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Die Kita-Krise - Situation, Lösungsansätze, Hintergründe

Fred Heussner
Exploring Economics, 2024
Grado: debutante
Perspectivas: Economía feminista, Economía política Marxista, Economía poskeynesiana
Topic: Administración de negocios, Crisis, Instituciones, gobiernos y políticas públicas, Trabajo y cuidado, Movimientos sociales y cambio
Format: Dossier

Die Lage in den Kitas ist brisant. Pädagogische Fachkräfte in Berlin wollten deshalb in den Streik treten. Die Berliner Landesregierung hat dagegen geklagt und den Streik bisher verhindert. Gewerkschaften und Elterninitiativen haben gegen das Verbot mobil gemacht. Probleme verschärfen sich. Konflikte spitzen sich zu.

Doch was ist da eigentlich los? Wie lässt sich die Situation verbessern? Was hat das ganze mit Sparpolitik und der Abwertung von Sorgearbeit im Kapitalismus zu tun? Wie überwinden wir diese strukturellen Beschränkungen?

Damit Ihr Euch ein Bild von der Lage machen könnt, haben wir in diesem Dossier Videos, Texte, Podcasts und Infografiken gesammelt, die wir dafür hilfreich finden. Das Dossier hat das Ziel von Einführung und Orientierung und bildet nur einige Blickpunkte auf das komplexe Thema ab. Es richtet sich gerade auch an diejenigen, die mit Betreuung, Erziehung und BIldung von Kindern wenig zu tun haben und sich noch nicht mit dem Thema beschäftigt haben, enthält aber sowohl einführende als auch weiterführende Lernmöglichkeiten.

Das Dossier ist in vier Absätze gegliedert, die jeweils einen Kurzüberblick und eine Link-Sammlung zum Weiterbilden beinhalten.

Das Problem: Die Kita-Krise

Die Bedingungen in den Kitas sind dramatisch - insbesondere der gravierende Personalmangel bereitet große Probleme. Strukturelle Überforderung und Unterausstattung prägen die Situation. Statt dem Bildungsauftrag, den Bedürfnissen der Kinder und den Ansprüchen der pädagogischen Fachkräfte gerecht zu werden, bleibt manchmal nur Verwahrung übrig. Die Betreuungsschlüssel sind unzureichend. Die Betreuungszeiten werden eingeschränkt und Einrichtungen zeitweise geschlossen. Erzieher:innen werden krank oder brechen sogar zusammen. Viele verlassen den Beruf. Die Zustände sind nicht nur für Kinder und Erzieher:innen belastend. Auch die Eltern sind von der Kita-Krise negativ betroffen. Gerade die Einschränkungen des Kita-Betriebs bringen die in den meisten Haushalten für die Kinderversorgung verantwortlichen Mütter in eine Zwangslage. Die bereits bestehende Doppelbelastung durch Berufstätigkeit und Hauptzuständigkeit für Care-Arbeit wird auf die Spitze getrieben. Und das sind nur diejenigen Eltern, die überhaupt einen Kita-Platz haben. Insgesamt fehlen nämlich hunderttausende Plätze. Das hat auch gesamtwirtschaftliche Auswirkungen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hängt ganz zentral vom Angebot der Kinderbetreuung ab. Die Kita-Krise verschärft damit den Fachkräftemangel, welcher die Gesamtwirtschaft in erheblichem Ausmaß belastet. So weitreichend die gesamtwirtschaftlichen Effekte der fehlenden Betreuung auch sind, dürfen Kitas nicht darauf reduziert werden. Sie sind Einrichtungen der frühkindlichen Bildung, in denen ausgebildete Fachkräfte die Entwicklung der Kinder gezielt fördern und zu Bildungsgerechtigkeit beitragen.

Einen Einblick in die Perspektive von Pädagogischen Fachkräften findet ihr in unten stehendem Video, in dem eine Erzieher:innen ihre Arbeitsbedingungen beschreibt. Weitere Erfahrungsberichte findet ihr bei der SOS-Kita Kampagne der Gewerkschaft Ver.Di oder bei der Recherche Kita-Notstand von Correctiv Magazin, für welche Tausende Kita-Mitarbeitende von ihren Erfahrungen berichtet haben. Ein Schwarzbuch-Kita von Ver.Di ist in Vorbereitung.


Auch die Perspektive der Eltern ist für die Kita-Krise sehr relevant. Dafür empfehlen wir den Linktree der Elterninitiative Einhorn sucht Bildung anzugucken, die die Kita-Mitarbeitenden in ihren Kämpfen unterstützt und eine Vielzahl von Informationsmaterial herausgibt. Eine wissenschaftliche Übersicht über die Betreuungslücke findet ihr in einer Studie vom Institut der deutschen Wirtschaft, die den aussagekräftigen Titel 306.000 Betreuungsplätze für unter 3-jährige Fehlen hat.

Einen Überblick über die Gesamtsituation und ihre Hintergründe aus wissenschaftlicher Perspektive findet ihr in dem Text Kita – Krise – Kollaps? in den Blättern für Deutsche und Internationale Politik. Auch der Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme der Bertelsmann Stiftung gibt einen Überblick aus der "Vogelperspektive".

Zu den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Kita-Krise, gibt es mit Kitas in der Krise, Wirtschaft in Gefahr einen weiteren hochwertigen Beitrag in den Blättern für Deutsche und Internationale Politik. Auch die Episode Kita-Krise hält Millionen von Job fern von 10 Minuten Wirtschaft Podcast gibt einen guten Überblick.

Wenn ihr Euch mit dem Thema frühkindliche Bildung beschäftigen wollt, empfehlen wir die Episode Frühkindliche Bildung sichtbar machen! vom Podcast Bildung in Rosa. Eine umfassende Übersicht über das Thema frühkindliche Bildung gibt es auch im Dossier Frühkindliche Bildung von der Bundeszentrale politische Bildung.


Die Lösung: Bessere Arbeitsbedingungen erkämpfen

Angesichts der dramatischen Lage ist es deshalb gut, dass die Beschäftigten sich nicht mehr mit den miserablen Bedingungen der Kinderbetreuung abfinden und für Verbesserung kämpfen. Dabei folgt die strategische Perspektive dem Vorbild der Pflege, wo es in Tarifauseinandersetzungen nicht mehr nur um die Bezahlung, sondern auch um Entlastung und die Qualität der Arbeit geht. Die pädagogischen Fachkräfte in Berlin fordern deshalb einen Tarifvertrag “Pädagogische Qualität und Entlastung”, der unter anderem bessere Personalschlüssel beinhaltet. Sie wollen erreichen, dass Kitas von Orten der Verwahrung zu Orten der Bildung werden. Zu Orten, die die Bedürfnisse der Kinder befriedigen können - und zwar ohne dass die Mitarbeitenden dafür über ihre Grenzen gehen. Bessere Bedingungen werden zudem als Voraussetzung für eine Überwindung des eklatanten Fachkräftemangels in der Kinderbetreuung gesehen: Sie sollen die Abwanderung von Mitarbeitenden stoppen und dazu führen, dass Pädagogische Fachkräfte, die dem Beruf den Rücken gekehrt haben, zurückkommen, Mitarbeitende in Teilzeit ihre Stunden aufstocken und sich mehr Menschen für den Beruf interessieren. Damit könnten auch Zeitbeschränkungen und Schließungen wieder der Vergangenheit angehören. Spätestens hier zeigt sich auch, dass es zwischen den Interessen der Eltern und der Streikenden keinen Widerspruch gibt. Stattdessen profitieren alle von besseren Bedingungen in der Kita.

Wenn ihr Euch weiter über die Tarifauseinandersetzungen informieren möchtet, findet ihr hier ein Video zu den Tarifauseinandersetzungen, eine Übersicht über die Forderungen und eine Infografik, die die bisherigen Schritte in der Auseinandersetzung anschaulich darstellt.


Zum Zusammenhang zwischen besseren Arbeitsbedingungen und der Hoffnung, damit dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, findet ihr hier die Studie “Nur Teilzeit in der Kita? Arbeitszeitumfang und Beschäftigungspotenziale in der Kindertagesbetreuung” von der Hans-Böckler-Stiftung und eine Episode aus dem Systemrelevant Podcast, in der die Ergebnisse der Studie diskutiert werden.

 

Warum es keinen Widerspruch zwischen dem Streik und den Interessen der Eltern gibt und warum auch Eltern den Streik unterstützen, könnt ihr im Statement Es geht um unsere Kinder! Warum wir die Streiks der pädagogischen Fachkräfte unterstützen oder im tollen Comic Das Einhorn erklärt: Streiken der Initiative Einhorn Sucht Bildung nachlesen. Zu diesem Thema ist außerdem die Unterstützungserklärung des Netzwerks Care Revolution empfehlenswert.


Hintergrund I: Die Schwarze Null und der Kampf gegen die Sparpolitik

Auf der Ebene der Betriebe kann vieles verbessert werden - dafür braucht es jedoch Geld. Der eklatante Mangel im Bereich der Kinderbetreuung spiegelt nicht zuletzt die Sparpolitik der letzten Jahrzehnte wider. Wie in vielen anderen Bereichen wird nicht in die Zukunft investiert - obwohl der gesellschaftliche Mehrwert auf der Hand liegt. Bessere Bedingungen in den Kitas haben nicht nur positive Effekte auf die Entwicklung der Kinder, sondern auch auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und das langfristige Wachstumspotenzial. Wie eingangs gezeigt wurde, sind Investitionen in die Kinderbetreuung zudem ein wesentlicher Hebel, um dem gesamtgesellschaftlichen Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Dass trotzdem eisern am Dogma der Schwarzen Null festgehalten wird, hat zum Teil ideologische Gründe. Es hat aber auch damit zu tun, dass Sparpolitik, auch Austerität genannt, im Interesse der Reichen ist, weil Umverteilung vermieden und gesellschaftliche Hierarchien stabilisiert werden. Auch im Kontext der Kinderbetreuung gibt es echte Verbesserungen, also nur, wenn wir den Ausstieg aus der Sparpolitik schaffen und uns auf gesellschaftlicher Ebene Investitionen in Daseinsvorsorge erkämpfen.

Zum Thema Unterfinanzierung von Bildung empfehlen wir die September-Ausgabe der Zeitschrift Erziehung und Wissenschaft mit dem Titelthema Bilduns(unter)finanzierung und darin besonders den Beitrag Wir brauchen mehr Schulden von Maurice Höfgen.

Eine Diskussion über die allgemeine Investitionslücke in Deutschland und den Zusammenhang mit der Schuldenbremse findet ihr in der Folge Deutschlands drängende Investitionsbedarfe des Systemrelevant Podcast, die auf der Studie Herausforderungen für die Schuldenbremse - Investitionsbedarfe in der Infrastruktur und für die Transformation basiert.


Eine Einführung in die Themen Sparpolitik und Schuldenbremse findet ihr im Sparpolitik FAQ von Fiscal Future, auf der Website schuldenbremse.info vom Dezernat Zukunft oder dem Video Die Wahrheit hinter der Schuldenbremse! Interview mit Philippa Sigl-Glöckner bei Geld für die Welt.


Zum Zusammenhang von Sparpolitik und den Interessen der herrschenden Klasse empfehlen wir den Text Austerität ist Klassenkampf von oben von Max Hauser.

Natürlich lassen sich Investitionen auch über Steuern finanzieren, zum Beispiel mit einer Vermögenssteuer, wie Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit im Interview mit Erziehung und Wissenschaft darlegt. Auch die von Anna Saave im Text Die Care-Abgabe: Ein Instrument Vorsorgenden Wirtschaftens? diskutierte Care Abgabe ist eine vielversprechende Möglichkeit.


Hintergrund II: Die Abwertung von Care-Arbeit im Kapitalismus und die Care Revolution

Sparpolitik und fehlende Investitionen sind zwar eine zentrale Bedingung der Kita-Krise. Es ist jedoch kein Zufall, dass gerade im sozialen Bereich gespart wird. Das ist auch Ausdruck der systematischen Abwertung der Care-Arbeit in unserer von Kapitalismus und Patriarchat strukturierten Gesellschaft. Tatsächlich ist im Kapitalismus angelegt, dass reproduktive Tätigkeiten, wie Betreuung, Begleitung und Versorgung von Jungen, Alten und Kranken, abgespalten, unsichtbar gemacht und abgewertet werden, obwohl sie eine notwendige Grundlage von Gesellschaft sind. Das liegt darin begründet, dass diese unproduktiven Tätigkeiten aus Sicht des Kapitals Kostenfaktoren darstellen, die es zu vermeiden gilt. Das Care-Arbeit vornehmlich von Frauen* geleistet wird - ein Zustand der im Bereich der frühkindlichen Bildung besonders eklatant ist - trägt im Patriarchat ebenfalls zur gesellschaftlichen Abwertung bei. Die Kämpfe für bessere Kitas sind also nicht nur Bestandteile des Kampfes gegen die Sparpolitik, sie verweisen auch auf die Notwendigkeit einer strukturellen Aufwertung und Re-Organisation von Care-Arbeit in unserer Gesellschaft. Für diesen Kampf hat sich der Begriff Care Revolution eingeprägt, welcher den Widerstand gegen die Abwertung von Care-Arbeit und die Krise der sozialen Reproduktion benennt und unterschiedliche Kämpfe in einen gemeinsamen Zusammenhang setzt. Die Kita-Streiks in Berlin sind ein Teil der Care-Revolution.

Der Kurzfilm Wirtschaft ist Care bietet eine Einführung ins Thema Care-Arbeit.


Was die Care Revolution ist und warum es sie braucht erfahrt ihr im herausragenden Buch Care Revolution - Schritte in eine solidarische Gesellschaft von Gabriele Winker oder in diesem kurzen Video. Eine Übersicht über Initiativen und Projekte, die sich bereits heute dem Kampf für eine bessere Care-Arbeit widmen, findet ihr auf der Homepage des Netzwerks Care Revolution oder der Interaktiven Karte mit Care-Initiativen im deutschsprachigen Raum auf der Website Wirtschaft Neu Ausrichten.

                     

Die Care-Revolution braucht jenseits von konkreten Kämpfen und Projekten im Hier und Jetzt auch Visionen und Utopien, wie Erziehung in Zukunft in einer ganz anderen Gesellschaft organisiert werden kann. Für solche Visionen und Utopien ist der Future Histories Podcast immer eine gute Adresse, wobei wir besonders die Folgen zu Sorge in der befreiten Gesellschaft mit Heide Lutosch und zu Reproduktivem Realismus in der Planungsdebatte mit Christoph Sorg empfehlen können.


Nicht nur der Blick in die Zukunft lohnt sich. Auch in der Vergangenheit lässt sich Inspiration finden. Zum Beispiel wenn man die Kinderladenbewegung als Beispiel einer politischen Bewegung für eine bessere Kinderversorgung betrachtet. Wer sich damit beschäftigen möchte, findet hier und hier kurze Videos mit Heike Sander, einer der zentralen Protagonist:innen, die auf die Kinderladenbewegung zurückblickt. Wer sich systematischer mit der Kinderladenbewegung auseinandersetzen möchte, kann den Text Die Neue Frauenbewegung und „die Kinderfrage“: Zur Kollektivierung der Kindererziehung als Moment der Emanzipation. von Nina Göddert und Miriam Mauritz im Journal Netzwerk Frauen-und Geschlechterforschung zurate ziehen.

Wer noch besser verstehen möchte, warum Care-Arbeit (und andere Formen der sozialen Reproduktion) im Kapitalismus systematisch abgewertet wird, kann sich im Beitrag Zum Widerspruch zwischen Akkumulation und der Reproduktion von Leben von Sarah Uhlmann und Irina Herb intensiver damit befassen. Für eine Einordnung der Debatte um die Care-Arbeit in die Feministische Ökonomik empfehlen wir den Einführungstext Feministische Ökonomik auf Exploring Economics.

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