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Im Angesicht der Klimakrise und der Fridays-for-Future-Proteste hat das Netzwerk Plurale Ökonomik unter #Economists4Future dazu aufgerufen, Impulse für neues ökonomisches Denken zu setzen und bislang wenig beachtete Aspekte der Klimaschutzdebatte in den Fokus zu rücken. Dabei geht es beispielsweise um den Umgang mit Unsicherheiten und Komplexität sowie um Existenzgrundlagen und soziale Konflikte. Außerdem werden vielfältige Wege hin zu einer klimafreundlichen Wirtschaftsweise diskutiert – unter anderem Konzepte eines europäischen Green New Deals oder Ansätze einer Postwachstumsökonomie. Hier finden Sie alle Beiträge, die im Rahmen der Serie erschienen sind.
Am 12. März 2019 stellten auf parallelen Pressekonferenzen in Berlin, Wien und Graz renommierte Wissenschaftler*innen die Stellungnahme der „Scientists for Future“ vor. Die Unterstützungsschrift für die seit dem Frühjahr protestierenden Schülerinnen von „Fridays for Future“ warnt vor gefährlichen ökologischen Kipppunkten sowie irreversiblen Schäden für den Planeten und wurde von insgesamt 26 800 Wissenschaftlerinnen unterzeichnet[i].
Sowohl die Politisierung einer jugendlichen Generation als auch die entschlossene Positionierung seitens der Wissenschaft sind Begleiterscheinungen der tiefgreifenden ökologischen Krise, die sich derzeit entfaltet. Ein unkontrollierter, katastrophenartiger Verlauf den Klimawandels in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten ist nicht mehr auszuschließen – vielmehr erscheint er angesichts heute verfügbaren Tatsachen als die „vernünftigste Annahme“, wie der Philosoph Thomas Metzinger es formuliert[ii].
Dass sich Wissenschaftlerinnen politisch positionieren, ist dabei nicht neu. Während der Finanz- und Eurokrise meldeten sich regelmäßig renommierte Ökonom*innen zu Wort, zuletzt etwa im Jahr 2015 in einem Offenen Brief, in dem sich unter anderen der französische Ökonom Thomas Piketty gegen die europäische Sparpolitik wendete[iii]. Beachtung fanden auch die „Academics for Peace“, die sich mit ihrer Stellungnahme im Januar 2016 gegen das militärische Vorgehen der türkischen Regierung im Südosten der Türkei aussprachen[iv].
Die längste Zeit seit ihrer Herausbildung hat sich die moderne Wissenschaft nicht als abgekoppelter, zur Neutralität verpflichteter Universitätsbetrieb definiert, sondern stand im Zentrum gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Die Aufklärung im 17. Und 18. Jahrhundert war im Kern eine wissenschaftliche Bewegung, die sich gegen traditionelle und religiöse Vorgaben richtete und empirisch gemeinte „Wahrheit“ als gesellschaftliches Leitmotiv etablierte[v]. Der historische Materialismus im 19. Jahrhundert verstand sich ebenso als gesellschaftspolitisches Projekt, das wissenschaftliche Argumente zur Unterstützung der Arbeiterinnenbewegung der damaligen Zeit beisteuerte[vi]. Zentrale Elemente der Aufklärung, des Marxismus sowie der Psychoanalyse fanden im 20. Jahrhundert Eingang in die Arbeiten des Instituts für Sozialforschung, das unter der Leitung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno das Paradigma der „Kritischen Theorie“ ausarbeitete – einer kritischen Wissenschaft, die Unterdrückungsmechanismen aufdecken und zur Entwicklung einer vernünftigen Gesellschaft mit mündigen Menschen beitragen sollte.
Die „Scientists for Future” sind daher keine historische Neuheit – vielmehr macht ihr Kontrast zum etablierten Wissenschaftsbetrieb deutlich, welche tiefgreifende Depolitisierung in den vergangenen Jahrzehnten in der Wissenschaft eingesetzt hat. Die auf Exzellenz, Drittmitteleinwerbung und möglichst zügige Ausbildung des akademischen Nachwuchses getrimmten Universitäten haben sich von den politischen Existenz- und Kontextbedingungen der modernen Wissenschaft abgewandt. In der ökologischen und sozialen Krise des globalen Kapitalismus und deren zunehmend autoritären politischen Bearbeitung lässt sich diese apolitische Haltung nicht länger aufrechterhalten und bekommt erste Risse.
Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der „neue Vertrag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“ interpretieren, welchen der Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen (kurz: WGBU) in seinem Hauptgutachten aus dem Jahr 2011 einforderte. Der WBGU fordert darin eine „transformative Forschung“, die „Transformationsprozesse konkret durch die Entwicklung von Lösungen sowie technischen und sozialen Innovationen“ unterstützt[vii]. Aufbauend auf diesem Gutachten wurde am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie unter der Leitung von Uwe Schneidewind in den darauffolgenden Jahren das Konzept der Transformativen Wissenschaft entwickelt. Es „bezeichnet eine Wissenschaft, die gesellschaftliche Transformationsprozesse nicht nur beobachtet und von außen beschreibt, sondern diese Veränderungsprozesse selber mit anstößt und katalysiert“[viii].
Ähnlich wie beim oben genannten Gutachten des WGBU wird hier von einem deskriptiven Transformationsverständnis ausgegangen: Es wird angenommen, dass eine „große“ gesellschaftliche Transformation bereits stattfindet (z.B. durch die Digitalisierung), die mithilfe der Wissenschaft gesteuert werden muss. Denn die Wissenschaft ist, z.B. durch technologische Innovationen, ihrerseits ein Treiber dieser Transformation und bedarf daher der gesellschaftlichen Rückbindung.
An diesem Verständnis von Transformativer Wissenschaft lässt sich Kritik üben. Zum einen ist das deskriptive Transformationsverständnis nicht unumstritten. Ähnlich wie in den letzten Jahrzehnten die „Globalisierung“ bekommen hier gesellschaftliche „Megatrends“ – etwa die Digitalisierung oder die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme (z.B. der Finanzmärkte) – den Charakter quasi naturgegebener Prozesse zugeschrieben. Gegen diese „Sachzwänge“ lässt sich nur noch schwer andiskutieren. Dabei sind diese Prozesse hochgradig politisch und maßgeblich von der Suche von Kapital nach gewinnbringenden Investitionsmöglichkeiten strukturiert.
Zum anderen wird hier „Transformation“ zu einem Catch-All Begriff, der sich letztlich auf alles anwenden lässt. „Transformative Unternehmen“ etwa mobilisieren laut Uwe Schneidewind „Innovations- und Investitionskraft für die Große Transformation“, um „die globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals)“ zu erreichen[ix]. Bei dieser einseitigen Verwendung des Transformationsbegriffs sind Unternehmen oder bestehende politische Institutionen positiv besetzt und gelten als die potenziellen Impulsgeber für eine Transformation. Ein kritisches Transformationsverständnis würde sie dagegen als Teil einer umfassenden Problemstruktur begreifen, die als Ganzes transformiert werden muss. Ein einseitiges Transformationsverständnis, bei dem zwar progressive Politikvorschläge für Regierungen und alternative Investitionsmöglichkeiten für Unternehmen erarbeitet werden, die grundlegende Ebene der Systemkritik jedoch bewusst ausgeblendet wird, wurde von den Sozialwissenschaftlern Markus Wissen und Ulrich Brand auch als „Neue Kritische Orthodoxie“ bezeichnet[x].
Eine kritische Transformative Wissenschaft dagegen müsste eine Vielfalt unterschiedlicher Transformationsverständnisse und -ziele zulassen. Transformative Wissenschaft wäre dann eine Plattform, auf der kritische Stränge der Natur- und Ingenieurs- sowie der Sozial- und Geisteswissenschaften sich begegnen und unterschiedliche Veränderungsvorstellungen diskutieren können.
Dazu zählt auch ein kapitalismus- und herrschaftskritisches Transformationsverständnis, wie es etwa der Sozialwissenschaftler Ulrich Brandt formuliert hat[xi]. Nach seiner Darstellung sind Gesellschaften, in welcher die kapitalistische Wirtschaftsweise dominiert, immer „transformativ“ – jedoch nicht zwangsläufig im positiven Sinne. Die Erfindung neuer Produktionsmethoden, die Entstehung und Vernichtung von Wirtschaftszweigen und regelmäßigen Krisen des Wirtschaftssystems sorgen für einen ständigen Prozess der Umwälzung und Neuordnung.
Von dieser kapital-getriebenen Transformation ist eine „Transformation zweiter Ordnung" zu unterscheiden. Damit ist eine Transformation der derzeit dominierenden Transformationsweisen gemeint, die zu den aktuellen gesellschaftlichen Problemen führen. So geraten Unternehmen, Märkte und politische Institutionen nicht als innovative Problemlöser, sondern als strukturelle Problemursache in den Blick. Anstatt über Emissionshandel oder Elektromobilität ließen sich damit Problemlösungen diskutieren, die jenseits von Marktmechanismen und Investitionsstrategien angesiedelt sind. Ein Green New Deal, wie er derzeit in den USA diskutiert wird, beinhaltet etwa Elemente radikaler sozialer Umverteilung bis hin zur Vergesellschaftung ökonomischer Schlüsselbereiche bei gleichzeitiger, durch die Zentralbank gestützter massiver Investition zum sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft. Eine transformative Wissenschaft, die außer einer innovativen Steuer hier und einem Aufforstungsprogramm dort nichts Neues anzubieten hat, braucht es nicht.
Gebraucht werden Analysen, Konzepte und Forschungsergebnisse über die Praktiken, Institutionen und Systemlogiken einer sozial-ökologischen Wirtschaftsweise. Es würde darum gehen, die Abhängigkeit von Individuen, Wirtschaftsinstitutionen und Staaten von kapitalistischen Märkten abzubauen und dabei einen neuen ökonomischen Gesamtzusammenhang zu etablieren, der nicht primär auf Märkten, sondern auf einer Form der demokratischen und digitalen makroökonomischen Koordination basiert. Eine so verstandene kritische Transformative Wissenschaft würde sich als internationales Projekt verstehen, das Wissen und Strategien zum Aufbau eines postkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems entwickelt.
Die konzeptionelle Lücke, die eine kritische Transformativen Wissenschaft damit zu Füllen hat, ist gewaltig. Dieses Fehlen einer echten Systemalternative ist der tieferliegende Grund, weshalb sich trotz zunehmender Krisensymptome keine alternative Wirtschaftspolitik durchsetzt. Auch wenn alternative Politikvorschläge existieren, fehlt eine Verknüpfung der individuellen Vorschläge zu einem neuen Wirtschaftssystem, das gangbar und umsetzbar erscheint. Diese Verknüpfung lässt sich nicht ohne weiteres leisten – ihr Fehlen ist ein Resultat linker Niederlagen, die sich unter anderem auch in die heutige Wirtschaftswissenschaft tief eingegraben haben.
Daher braucht es, ähnlich wie etwa beim Human Genome Project zur Entschlüsselung der menschlichen DNA, ein über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte angelegtes interdisziplinäres Forschungsnetzwerk, das einem übergeordneten Ziel zuarbeitet. Statt dem menschlichen Erbgut werden bei einer Transformativen Wissenschaft jedoch alternative ökonomische Praktiken, Institutionen und Systeme erforscht und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie müsste den Raum des politisch Sag- und Machbaren verschieben, indem neue Formen der ökonomischen Regulation – etwa der digitalen makroökonomischen Koordination – entwickelt werden.
Der kritischen Wissenschaft kommt in der gegenwärtigen Krisensituation eine besondere Rolle zu. Parteien, NGOs und Gewerkschaften sind in ihrer institutionellen Eigenlogik nicht in der Lage, langfristig gedachte Alternativen in der notwendigen Komplexität und Radikalität auszuarbeiten und zu erforschen. Parteien sind ebenso wie Gewerkschaften vom Status Quo, insbesondere vom Wirtschaftswachstum und fließenden Steuereinnahmen abhängig. Daher sind diese Institutionen derzeit nicht in der Lage, als „Transmissionsriemen“ die gesellschaftliche Dynamik aufzunehmen und zu kanalisieren. Obwohl am 20. September 2019 allein in Deutschland 1,4 Millionen Menschen auf die Straße gingen, wurde am selben Tag ein durchweg enttäuschendes Klimapaket auf den Weg gebracht. Eine radikale Klimapolitik in Form einer sozial-ökologischen Transformation muss außerhalb des etablierten Politikbetriebs entwickelt und eingefordert werden.
Auf die Geltung naturwissenschaftlicher Fakten zu pochen und die Folgen des Klimawandels hinzuweisen, kann nur der erste Schritt hin zu einer zukunftsorientierten Wissenschaft sein – sie muss die Pfade zu einer solidarischen Zukunft selber entwickeln und popularisieren. Dazu müsste ein Brückenschlag zwischen den „Scientists for Future“ und den kritischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften hergestellt werden. Diese Allianz ist schon allein deswegen nötig, falls in den nächsten Jahren neben der ökologischen eine erneute ökonomische Krise wieder stärker die politische Agenda bestimmen sollte. Es braucht eine Transformative Wissenschaft, die auf die ökologische und ökonomische Strukturkrise der Globalisierung eine Antwort formuliert.
Eine interne Strategiekonferenz für Transformative Wissenschaft im Jahr 2020, bei der unter anderem Vertreter*innen der „Pluralen Ökonomik“, der soziologischen Postwachstums- und Transformationsforschung, der Umwelt-NGOs und der „Scientists for Future“ zusammenkommen und anstatt trockener Paper eine gemeinsame wissenschaftspolitische Strategie diskutieren, wäre ein erster Schritt in diese Richtung.
[i] https://www.scientists4future.org/stellungnahme/fakten/
[ii] https://www.philosophie.fb05.uni-mainz.de/files/2013/04/Metzinger_Leiden_und_Würde_Sendemanuskript.pdf
[iii] https://www.sueddeutsche.de/medien/offener-brief-von-kapitalismuskritiker-piketty-wenn-wissenschaftler-kampagne-machen-1.2556450
[iv] https://barisicinakademisyenler.net/node/63
[v] Jones, M. (2012). Enlightenment Liberalism and the Challenge of Pluralism. Canterbury Christ Church University, PhD Thesis, S. 76ff.
[vi] Ebd., S. 94ff.
[vii] http://nachhaltigewissenschaft.de/2013/04/08/transformative-wissenschaft-15731128/
[viii] ezeichnet eine Wissenschaft, die gesellschaftliche Transformationsprozesse nicht nur beobachtet und von außen beschreibt, sondern diese Veränderungsprozesse selber mit anstößt und katalysiert, S. 88.
[ix] Schneidewind, Uwe (2018): Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Unter Mitarbeit von Manfred Fischedick, Stefan Lechtenböhmer und Stefan Thomas. Originalausgabe. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch (Forum für Verantwortung, 70259), S. 361.
[x] Brand, Ulrich; Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus. München: oekom verlag.
[xi] Brand, Ulrich (2016): How to Get Out of the Multiple Crisis? Contours of a Critical Theory of Social-Ecological Transformation. In: environ values 25 (5), S. 503–525. DOI: 10.3197/096327116X14703858759017.