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Reinhold Hedtke
Sozioökonomische Bildung erschließt den Bereich Wirtschaft für die lernenden Personen vor allem indem sie sozialwissenschaftliches Wissen vermittelt.[1] Sie bezieht sich dabei auch auf die Lebenswelten der Lernenden, die sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützen will. Dazu setzen sich die Lernenden mit wirtschaftlichen Konzepten, Problemen, Konflikten und alternativen Lösungen kritisch auseinander. Die sozioökonomische Bildung folgt den Prinzipien Problemorientierung, gesellschaftliche Einbettung der Wirtschaft, Diversität der wirtschaftlichen Wirklichkeit sowie Pluralität und Kontroversität in Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Eine zentrale sozioökonomische Kompetenz ist die Fähigkeit zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen und politischen Sichtweisen auf die Wirtschaft unterscheiden zu können.
Im Feld der ökonomischen Bildung dominiert die Einflussnahme von Unternehmen, Wirtschaftsverbänden und Wirtschaftskammern sowie von unternehmensnahen Forschungsinstituten und Stiftungen. Diese Akteur_innen kooperieren mit Wirtschaftsmedien und Wirtschaftsredaktionen und knüpfen damit enge Netzwerke. Deshalb beschäftigen sich Medien vergleichsweise häufig und ausdauernd mit dem Schulfach Wirtschaft. Der Einfluss der unternehmerischen und unternehmensnahen Interessengruppen erstreckt sich auch auf das Wissenschaftssystem und die dortige Lehrerausbildung. Dies geschieht hauptsächlich, indem sie Forschung, Publikationen, Veranstaltungen, Lehrveranstaltungen, Lehrmaterial und Curricula (Lehrpläne) finanzieren. Die Leitgedanken der ökonomischen Bildung stammen meist aus diesem Interessenzusammenhang.
In der ökonomischen Bildung herrscht demnach eine allgemeine Unausgewogenheit zugunsten der Kapitalseite vor. Dies hat sich geradezu beispielhaft in der Einführung eines neuen Schulfachs Wirtschaft in Baden-Württemberg gezeigt. Die strukturelle Asymmetrie und ihre Auswirkungen auf Bildungspolitik und ökonomische Bildung verlangen nach empirischer Forschung. Auch die Öffentlichkeit hat ein Recht zu erfahren, welche Akteursgruppen in welcher Interessenkonstellation die bildungspolitische Agenda bestimmen.
Die zurzeit öffentlich noch dominierenden Konzepte von ökonomischer Bildung weisen in mehrfacher Hinsicht Mängel auf. Sie berücksichtigen nur einseitiges volkswirtschaftliches und betriebswirtschaftliches Wissen über Wirtschaft. Für die Festlegung, welches Wissen und Können vermittelt werden soll, liefern sie keine nachvollziehbare fachwissenschaftliche Begründung. Stattdessen grenzen sie andere Sozialwissenschaften willkürlich aus dem Lehrplan aus, etwa Politische Ökonomie, Politikwissenschaft und Wirtschaftssoziologie. Auch lassen sie die unterschiedlichen Sichtweisen in den Wirtschaftswissenschaften selbst unberücksichtigt. Insgesamt bleiben diese Bildungskonzepte hinter dem Stand ihrer Bezugswissenschaften weit zurück.
Nicht nur unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen, sondern auch unterschiedliche Schulfächer tragen wesentlich zur sozio/ökonomischen Bildung bei. Das betrifft vor allem Erdkunde beziehungsweise Geografie, die zum Beispiel das Thema der ökonomischen Globalisierung aus wirtschaftlicher Perspektive aufgreift. Die Wirtschafts- und Sozialordnung dagegen findet sich oft in Politiklehrplänen. Auch Geschichte befasst sich mit wirtschaftlichen Fragen. Man braucht deshalb ein fächerübergreifendes Konzept für sozio/ökonomische Bildung. Ein isolierter Ansatz für ein Fach Wirtschaft fördert hingegen Chaos in der Lehrplangestaltung.
Alle Jugendlichen durchlaufen die Sekundarstufe I. Deshalb müssen sie dort eine politisch-ökonomische Bildung erwerben, die ihnen als junge Bürger_innen eine angemessene Orientierung im Feld Wirtschaft und Politik ermöglicht. Dazu findet man in den Lehrplänen der nordrhein-westfälischen Sekundarstufe I einen gemeinsamen Themenkern: Wirtschaftskreislauf, Wirtschaftsordnung und Wachstum sowie Nachhaltigkeit und Globalisierung. Damit wird aber nur ein enger Ausschnitt der gesamtwirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Themen abgedeckt. Gemessen an den politischen Problemlagen und der nötigen Kompetenz der Bürger_innen ist dieser Zustand sehr problematisch. Es ist empirisch zu prüfen, ob diese Themen im täglichen Unterricht nicht noch weiter in den Hintergrund rücken, als es in den Lehrplänen bereits der Fall ist.
Bemerkenswert ist der Befund, dass Schüler_innen der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen (NRW) über Gesamtwirtschaftliches laut Lehrplan mindestens so viel in Erdkunde lernen wie in den Fächern der Subdomäne Politik–Politik/Wirtschaft. Wieder erweist sich ein isoliertes Konzept für ein Schulfach Wirtschaft als unzureichend. Der angesprochene Themenkern in den Lehrplänen hat tendenziöse Züge. Mit der Beschränkung auf die deutsche soziale Marktwirtschaft vermitteln sie vor allem Denkweisen des Ordoliberalismus. Indem das politische Konzept des „Wirtschaftsstandorts“ betont wird, verbreiten sie neoliberale Betrachtungsweisen.
Politisch-ökonomische und wirtschaftspolitische Lerninhalte werden in den Plänen für berufliche Schulen zunehmend entpolitisiert und einseitig auf Beruf und Betriebswirtschaft ausgerichtet. Dies legt eine erste Analyse einzelner Lehrplanbeispiele nahe. Man findet in den Lehrplänen für das Berufskolleg eine doppelte Verkürzung: Zum einen werden die Lerngegenstände auf mikroökonomische Phänomene, Probleme und Erklärungen reduziert. Zum anderen werden politisch-ökonomische, makroökonomische und wirtschaftspolitische Vorgänge auf die Betrachtung und Bewältigung ihrer individuellen oder unternehmens- beziehungsweise branchenbezogenen Folgen beschränkt. So werden grundsätzliche makroökonomische Fragen der Kritik und dem politischen Handeln entzogen. Wenn sich diese ersten Befunde durch weitere Forschung bekräftigen lassen, bedeutet dies eine deutliche Nähe der Lehr- und Bildungsplaninhalte zu neoliberalen Denkmustern.
Wirtschaft und Politik werden am Berufskolleg überwiegend aus der Berufsrolle der Lernenden heraus behandelt, weniger aus Sicht ihrer allgemeinen Rolle als Bürger. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zum Unterricht, den Jugendliche in der Sekundarstufe II der Gesamtschulen und Gymnasien genießen. So entsteht der Eindruck, dass die jungen Erwachsenen am Berufskolleg nicht als Bürger_innen angesprochen, sondern auf zwei ökonomische Rollen reduziert werden: Erwerbstätige (Arbeitnehmer_in oder Unternehmer_in) und Konsument_innen. Lehrpläne dieser Art und ein Unterricht, der ihnen folgt, entpolitisieren den Blick auf die Wirtschaft. Faktisch entziehen sie damit den Politikbereich Wirtschaft der Demokratie.
Politische Ökonomie, Wirtschaftspolitik und Makroökonomik genießen an Gymnasien und Gesamtschulen in der Sekundarstufe II wesentlich größere und differenziertere Aufmerksamkeit. Die einschlägigen Inhaltsfelder werden dort mit betont politischen Sichtweisen – und damit fachlich angemessen – thematisiert. Hervorzuheben ist auch hier der relevante Beitrag des Faches Geografie. Es behandelt regionale, nationale, supranationale und globale Aspekte und Zusammenhänge von Wirtschaft und Wirtschaftsstruktur relativ umfassend; die Lehrplaninhalte überschneiden sich teilweise mit dem Fach Sozialwissenschaften. Während das Fach Geografie von der Grundidee her stark auf die Wirtschaft zielt, ist im Fach Geschichte das Gegenteil der Fall. Hier dominieren Kultur-, Politik- und Rechtsgeschichte. Wirtschafts- und Sozialgeschichte haben nur eine geringe Bedeutung. Erneut muss man festhalten, dass ein isolierter Lehrplan für ein Fach Wirtschaft angesichts dieser fächerübergreifenden Verflechtungen wenig sinnvoll ist. Man braucht eine übergreifende Lehrplanstruktur, die diese Fächer aufeinander abstimmt.
Auch bei den Sek-II-Lehrplänen der Fächer Sozialwissenschaften und Sozialwissenschaften/Wirtschaft in NRW ergeben sich erste problematische Befunde im Bereich Politische Ökonomie, Wirtschaftspolitik und Makroökonomik. Beide Fachlehrpläne verbreiten theoretisch und modellhaft vorrangig ordoliberale Denkmuster und Politikverständnisse. Damit bevorzugen sie eine Minderheitenposition in der Wirtschaftswissenschaft. Diese Schieflage zugunsten des Ordoliberalismus bestätigt sich im Vergleich zu den Lehrplänen von 1999 und 1981. Insbesondere im Plan von 1981 war Makroökonomik deutlich besser vertreten als heute. Die aktuellen Lehrpläne lassen zudem die wissenschaftliche Vielfalt zu Themen wie Ordnung und Marktsystem völlig unbeachtet.
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Besonders groß ist der Abstand zwischen den Lehrplänen in NRW – wie in anderen Bundesländern – und den einschlägigen fachwissenschaftlichen und politischen Debatten, wenn es um den Themenkomplex Kapitalismus oder Finanzkapitalismus geht. Kapitalismus kommt in den Lehrplänen überhaupt nicht vor. Stattdessen stehen dort Konzepte wie marktwirtschaftliche Ordnung, Marktwirtschaft oder soziale Marktwirtschaft. Diese Konzepte erscheinen nur im Singular. Das stärkt die verbreitete Vorstellung in Deutschlands Öffentlichkeit und Politik, die deutsche Variante der sozialen Marktwirtschaft sei einzigartig, überlegen und alternativlos. Dies steht im Gegensatz zur realen Vielfalt der Marktwirtschaften weltweit. Diese Vielfalt muss man beispielhaft aufgreifen, damit wirtschafts- und sozialpolitische Gestaltungsspielräume und Alternativen deutlich werden.
Insgesamt klafft eine große Lücke zwischen Lehrplan und wissenschaftlichem Diskussionsstand. Es ist notwendig, die wissenschaftlichen Positionen in den Lehrplänen systematisch mit aktuellen Stand der Wissenschaft abzugleichen. Die Bildungspolitik muss dafür sorgen, dass der Unterricht Kompetenzen für die Partizipation an politisch-ökonomischen Debatten vermittelt. Mit einer Tabuisierung von Kapitalismus als Unterrichtsthema erreicht sie das Gegenteil.
Lehrkräfte für Fächer des sozialwissenschaftlichen Bereichs sind im Vergleich zu anderen Fächerbereichen dem Internet besonders zugeneigt. Sie nutzen häufiger die dort frei verfügbaren Materialien. Dabei wird übersehen, dass externe Materialien nicht nur ein direktes Gewinninteresse in Form von Produktwerbung oder Public Relations verfolgen, sondern auch indirekt auf wirtschaftliche Interessen abzielen, vor allem auf die Schaffung entsprechender politischer Voraussetzungen und Rahmenbedingungen. Ein wichtiges strategisches Ziel besteht darin, durch Unterrichtsmaterialien frühzeitig Einfluss auf grundlegende politisch-ökonomische Einstellungen, Emotionen, Werte, Haltungen, Denkweisen und Urteile der Lernenden zu gewinnen (deep lobbying). Dazu dient beispielsweise die im Material verkörperte politische und weltanschauliche Werbung, etwa für (soziale) Marktwirtschaft, Staatsskepsis, Steuersenkung, Deregulierung, Privatisierung, Unternehmertum, Individualisierung, Eigenverantwortung, Arbeitskraftunternehmertum, Flexibilität, Mobilität.
Ein weiteres wichtiges Merkmal der Materialien, die von der Unternehmensseite verbreitet werden, ist die einseitige Zuschreibung von Verursachung und Verantwortung wirtschaftlicher Entwicklungen. Dies zeigt sich etwa am Beispiel der Nachhaltigkeit: Man macht nur die Konsument_innen verantwortlich und blendet die Unternehmen aus. Empirisch betrachtet sind die Materialangebote aus Unternehmen und ihrem politischen Umfeld in der Überzahl. Das schlägt sich nicht nur in den Ergebnislisten von gängigen Suchmaschinen zu den entsprechenden Stichwörtern nieder. Es spiegelt sich auch auf öffentlichen Bildungsservern, etwa in NRW.
Die Dominanz von Akteur_innen der Kapitalseite bei den Materialien wirft die Frage auf, ob man derart unausgeglichene Zugänge zu Bildungsprozessen als rechtmäßig anerkennen kann. Diese Frage gewinnt an Gewicht, wenn es um politisch-ökonomische Bildung und damit um zukünftige Politikgestaltung und um die Zukunft von Politik geht. Die Bevorzugung von privaten und unternehmerischen sowie verbandsförmig organisierten Wirtschaftsinteressen bei Lernmaterialien in Schule und Unterricht trägt erheblich zur Post-Demokratisierung des Bildungsbereichs, also zur Aushebelung politischer Teilhabe bei. Hier hat die Bildungspolitik eine große Verantwortung, die sie nicht auf Einzelfallentscheidungen an den Schulen abschieben kann. Denn dort wird ein erheblicher Teil des Unterrichts in den sozialwissenschaftlichen Fächern von dafür nicht ausgebildeten Lehrkräften erteilt. Dies betrifft ganz überwiegend die Sekundarstufe I und das Berufskolleg.
Was kann die Bildungspolitik tun? Sie kann in Kooperation mit Verlagen einen Materialpool anbieten, beispielsweise über Landesinstitute oder ähnliche Einrichtungen. Diese Sammlung muss attraktiv und gegenüber den online verfügbaren externen und kostenlosen Materialien wettbewerbsfähig sein. Aktuelle, ergänzende oder vertiefende Materialien können zusätzlich zu Schulbüchern präsentiert werden und nach den Themen und Inhalten der Kernlehrpläne strukturiert sein. Zudem sollten öffentliche Akteur_innen verstärkt selbst fachlich und praktisch geprüfte Materialien ausarbeiten lassen. Besondere Anstrengung verdient die Entwicklung einer institutionell gestützten Kultur der Weitergabe und Veröffentlichung von Unterrichtsmaterialien, die die Lehrkräfte selbst erstellt haben. Die lokale und regionale Bildungsadministration und viele Schulleitungen müssen ein zeitgemäßes institutionelles Wissensmanagement organisieren. Das fehlt bisher und hat hohe Effizienzverluste bei der Unterrichtsvorbereitung zur Folge.
Schließlich fehlt es an Transparenz. Zunächst muss die Bildungspolitik mehr Transparenz bei Onlinematerialien und anderen externen Unterrichtsmaterialien durchsetzen. Einen Vorschlag für einen Transparenzkodex hat die Deutsche Vereinigung für Politische Bildung vorgelegt. Danach dürfen Materialien, die Geldgeber_innen, Autor_innen und Anbieter_innen nicht offenlegen, in Schulen nicht eingesetzt werden. Außerdem sollte der Gesetzgeber Transparenz in der Lehrerausbildung an den Universitäten garantieren. Dort nehmen ökonomische und politische Interessent_innen und Interessengruppen Einfluss, unter anderem in Form von Zuwendungen an Professor_innen, Professuren, Fachbereiche und Hochschulen. Unternehmen, unternehmernahe Verbände und Stiftungen streben mit einigem Erfolg nach Einfluss auf die Lehrerausbildung, insbesondere in den politisch-ökonomischen Fächern.