Economics need to change - now more than ever! With Exploring Economics, we strengthen alternative economic approaches and counter mainstream economics with a critical and pluralistic vision of economic education. We also provide background analyses on current economic debates to strengthen a critical economic discourse.
Unfortunately, we are running out of money to continue our work.
With a small contribution you can help Exploring Economics to stay online. Thank you!
We are a registered non-profit organization | Bank account: Netzwerk Plurale Ökonomik e.V., IBAN: DE91 4306 0967 6037 9737 00, SWIFT-BIC: GENODEM1GLS | Imprint
Carolina Ortega Guttack, Carl Mühlbach und Tung Doan
Erstveröffentlichung im Makronom
Die derzeit geltenden rechtlichen Begrenzungen von Staatsverschuldung basieren auf Mythen, die nicht ökonomisch fundiert sind. Sinnvoller wäre es, die Schuldenaufnahme so zu gestalten, dass sie die ökonomischen, sozialen und ökologischen Grenzen respektiert.
Unsere Gesellschaft befindet sich inmitten eines tiefgreifenden Transformationsprozesses. Im Zentrum: die Wirtschaft. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob uns der Wandel by disaster passiert oder uns by design gelingt. Die Debattenreihe Economists for Future widmet sich den damit verbundenen ökonomischen Herausforderungen. Sie beleuchten einerseits kritisch-konstruktiv Engführungen in den Wirtschaftswissenschaften sowie Leerstellen der aktuellen Wirtschaftspolitik. Andererseits diskutieren wir Orientierungspunkte für eine zukunftsfähige Wirtschaft und setzen Impulse für eine plurale Ökonomik, in der sich angemessen mit sozial-ökologischen Notwendigkeiten auseinandergesetzt wird.
Das Thema Staatsausgaben und Schuldenbremse in Kombination mit den angeblichen Risiken einer zu hohen Staatsverschuldung ist in aller Munde. Die Debatten zum Bundeshaushalt 2024 und nicht zuletzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds haben gezeigt: Der aktuelle fiskalpolitische Rahmen stammt aus einer anderen Zeit und scheint den Herausforderungen von heute und morgen nicht mehr gerecht werden zu können. Das so dringend notwendige Geld scheint an allen Ecken und Enden zu fehlen. Was steckt dahinter?
Die Art und Weise, wie und in welcher Höhe Staatsausgaben bzw. Staatsschulden begrenzt werden, hat starke Auswirkungen sowohl auf unseren Alltag als auch auf unsere Zukunftsaussichten und das Leben junger Generationen. Klar ist: „Eine zukunftsfähige Finanzpolitik lässt sich nicht von der Angst vor Staatsverschuldung leiten, sondern investiert in unsere Zukunft” (Mühlbach, 2022). Dabei ist nicht nur die Angst vor einer zu hohen Staatsverschuldung in Deutschland unverhältnismäßig. Die derzeit geltenden rechtlichen Begrenzungen von Staatsverschuldung, die als Maß herangezogen werden, sind in Wahrheit fiktiv. Sie basieren nicht auf der Realität, sondern auf Mythen, die nicht ökonomisch fundiert sind und im Folgenden entkräftet werden. Gleichzeitig erschweren solche starren Grenzen den Umgang mit den zentralen Herausforderungen und multiplen Krisen unserer Zeit. Die aktuelle Schuldenbremse hat sich als Investitions- und Zukunftsbremse entpuppt.
Deshalb stellt sich die Frage, welche Grenzen von Staatsverschuldung es stattdessen gibt. Was ist knapp, wenn nicht das Geld? Welche realen Bedingungen unserer Wirtschaft, Gesellschaft und unseres Planeten begrenzen Staatsschulden tatsächlich? Dieser Artikel lädt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den aktuell gesetzten Grenzen der Staatsverschuldung ein und leistet einen Beitrag zur Debatte rund um die dringend notwendige Gestaltung einer zukunftsfähigen Finanzpolitik.
Staatsschulden grundsätzlich als absolute Größe zu begrenzen, macht wenig Sinn. Die sogenannte „Schulden-Uhr” vom Bund der Steuerzahler in Berlin gibt die absolute Höhe der Staatsverschuldung in Deutschland an. Wenn man davor steht, kann man beobachten, wie sich die digitale Anzeige stetig verändert. Doch die absolute Höhe der Staatsverschuldung ist wenig aussagekräftig. Die aktuell rechtlich geltenden Grenzen von Staatsschulden, sei es die Schuldenbremse oder sonstige Fiskalregeln, wie der EU-Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung, zielen darauf ab, öffentliche Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu begrenzen. Die sogenannte Staatsschuldenquote (kurz: “Schuldenquote”) gibt demnach das Verhältnis zwischen den Staatsschulden und dem nominalen BIP eines Landes an. Der Stand der öffentlichen Verschuldung wird entsprechend in Prozent angegeben.
Auf europäischer Ebene regelt der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), dass die Mitgliedstaaten ihr jährliches Haushaltsdefizit auf 3% des BIPs und ihre Verschuldung auf 60% des BIPs begrenzen müssen, also auf eine Schuldenquote von maximal 60%. Das sind die sogenannten Maastricht-Kriterien. Darüber hinaus verpflichtet der SWP zur Einhaltung des sogenannten mittelfristigen Haushaltsziels („Medium-Term Objective”, MTO). Bei einer Schuldenquote von über 60% ist demnach ein maximales strukturelles Defizit in Höhe von 0,5% des BIPs vorgesehen. Das strukturelle Defizit soll konjunkturelle Faktoren herausrechnen, die von der jeweiligen Wirtschaftsperiode bzw. Konjunktur eines Landes abhängen, also von Aufschwung oder Rezession. Bei einer Schuldenquote von unter 60% ist ein strukturelles Defizit in Höhe von 1% des BIPs zulässig. Zum Verständnis: Die oben genannten 3% aus den Maastricht-Kriterien beziehen sich auf das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit, also sowohl auf strukturelle als auch auf konjunkturelle Faktoren.
In Deutschland werden die 0,5% auf 0,35% für den Bund (+/- Konjunkturkomponente) und 0,15% für die Bundesländer aufgeteilt, wobei diese auf „ihren Anteil” verzichten. Somit ist die strukturelle Staatsverschuldung bzw. die Nettokreditaufnahme für den Bund auf 0,35% des BIPs begrenzt. Diese „Schuldenbremse” ist in Artikel 109 im Grundgesetz verankert (Bundesministerium der Finanzen, 2022). Im Umkehrschluss müssen die im Bundeshaushalt veranschlagten Ausgaben nahezu vollständig durch zuvor „erwirtschaftete” Einnahmen, insbesondere Steuereinnahmen, gedeckt werden. Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzierungslage erheblich beeinträchtigen, kann vom Bundestag ein Aussetzen der Schuldenbremse beschlossen werden. So wurde die Schuldenbremse im Zuge der Corona-Pandemie ausgesetzt und die Obergrenze für die strukturelle Nettokreditaufnahme überschritten. Seit 2023 ist sie wieder in Kraft und viele notwendige Ausgaben müssen nun aus sogenannten Schattenhaushalten finanziert werden.
Dass diese nationalen und europäischen Schuldenbremsen die Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP betrachten, wird in der Regel ökonomisch begründet, ist allerdings nicht ökonomisch fundiert. Im Folgenden wird erläutert, warum die Notwendigkeit von starren Schuldenquoten-Grenzen, die anhand ökonomischer Zusammenhänge gerechtfertigt werden, nicht mit der Empirie übereinstimmt. Somit stellen sich die oft herangezogenen Begründungen für die geltenden Schuldengrenzen als Mythen heraus. Eine Schuldenquote von maximal 60% als allgemeines Kriterium für die sogenannte Schuldentragfähigkeit eines Landes ist wenig sinnvoll, wenn man berücksichtigt, dass die Höhe der Schuldenquote je nach Volkswirtschaft eine ganz unterschiedliche Bedeutung und Aussagekraft hat. Ein anderes bereits überholtes Argument lautet, dass eine niedrige Schuldenquote die Inflation begrenzt und somit für Preis- und Finanzstabilität sorgt. Das Beispiel von Japan mit einer Schuldenquote von 261% im Jahr 2022 verdeutlicht, dass diese Argumentationslinie in der Realität nicht haltbar ist.
Dass durch eine erhöhte Geldmenge Inflation entsteht, ist ein Mythos, der auf der „Geldmengentheorie” basiert. Nach dieser Theorie führt eine höhere Geldmenge, verteilt auf eine unveränderte Anzahl an Gütern, zu höheren Preisen der einzelnen Güter. Doch spätestens im Zuge der Krisen der letzten Jahre hat sich das Gegenteil gezeigt: Einerseits blieben die Inflationsraten trotz expansiver Geldpolitik im Sinne der „whatever it takes”-Logik niedrig. Andererseits steht die aktuelle Inflation nicht im direkten Zusammenhang mit der Geldmenge, sondern unseren fossilen Abhängigkeiten (cost-push inflation) in Kombination mit dysfunktionalen Märkten (sellers’ inflation, Kraken et al., 2023). Höhere Staatsschulden selbst wirken nur dann inflationär, wenn damit inflationär wirkende Ausgaben finanziert werden, sonst nicht.
Auch als Indikator für die Höhe von Finanzierungskosten hat sich die Schuldenquote nicht bewährt. Inmitten eines Niedrigzinsumfeldes ist die Staatsverschuldung der EU-27 seit 2019 gestiegen (Bundeszentrale für Politische Bildung, 2023). Fernab jeglicher ökonomischer Fundierung war die Schuldenquote von 60% zum Zeitpunkt der Verabschiedung des SWP der damalige Durchschnitt der Schuldenquoten der Mitgliedstaaten.
Die ökonomischen Begründungen für die beschriebenen Einschränkungen von Staatsschulden stoßen an ihre Grenzen. Gleichzeitig haben sie weitreichende Konsequenzen, denn Schulden und Investitionen sind im Grunde zwei Seiten einer Medaille. So verbergen sich hinter niedrigen Schuldenständen aktuell hohe Investitionsstaus, die vor allem drohen, sich als Zukunftshemmnisse herauszustellen.
Klar ist, dass der Umbau einer fossilen Wirtschaft hin zu Klimaneutralität und alle weiteren Herausforderungen im Zusammenhang mit der sozial-ökologischen Transformation mit hohen Finanzierungsbedarfen einhergeht. Diese kommen zu den ohnehin hohen Investitionsbedarfen in Deutschland dazu. Außerdem ist die weitere Verschiebung dieser Investitionen in die Zukunft – zur Einhaltung fiktiver Grenzen – mit noch viel höheren Kosten z.B. Klimafolgekosten verbunden (Flaute et al., 2022). Diese werden insbesondere junge Generationen zu spüren bekommen. Daher gilt es, die aktuell geltenden, fiktiven Grenzen der Staatsverschuldung zu überarbeiten und sich an den realen Gegebenheiten zu orientieren bzw. „den rechtlichen Spielraum der Schuldenaufnahme an den ökonomisch sinnvollen Spielraum anzupassen” (Mühlbach, 2022).
Die bisher geltenden Grenzen von Staatsschulden bilden die realen Bedingungen unserer Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt nicht ab. Deshalb liefern wir im Folgenden Anknüpfungspunkte für eine sinnvollere Begrenzung von Staatsverschuldung. Einer davon ist die Leistungsfähigkeit oder das Wachstumspotenzial der Wirtschaft. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie „Leistung” oder auch „Wachstum” definiert wird. Mathematisch betrachtet kann eine niedrigere Schuldenquote auch erreicht werden, indem man „aus den Schulden herauswächst”: Wenn das BIP steigt, verändert sich automatisch das Verhältnis zwischen Staatsschulden und BIP, und die Schuldenquote sinkt. Doch schon seit der Veröffentlichung der „Grenzen des Wachstums” (Meadows, 1972), und spätestens mit der aktuellen Wirtschaftskrise und Konjunkturflaute sind die Grenzen des BIP-Wachstums offensichtlich. Es wäre ohnehin besser, Staatsschulden in Zukunft nicht im Verhältnis zum BIP zu betrachten, sondern im Verhältnis zu einem alternativen Wachstums- bzw. Wohlstandsverständnis, welches die sozialen und ökologischen Grenzen respektiert.
Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist die Idee der Vollbeschäftigung, was wiederum stark mit unseren gesellschaftlichen Strukturen zusammenhängt. Zum Beispiel arbeiten viele Frauen „nur” in Teilzeit, weil (unbezahlte) Care-Arbeit immer noch stark ungleich verteilt ist. Klassische MMTler:innen (Modern Monetary Theory) plädieren für eine Begrenzung von Staatsschulden anhand der Verfügbarkeit tatsächlicher Ressourcen, in diesem Fall der Verfügbarkeit menschlicher Ressourcen für Arbeit, und nicht anhand der Finanzierbarkeit. Sie argumentieren, dass erst bei einer Vollauslastung der Wirtschaft – also Vollbeschäftigung – neue Staatsausgaben nicht mehr von der Wirtschaft „absorbiert” bzw. konstruktiv genutzt werden können, und erst dann den Inflationsdruck erhöhen.
Die grundlegendsten Grenzen von Staatsverschuldung sind jedoch die sozialen und ökologischen bzw. planetaren Grenzen. Olk, Schneider und Hickel (2023) ergänzen die klassische MMT: “we suggest integrating insights from degrowth scholarship into MMT, where social and ecological limits to economic activity still constitute a blind spot”. Das ist eng damit verbunden, wofür, und nicht nur in welcher Höhe, Staatsschulden aufgenommen und ausgegeben werden – Schulden sind nicht per se „gut” oder „schlecht”.
Entgegen den oben aufgeführten Mythen erklärt eine differenzierte Perspektive, dass der sinnvolle Einsatz von Staatsschulden z.B. in resilientere Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen sogar Inflationsdruck abbmildern kann und v.a. ökonomisch sinnvoller ist. Frühzeitige, ausreichende und gezielte Investitionen in resilientere Strukturen zahlen sich langfristig aus und können uns sogar – jetzt noch – vor vermeidbar hohen Kosten bewahren. „Instead of ‘deficit reduction’ or interest rate hikes, the solution to these inflationary pressures likely involves larger targeted deficit spending alongside improved public-private coordination” (Bernal, 2021, S. 13). Diese Logik rechtfertigt auch die Forderung nach einer entsprechenden Investitionsagenda (z.B. Isabella Weber, 2023).
Übersetzt in eine politische Anwendbarkeit könnte das bedeuten, die Schuldenaufnahme eines Landes so zu gestalten, dass alle notwendigen Investitionen getätigt werden, welche die ökonomischen, sozialen und ökologischen Grenzen nicht überschreiten und gleichzeitig ein menschliches Leben auf der Erde innerhalb planetarer Grenzen gewährleisten. Dabei ist klar, dass die Begrenzung von Staatsschulden allein kein Selbstzweck für eine „gute” Haushaltsführung ist.
Zu den Autor:innen:
Carolina Ortega Guttack hat in Wien Social-Ecological Economics and Policy und zuvor Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft in Lüneburg und Paris studiert. Sie war im Netzwerk Plurale Ökonomik aktiv und arbeitet bei FiscalFuture.
Carl Mühlbach hat Volkswirtschaftslehre in Heidelberg, Cambridge und Berlin studiert. Neben einer Tätigkeit im Bundesministerium der Finanzen hat er FiscalFuture gegründet und leitet die überparteiliche Initiative als Geschäftsführer.
Tung Doan studierte Volkswirtschaftslehre und Public Economics in Mannheim und Berlin. Als Gründungsmitglied baute er FiscalFuture mit auf. Mittlerweile arbeitet er hauptamtlich für die Initiative und ist für die Finanzen zuständig.
Zu FiscalFuture:
FiscalFuture ist eine überparteiliche und gemeinnützige Initiative, die sich für eine zukunftsfähige Finanzpolitik einsetzt. Wir machen Finanzpolitik zugänglich, indem wir finanzpolitisches Wissen vermitteln und junge Menschen dafür begeistern, den finanzpolitischen Diskurs mitzugestalten. Unser deutschlandweites Netzwerk engagiert sich für eine Finanzpolitik, die die Interessen zukünftiger Generationen in den Mittelpunkt stellt.