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Katrin Käufer und Claus Otto Scharmer
Erstveröffentlichung im Makronom
Obwohl viele technische Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen wie den Klimawandel auf der Hand liegen, sind wir als globale Gesellschaft häufig nicht in der Lage, diese umzusetzen. Warum führt die kollektive Erfahrung eines kollabierenden Systems nicht zur kollektiven Handlung? Ein Beitrag von Katrin Käufer und Claus Otto Scharmer.
Was folgt aus der Klimakrise für unsere Wirtschaft(sweisen) und das Denken darüber? Im Angesicht der Fridays-for-Future-Proteste hat sich aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik eine neue Initiative herausgebildet: Economists for Future. Mit der gleichnamigen Debattenreihe werden zentrale Fragen einer zukunftsfähigen Wirtschaft in den Fokus gerückt. Im Zentrum stehen nicht nur kritische Auseinandersetzungen mit dem Status Quo der Wirtschaftswissenschaften, sondern auch mögliche Wege und angemessene Antworten auf die dringlichen Herausforderungen und Notwendigkeiten. Dabei werden verschiedene Orientierungspunkte für einen tiefgreifenden Strukturwandel diskutiert.
Wir leben in einem Zeitalter der Disruptionen. Die Klimakrise generiert und verstärkt Naturkatastrophen und gefährdet unser planetarisches Überleben, eine Epidemie legt die Sollbruchstellen unser sozialen-ökologischen Krisen frei, und verzweifelte Flüchtlinge riskieren ihr Leben, um einen sicheren Lebensraum zu finden.
Als Gesellschaft stehen wir vor existenziellen Herausforderungen, für die wir nicht nur Lösungen brauchen, sondern auch die Fähigkeit, diese umzusetzen und kollektiv handlungsfähig zu werden. Obwohl viele technische Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen wie z.B. den Klimawandel auf der Hand liegen, sind wir als globale Gesellschaft häufig nicht in der Lage, diese umzusetzen.
Aber warum führt die kollektive Erfahrung eines kollabierenden Systems nicht zur kollektiven Handlung? Dies lässt sich mit einem Knowing-Doing-Gap erklären. Damit ist die Differenz zwischen kognitiver Erkenntnis und dem Handeln von Individuen und Systemen gemeint. Es kann als ein wesentliches Problem der Gegenwart verstanden werden und betrifft insbesondere unser ökonomisches System, welches in vieler Hinsicht unser kollektives Handeln bestimmt.
Ökonomische Systeme sind nicht statisch, sondern entwickeln sich im Verlaufe der Geschichte weiter. Die folgende Tabelle lädt dazu ein, einen Schritt zurückzutreten und einen Blick auf diese evolutionäre Entwicklung ökonomischer Systeme zu werfen. Dabei dient der Koordinationsprozess ökonomischen Handelns, der den Kern eines ökonomischen Systems ausmacht, als Fokus.*
Die Entwicklung ökonomischer Systeme ist das Ergebnis eines Prozesses von Herausforderungen und Lösungsfindung. Eine zentrale Herausforderung der prä-industriellen Ökonomie war, Stabilität zu generieren – beispielsweise in Europa am Ende des dreißigjährigen Krieges in 1648 oder in Russland nach der Oktoberrevolution in 1918 oder in China nach dem Bürgerkrieg in 1949.
Stabilität als Grundlage ökonomischen Wachstums wird in der 1.0-Phase durch die Hierarchie einer staatlichen Macht gewährleistet. Aber während damit die Grundlage ökonomischen Handelns entsteht, limitiert zentralisierte Macht (wie z.B. im Feudalismus oder Sozialismus) die Möglichkeiten ökonomischen Handelns und schafft damit eine nächste Herausforderung für das ökonomische System.
Der Schritt der prä-industriellen Ökonomie in Europa zur ersten industriellen Revolution im späten 18. Jahrhundert, in dem die ökonomische Logik einer zentralisierten Koordination zu einer dezentralisierten Logik eines Marktsystem übergeht, überwindet diese Begrenzungen. Das Ergebnis ist eine Explosion ökonomischer Aktivität, basierend auf einer neuen unternehmerischen Handlungsfreiheit für eine breitere Zahl von Akteuren. Das ökonomische System und die unterliegende Koordinationslogik entwickelte sich von einer zentralisierten Koordination zu einer dezentralen Marktökonomie. Das Ergebnis war Wachstum, Innovation und Unternehmertum.
Die Herausforderung dieser Evolutionsstufe sind allerdings negative Externalitäten, die als Ergebnis eines unbeschränkten Unternehmertums in Form von Ausbeutung von Mensch und Natur sichtbar wurden. Diese negativen Externalitäten wurden zur Treibkraft eines nächsten evolutionären Schrittes: Um diese organisierten sich nämlich zunehmend Stakeholder-Gruppen wie Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen. Soziale Bewegungen und Verhandlungsprozesse mit relevanten Stakeholder-Gruppen erwirkten so eine gewisse Regulierung des freien Marktes und wurden Teil jenes Koordinationsprozesses. In Deutschland wird das Ergebnis dieser Evolution als Soziale Marktwirtschaft beschrieben: Eine freie Marktwirtschaft (2.0), mit der Stabilität eines verlässlichen Staates (1.0), ergänzt durch einen regulativen Rahmen (3.), welcher Mensch und Natur schützen soll und letztlich das Ergebnis von Verhandlungsprozessen ist. Somit baut jede Stufe auf der davorliegenden auf.
Global lassen sich unterschiedliche Ausprägungen dieses Koordinationsmechanismus in verschiedenen Regionen finden. Während in vielen Teilen Europas eine regulierte Marktwirtschaft akzeptiert ist, bewegt sich die Diskussion in den USA zwischen den Stufen 2 und 3 hin und her. China dagegen kombiniert die Stufen 1 und 2 mit Elementen der Stufe 3: eine zentralisierte Koordination mit einem Fünfjahresplan, der auf einem komplexen Planungs- und Lernprozess basiert, sowie detaillierte Regulierungen mit einer unternehmerischen Marktwirtschaft kombiniert.
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Während die oben beschriebenen Evolutionsstufen in unterschiedlichen Ausbildungen nebeneinander existieren und teilweise im Wettbewerb zueinanderstehen, bildet sich aktuell eine weitere, vierte Stufe aus. In dieser wird eine neue Koordinationslogik sichtbar: Konsument*innen und Unternehmen reagieren zunehmend mit ihrem ökonomischen Verhalten auf die disruptiven gesellschaftlichen Herausforderungen, wie z.B. die Klimakrise. Dabei fangen Unternehmen und andere ökonomische Akteure an, gesellschaftliche Probleme in ihre Strategien stärker einzubeziehen oder gar zum Ausgangspunkt ihres Handelns und auch von Innovationsprozessen zu setzen.
Beispiele finden sich bei Patagonia, Fairphone, GLS Bank oder Eileen Fisher, aber auch bei größeren Unternehmen. AliPay, das weltweit größte FinTech-Unternehmen, entwickelt beispielsweise Produkte und Partnerschaften im Kampf gegen den Klimawandel. BlackRock deklarierte, dass Klimaziele künftig in Investmententscheidungen integriert werden müssen und der Business Roundtable, eine Assoziation der 100 größten US-amerikanischen Unternehmen bekannte, dass Unternehmen sich nicht nur dem Ziel des Shareholder Value verpflichten sollten, sondern auch gegenüber den Stakeholder verantwortlich sind.
Eco-System-Handeln heißt, das Umfeld des eigenen ökonomischen Wirkens in Entscheidungen miteinzubeziehen
Obwohl solche Deklarationen nur sehr langsam in Handlungen übersetzen werden, deutet sich hier durchaus ein Paradigmenwechsel an, der in der obigen Tabelle als 4.0-Logik beschrieben wird. Die wesentliche Herausforderung besteht dabei darin, dass Regulierungen der 3.0-Logik nur im Nachhinein – also rückblickend – auf gesellschaftliche Probleme reagieren können und damit nicht proaktiv Lösungen schaffen. Die Geschwindigkeit und die Komplexität der aktuellen gesellschaftlichen Krisen lassen sich allerdings nicht länger ausschließlich mit einer 3.0-Logik lösen, da die Gefährdung zu existentiell geworden ist. Dies treibt die Weiterentwicklung der ökonomischen Logik voran.
In der 4.0-Logik wird die Intention, gemeinsam Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu entwickeln und umzusetzen, Teil des ökonomischen Handelns. Die vorausgehende Logik wird damit erweitert. Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu entwickeln, wird zum Bestandteil unternehmerischen Handelns und von Innovationsprozesse. Wir bezeichnen diese intentionale Verschiebung als die Evolution von einer Ego- zu einer Eco-System-Ökonomie.
Während die dritte Logik der Stakeholder-Ökonomie Dialog- und Verhandlungskompetenzen erfordert, benötigt die vierte Logik der Eco-System-Ökonomie neue Fähigkeiten – beispielsweise jene, dass Entscheidungen aus der Perspektive des Gesamtsystems sichtbar und gestaltbar gemacht werden müssen.
In unserer Arbeit mit Unternehmen, die in Richtung einer 4.0-Logik schreiten, wird dabei deutlich: Hierfür sind nicht nur neue Lernräume notwendig, es erhöht sich auch allgemein die Komplexität. Die Triodos Bank, eine sozial-ökologische Bank mit Hauptsitz in den Niederlanden, arbeitet daher mit dem Konzept der Dilemmata. Es soll Mitarbeiter*innen helfen, sich in den neuen Entscheidungsprozessen zu üben. Ein exemplarisches Dilemma wäre hier eine Kreditanfrage, bei der Solartechnologien auf einem industriellen Mastbetrieb finanzieren werden sollen. Die Bank wird dies demnach ablehnen – nicht weil regenerative Technologien installiert würden, sondern weil damit die Effizienz einer Wirtschaftsweise erhöht würde, die letztlich negative Externalitäten produzieren würde und damit aus einer Eco-System-Perspektive nicht sinnvoll sein kann.
Eco-System-Handeln heißt also, das Umfeld seines ökonomischen Wirkens in Entscheidungen miteinzubeziehen – von den Kund*innen, Zulieferern, von Städten bis hin zu der Gesellschaft als Ganzes oder dem natürlichen Ökosystem unseres Planeten, auf dem wir leben. Während in der zweiten Logik das unternehmerische Denken durch die Variable der Profitmaximierung koordiniert wird, nimmt die Komplexität der dritten Logik durch den Dialog mit Stakeholdern bereits zu. Die vierte Logik verlangt von den ökonomischen Akteuren nun die Fähigkeit auszubilden, eine Balance zwischen Profitabilität, Stakeholder und dem Eco-System zu suchen.
Bisher wurde gezeigt, dass gesellschaftliche Evolution durch interne und externe Kräfte vorangetrieben werden. Die folgende Tabelle übersetzt diese Stufen analytisch in die Entwicklung einer Koordinationslogik, die auf die folgenden Kernfunktionen von Ökonomie heruntergebrochen werden können: Natur, Arbeit, Kapital, Technologie, Führung, Konsum, Koordination und Eigentum.
An dieser Stelle können nur zwei Faktoren der Produktionsfunktion beispielhaft herausgegriffen werden: Arbeit und Natur. Während der Faktor Arbeit in einer 1.0-Ökonomie die Form von Leibeigenschaft und Versklavung annimmt, wird diese im Verlaufe der Industrialisierung zum Faktor Ware. Diese Ware Arbeit erhält mit der Sozialen Marktwirtschaft neue Rechte, die ein menschenwürdiges Leben fördern und den arbeitenden Menschen schützen sollen (z.B. durch das Verbot von Kinderarbeit, Arbeitszeitregelungen oder die Einführung von Krankenversicherungen).
In der im Entstehen begriffenen vierten Logik erweitert sich hingegen das Verständnis von Arbeit weiter. So experimentiert beispielsweise SEKEM, ein landwirtschaftliches Unternehmen in Ägypten, mit einem Assessmentsystem für Zulieferer. Hierbei wird evaluiert, inwiefern die dort arbeitenden Menschen auch einen Raum erhalten, sich persönlich weiterzuentwickeln. Ähnliches findet sich auch in der B-Corp-Zertifikation in den USA. Mit über 3.700 zertifizierten Unternehmen wird hier nicht nur die finanzielle Sicherheit für Mitarbeiter*innen und deren Wohlergehen in den Blick genommen, sondern ebenso nach den Entwicklungsmöglichkeiten für die eigenen Angestellten gefragt.
Ein weiterer wichtiger Faktor in der ökonomischen Produktionsfunktion ist die Natur. Während in einer 1.0-Ökonomie die Natur nur eine Ressource darstellt, wird sie mit der industriellen Revolution zur bloßen Ware, die im Schritt hin zu einer 3.0-Logik durch Regulierungen geschützt werden soll.
Die aktuelle Transformation der Ökonomie benötigt Beschleuniger, damit wir als Gesellschaft kollektiv handlungsfähig werden und so den disruptiven Krisen der Gegenwart angemessen begegnen können
In der entstehenden 4.0-Logik entwickelt sich hingegen ein neues Bewusstsein von Natur. Die Einheit von Mensch und Natur und damit die Interdependenz zwischen unserem Überleben als Menschen und dem Überleben von Natur wird sichtbar. Beispiele dafür finden sich in neuen Denkmodellen wie der Circular Economy oder in Bio-mimicry, bei der von der Natur gelernt und zugleich die Abhängigkeit von Mensch und Natur akzeptiert wird. In der vorherigen Tabelle werden die Elemente der Produktionsfunktion entlang der verschiedenen Stufen einer Koordinationslogik durchdacht und ausformuliert. Damit ist ein erster Schritt zu einer groben Beschreibung einer Eco-System-Ökonomie getan. Was notwendige Bedingungen sind, um diese Transformation im Angesicht der Dringlichkeit und existentiellen Gefährdung zu unterstützen und zu beschleunigen, bleibt an dieser Stelle allerdings offen.
Klar ist aber: Jede dieser vier Phasen birgt für die jeweiligen ökonomischen Akteure neue Herausforderungen. Die marktwirtschaftlichen Strukturen einer 2.0-Ökonomie fordern von den Handelnden beispielsweise die Fähigkeit ein, Ideen unternehmerisch umzusetzen und Risiken einzugehen. Diese unternehmerische Tätigkeit beschreiben wir als ein Ego-System-Bewusstsein: eine Fähigkeit, die Möglichkeiten aus der Perspektive eines individuellen Eigeninteresses heraus wahrnimmt und Wirklichkeit werden lässt. Die unterliegende Intention und treibende Kraft ist das Eigeninteresse der Akteure. Eine 3.0-Logik erweitert dieses unternehmerische Handeln dann um die Fähigkeit zum Dialog mit Stakeholdern. Die 4.0-Logik beschreibt hingegen eine intentionale Verschiebung, da Akteure aus einer Wahrnehmung des Ganzen heraus handeln. Wir bezeichnen diese vierte Logik daher als Eco-System-Bewusstsein.
Eco-System-Bewusstsein heißt nicht, die eigene Kreativität und das eigene Interesse aufzugeben, sondern dieses zu erweitern und zu transformieren. Diese Transformation ist genau das, was wir heute in vielen Unternehmen, aber auch auf individueller Ebene beobachten können: Es wird verstärkt nach umfassenderen Lösungen gesucht, die entweder nicht länger negative soziale oder ökologische Externalitäten produzieren oder die Lösungen für dringende gesellschaftliche Herausforderungen generieren.
Während der Schritt von einem Ego- zu einem Eco-System-Bewusstsein durch die existentielle Bedrohung der aktuellen Krisen initiiert ist, benötigt die aktuelle Transformation der Ökonomie entsprechende Beschleuniger, damit wir als Gesellschaft kollektiv handlungsfähig werden und so den disruptiven Krisen der Gegenwart angemessen begegnen können. Dazu bedarf es neuer Begegnungs- und Lernräume, die einen Resonanzraum für das individuelle und kollektive Handeln bieten.
Diese Räume sind nur dann effektiv, wenn es gelingt, die Individuen, Teams, Organisationen und auch die Zivilgesellschaft in dem Prozess von der Wahrnehmung der gegenwärtigen Realität, über die Ausbildung der eigenen Intention bis zur Handlungsfähigkeit zu begleiten – ein Prozess, der nur mit Unterstützung sogenannter sozialer Technologien gelingen kann. Soziale Technologien sind Prozesse und Methoden, die es Individuen, Gruppen, Organisationen, aber auch auf sozialer Ebene die Qualität der sozialen Interaktion verbessern und die Anwesenden handlungsfähig werden lassen. Für eine Handlungsfähigkeit bedarf es dringend dieser sozialen Technologien, damit die im Entstehen begriffenen Eco-System-Ökonomie als ein Hebel für eine Transformation von Gesellschaft und Ökonomie wirksam werden kann.
Zu den AutorInnen:
Katrin Käufer ist Forschungsdirektorin des Presencing Institute in Cambridge und Fellow am Community Innovators Lab (CoLab) des Instituts für Urbane Studien und Planung des Massachusetts Institute of Technology (MIT). Darüber hinaus war sie beratend tätig für mittelständische, globale und Non-Profit-Unternehmen sowie für die Weltbank und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen in New York.
Claus Otto Scharmer ist am MIT als Senior Lecturer tätig und Gründer des Presencing Institute. Er ist außerdem Vorsitzender des IDEAS-Programms des MIT für branchenübergreifende Innovation.