Die spezifische Konfiguration dieser und weiterer Strategien konstituieren historische wechselnde „Arbeitskraftregime“ (Cohen 2006: 20ff.; Gambino/Sachetto 2009: 117; Georgi et al. 2014: 212).
Arbeitskraftstrategie 1 |
Druck vergrößern, spezifische Arbeiten anzunehmen |
Arbeitskraftstrategie 2 |
Anreize erhöhen, spezifische Arbeiten anzunehmen |
Arbeitskraftstrategie 3 |
Unterrepräsentierte Gruppen in Arbeitsmarkt integrieren |
Arbeitskraftstrategie 4 |
Arbeitskräfte qualifizieren und weiterbilden |
Arbeitskraftstrategie 5 |
Bestehende Belegschaften stärker ausbeuten |
Arbeitskraftstrategie 6 |
Arbeitskraft durch Technologien ersetzen |
Arbeitskraftstrategie 7 |
(Re-)Produktion räumlich verlagern |
Arbeitskraftstrategie 8 |
Arbeitsmigration anziehen und fördern |
Abb. 1: Übersicht über Arbeitskraftstrategien (eigene Darstellung)
Die eingangs erwähnten Anwerbeprogramme für Pflegekräfte und die Fachkräfteeinwanderungsgesetze der letzten Jahre weisen darauf hin, dass im Arbeitskraftregime in Deutschland eine wachsende strategische Bedeutung auf migrationspolitische Strategien (Arbeitskraftstrategie 8) gelegt wird.
Festhalten lässt sich: In kapitalistisch organisierten Ökonomien muss die Mobilität und Immobilität von Arbeiter*innen politisch beeinflusst und ‚gemanagt‘ werden, um komplexe und dynamische Arbeitskraftbedürfnisse der Profitproduktion zu erfüllen. Im derzeitigen deutschen Arbeitskraftregime gewinnen migrationspolitische Strategien an Bedeutung, was in Anwerbeprogrammen und weiteren Maßnahmen zum Ausdruck kommt. Unklar blieb bislang, warum sich diese migrationspolitische Liberalisierung gegenüber gesuchten Arbeitskräften parallel zu einer immer härteren Repression gegen eigensinnige und illegalisierte Fluchtmigration entwickelt? Wäre es aus kapitalistischer Sicht nicht sinnvoller und einfacher, wenn die EU-Regierungen die Grenzen weit öffnen würden, um mehr Arbeitskräfte anzuziehen?
Dass dies gegenwärtig nicht geschieht und es neben der regulierten Offenheit für Arbeitsmigration zu einer immer radikaler werdenden Repression gegen Fluchtmigration kommt, lässt sich mit Hilfe einer materialistischen Staatstheorie erklären. Im Fokus der Analyse stehen hier die Strategien materiell und ideologisch führender Klassenfraktionen, die versuchen ihre gesellschaftliche Hegemonie oder wenigstens ihre politische Dominanz zu erhalten. Hegemonie beschreibt, im Sinne des italienischen Marxisten Antonio Gramsci (1891-1937), eine Situation, in der es machtvollen sozialen Kräften gelingt, eine Allianz sozialer Gruppen und Fraktionen zu schmieden, welche die führende Stellung dieser machtvollen Kräfte akzeptiert und unterstützt (Opratko 2022: 37ff; vgl. Gramsci 2013a: 32; ebd. 2013b: 60). Diese führenden Fraktionen dominieren die Leitprinzipien der ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse zu ihrem eigenen Vorteil. Ihre Führungsrolle können sie allerdings nur deshalb und mittelfristig betrachtet nur solange aufrechterhalten, wie es ihnen gelingt ist, die sie stützenden Gruppen und Fraktionen durch attraktive Ideen und Erzählungen „diskursiv“ einzubinden und ihnen zugleich substanzielle materielle Vorteile zu verschaffen.
Neogramscianische Forschungen argumentieren, dass eine solch hegemonial führende Stellung in Deutschland und der EU in den letzten Jahrzehnten von einem neoliberalen Block eingenommen wurde. Dieser wurde von einer Koalition aus maßgeblichen Kräften des Industrie- und Finanzkapitals sowie nationalen und internationalen Staatsapparaten geführt – und von deren Kernbelegschaften gesellschaftlich getragen. Zahlreiche internationale Organisationen, Wirtschaftsverbände und Think Tanks boten ideologische Unterstützung (Gill 1998, S. 12f.; Apeldoorn 2009: 23f.). Dieser hegemoniale Block hat seine ökonomische Basis in einem auf Weltmarkt und Globalisierung ausgerichteten Wachstumsmodell, welches mit einem finanzdominierten Akkumulationsregime komplex verschränkt ist. Diese ständig krisenhafte Formation wurde im Sinne der Regulationstheorie durch staatliche Politiken ermöglicht und stabilisiert. Diese kombinierten Privatisierungen und eine Deregulierung im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik mit einer zunehmend autoritären Versicherheitlichung sowie polizeilicher Repression gegen marginalisierte, oft rassifizierte Gruppen und linken politischen Protest. Für die hier eingenommen hegemonietheoretische Argumentation ist entscheidend, dass es dem neoliberalen Block seit den 1980er Jahren gelang, den Kernbelegschaften von transnationalen Konzernen und erfolgreichen mittelständischen Unternehmen sowie den Angestellten und Beamt*innen zentraler Staatsapparate materielle Vorteile und einen im Weltmaßstab betrachtet nicht unerheblichen Wohlstand zu sichern (vgl. Brand/Wissen 2017; kritisch. Radl/Schmid 2022). Hieraus resultierte in den Mittel- und Oberklassen des Globalen Nordens phasenweise eine breite Unterstützung ‚zentristischer‘ politischer Kräfte und der von diesen getragenen neoliberalen Agenda. Gleichzeitig gelang es den Träger*innen dieser neoliberalen Hegemonieprojekte sowie ihren politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Unterstützer*innen große Teile der Bevölkerungen in der EU und anderen Staaten des Globalen Nordens ideologisch in die neue Formation einzubinden und zur politischen Unterstützung und Akzeptanz ihrer politischen Leitlinien zu bewegen. Dies gelang mit Hilfe von Diskursen über Flexibilität und Freiheit, Leistungsgerechtigkeit und Konsumversprechen sowie mit Verweis auf (angebliche) ökonomische Sachzwänge und das Menschbild eines nutzenmaximierenden homo oeconomicus (vgl. Habermann 2008; Fisher 2013). Andere soziale Gruppen waren aus diesem hegemonialen Kompromiss ausgeschlossen und erfuhren entsprechende Nachteile, darunter prekär Beschäftigte, Sozialleistungsbezieher*innen, Geflüchtete und illegalisierte Arbeiter*innen, sowie große Teile der Bevölkerungen außerhalb des Globalen Nordens. Auf dieser hegemonialen Konfiguration basierte in Deutschland und der EU jahrzehntelang die politische Stabilität (vgl. Georgi 2019a: 570ff.).
Für den zunehmend repressiven Charakter der europäischen Grenzregimes ist nun entscheidend, dass diese bereits zuvor ständig krisenhafte Hegemoniespätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 – 2009 immer weiter erodiert ist. Dieser Prozess hat sich im Zusammenhang der sich in den vergangenen Jahren entfaltenden Dynamiken einer Poly- bzw. Vielfachkrise (u.a. Eurokrise, Care-Krise „Migrationskrise“, Pandemie, Klimakrise, Krieg), verstärkt (vgl. Demirović et al 2011; Georgi 2019b). Die zunehmend „fragmentierte Hegemonie“ (Martin/Wissel 2015) basiert deshalb immer mehr darauf, dass die Bevölkerungen des Globalen Nordens und vor allem ihre Staatsbürger*innen die zwar zunehmend prekären, aber weiterhin realen Vorteile einer imperialen Lebens- und Re/Produktionsweise genießen können. Die Überreste der Hegemonie des neoliberalen Blocks beruhen somit u.a. darauf, dass die ökonomischen, ökologischen und soziopolitischen Kosten und Nachteile dieser Lebens- und Produktionsweisen des Globalen Nordens in andere Räume sowie an marginalisierte soziale Gruppen im Norden ausgelagert und externalisiert werden können (vgl. Lessenich 2018, S. 28f.). Wer welche Löhne erreichen kann, wer welche Sozialleistungen erhält, wer Chancen hat auf Wohnungen, öffentliche Dienstleistungen oder Teilhabe an der öffentlichen Sicherheit und Infrastruktur wird durch Migrations- und Grenzregime entscheidend mitbestimmt. Das liegt daran, dass die Anwesenheit auf dem Territorium eines im Weltmaßstab reichen Staates im Globalen Norden bereits einen zwar begrenzten und hierarchisierten, aber realen Zugang zu vergleichsweise guten Löhnen, Lebensbedingungen und Infrastrukturen vermitteln kann. Die massiv unterschiedlichen Re-/Produktionsverhältnisse und Lebensweisen im Globalen Norden und Süden könnten ohne die grenzpolitische Abschottung gegenüber den eigensinnigen Bewegungen aus dem Globalen Süden nicht stabil existieren. Angesichts der eigensinnigen Versuche von Flucht- und Migrationsbewegungen aus dem Globalen Süden und der Peripherie des Nordens »Sicherheit und ein besseres Leben« im Norden zu realisieren, so Ulrich Brand und Markus Wissen, bleibt den »kapitalistischen Zentren […] nur noch der Versuch, ihre Lebensweise durch Abschottung und Ausgrenzung exklusiv zu stabilisieren.« (Brand/Wissen 2017, S. 14f.; vgl. Lessenich 2015, S. 25) Auch Sonja Buckel hält mit Bezug auf die EU fest, »dass Grenzkontrollen als Migrationskontrollen in Europa eine hegemoniale Funktion zukommt, weil sie dazu dienen, eine imperiale Lebensweise abzusichern« (Buckel 2013, S. 62), sie werden zu deren »Ermöglichungsbedingungen« (ebd. 68).
Die fragile Dominanz und Hegemonie von Kapitalfraktionen im Globalen Norden beruht vor dem Hintergrund der multiplen Krise somit zunehmend darauf, dass Grenzregime dazu beitragen, die Bevölkerungen des Globalen Nordens bei der Distribution des globalen Mehrprodukts relativ gesehen zu bevorteilen (Georgi 2022b: 91, 98f.). Es ist u.a. diese relative Privilegierung, die von rechts-chauvinistischen Kräften im Norden mit großer Aggressivität eingefordert und über radikal nationalistische und rassistische Diskurse legitimiert wird. Obwohl sich aus dem Aufstieg dieser Kräfte auch neue Herausforderungen für die ökonomisch herrschenden Gruppen ergeben, etwa wenn rechte Akteure den europäischen Binnenmarkt in Frage stellen, können beide Seiten im Bereich des EU-Außengrenzschutzes und der Fluchtmigration Kompromisse schließen. Die hierfür nötige Ausgrenzung und Entrechtung wird zentral über die repressiven, Abschottungs-fokussierten Elemente des europäischen Migrations- und Grenzregime organisiert (vgl. Georgi 2022a: 98f.; 2022b: 395ff.). Die europäische Abschottungspolitik fungiert jedoch nicht nur als Methode zur materiellen Stabilisierung der relativen Vorteile breiter Bevölkerungsschichten. Vielmehr erfüllt sie auch ideologische Funktionen, welche die Hegemonie der führenden Gruppen stabilisieren (kann). Dabei lösen argumentative Strategien über Sicherheit und Souveränität sowie Diskurse über Kultur und Nation die seit den 1980er Jahren etablierten Legitimationsmuster (Freiheit, Konsum, Leistungsgerechtigkeit) in wachsendem Maße ab.
An diesem Punkt wird verständlich, warum das europäische Grenzregime scheinbar widersprüchliche Politiken beinhaltet – einerseits verstärkte Anwerbung nützlicher Arbeitskräfte, andererseits brutale Repression gegen illegalisierte Fluchtmigration. Die Kombination liberaler Arbeitsmigrationspolitik und restriktiver Asylpolitiken hat zentral zwei Ziele: Einerseits soll ein flexibles Reservoir an migrantischen Arbeitskräften mit unterschiedlichen, abgestuften Rechten zur Verfügung stehen, um die Arbeitskraftbedürfnisse europäischer Ökonomien zu erfüllen. Andererseits soll die immer radikalere Repression an den europäischen Außengrenzen die materielle und diskursive Ausgrenzung von Nicht-Zugehörigen organisieren. Dies liegt darin begründet, dass diese Ausgrenzung für das Funktionieren der imperialen Lebensweise- und Produktionsweise, für die Externalisierung ihrer Kosten nach außen und unten, und damit die Dominanz bzw. Hegemonie führender Klassenkräfte notwendig ist. Die scheinbare Widersprüchlichkeit aus Abschottung und Offenheit in der europäischen Migrationspolitik wird somit als Resultat unterschiedlicher kapitalistischer Logiken und widersprüchlicher Regulationsimperative erkennbar. In beiden Dimensionen spitzt sich die Lage tendenziell zu: Die Verfügbarkeit der passenden Arbeitskräfte ist im Kontext des demographischen Wandels immer schwieriger zu gewährleisten. Die an Dramatik zunehmenden gesellschaftlichen Krisendynamiken unterminieren die imperiale Lebens- und Produktionsweise, so dass der Impuls zu deren autoritärer und gewaltsamer Stabilisierung immer stärker wird.
Ob diese Dynamik zur Aufhebung der Herrschaftsverhältnisse drängt oder, was aktuell eher der Fall zu sein scheint, zu noch autoritären Formen der Regulation, ist letztlich von gesellschaftlichen Kämpfen und ihrem Ausgang abhängig. In diesen Kämpfen gilt es die Autonomie der Migration und das notwendige Scheitern der Migrationskontrolle an Eigensinn und Widerständigkeit der „People on the Move“ anzuerkennen. Es kommt darauf an, Migration als Kampf für Bewegungsfreiheit zu verstehen, dem das Potential innewohnt, die herrschenden Verhältnisse ins Wanken zu bringen. Aus der Einsicht, dass sich die Dynamik der europäischen Migrationspolitik aus widersprüchlichen kapitalistischen Logiken speist, folgt eine weitere Erkenntnis: Migrationskontrolle im Allgemeinen und das leidvolle und brutale Grenzregime der EU im Besonderen können nicht losgelöst von der kapitalistischen (Re-)Produktionsweise betrachtet werden. Das Leiden an den Grenzregimen ist nur zu überwinden, wenn es gelingt, die kapitalistische Produktionsweise zu überwinden und den Einstieg in öko-sozialistische Transformationen durchzusetzen. Utopien und Transformationsprogramme, welche die Realität wachsender Migrationsbewegungen ignorieren, oder die nur mit weitgehend geschlossenen Grenzen funktionieren würden, sind deshalb entschieden abzulehnen. Stattdessen gilt es an gesellschaftlichen Perspektiven zu arbeiten, in denen die Bedürfnisse und Lebenshoffnungen von Menschen, die bereits hier leben und jenen, die noch ankommen werden, in solidarischer und radikal demokratischer Form gemeinsam erfüllt werden können.
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