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In aufgeheizten Zeiten mit noch aufgeheizteren Debatten lohnt es sich manchmal, einen Schritt zurückzutreten, um die Dinge grundsätzlich zu betrachten und nüchtern zu analysieren. Wenn man das bei dem seit November andauernden Streit über die Haushaltspolitik der Bundesregierung tut, kommt man zu einigen spannenden Erkenntnissen.
Dieser Artikel wurde auf Agora42 erstveröffentlicht.
In der Kolumne Jenseits von Angebot und Nachfrage nehmen Autor*innen aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik die fachlichen Scheuklappen der Lehrbuchökonomie ab und werfen einen pluralökonomischen Blick auf gesellschaftspolitische Fragestellungen.
Worum geht es? Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November des vergangenen Jahres hat sich politisch einiges bewegt. Vom drohenden Koalitionsbruch und vom „klempnernden Kanzler“ war die Rede. Verbraucher*innen und insbesondere die Landwirtschaft haben ein saftiges Kürzungspaket zu Weihnachten bekommen. Und jüngst musste Bundeswirtschaftsminister Habeck im Licht von Traktorenscheinwerfern wieder auf die Nordsee hinausschippern, weil die Steuererhöhung auf Agrardiesel den Zorn der Bauern und Bäuerinnen entzündet hat.
Um das alles ökonomisch sinnvoll einzuordnen, sollten wir zunächst einmal sehr genau darauf achten, was das Verfassungsgericht gesagt und was es nicht gesagt hat (beziehungsweise überhaupt nicht sagen kann).
Ja, die Karlsruher Richter*innen haben geurteilt, dass die nachträgliche Umwidmung von Kreditermächtigungen aus dem Bundeshaushalt 2021 (einem Jahr, in dem die Schuldenbremse ausgesetzt war) in ein Sondervermögen im Jahr 2022 (dem Jahr, ab dem die Schuldenbremse wieder galt) verfassungswidrig ist. So weit, so unspektakulär.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Aufgabe, Rechtsakte und Exekutivhandlungen des Staats auf ihre Vereinbarkeit mit den Artikeln des Grundgesetzes zu prüfen. Es trifft seine Einschätzung auf der Grundlage des Wortlauts und der Systematik der relevanten Verfassungsartikel. Zudem berücksichtigt es, welche Ziele der Parlamentarische Rat, beziehungsweise Bundestag und Bundesrat beim Verfassen oder Ändern des Grundgesetzes verfolgt haben. Letzteres nennt man historische und teleologische Auslegung.
Im November hatte es das Bundesverfassungsgericht mit dem sogenannten zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 zu tun. So heißt der Übeltäter, mit dem sich die Bundesregierung den ganzen Ärger eingehandelt hat. Konkret ging es um die Vereinbarkeit dieses Gesetzes mit drei Artikeln im Grundgesetz, von denen zwei noch recht jung sind: Artikel 109 Abs. 3 und 115 Abs. 2 GG. Sie regeln die Kreditaufnahme von Bund und Ländern.
Um genau zu sein, besagen die Artikel: Der Bund darf unter normalen Umständen jährlich Kredite in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufnehmen, den Ländern ist die Nettokreditaufnahme ganz untersagt. Aufgelockert wird das Ganze durch die sogenannte Konjunkturkomponente, die es Bund und Ländern erlaubt, bei schlechter Wirtschaftslage etwas mehr Kredite aufzunehmen als bei konjunktureller „Normallage“. (Mit „Normallage“ meinen wir hier in Deutschland übrigens dauerhaftes Wirtschaftswachstum – das könnte man auch mal hinterfragen…). Nur in Notsituationen darf die Bundesregierung die Kreditobergrenzen sprengen, vorausgesetzt, eine akute Krise muss bewältigt werden und der Bundestag hat dazu seine Zustimmung gegeben.
Das ist sie also, unsere sogenannte Schuldenbremse. Union und SPD haben sie in den letzten Wochen der zweiten Großen Koalition 2009 ins Grundgesetz geschrieben. Das Ansinnen: tragfähige Staatsfinanzen, ökonomische Prosperität und Generationengerechtigkeit. Nach dem Motto: Auf Schuldenbergen können Kinder nicht spielen.
Wenn die Verfassungsrichter*innen also über die Haushaltsakrobatik von Kanzler Scholz und Finanzminister Lindner urteilen, müssen sie sich an diese Normen halten. Ökonomischer Ermessensspielraum: mäßig. Was das Verfassungsgericht nun gerügt hat ist dreierlei.
Was sagt uns das alles über Karlsruhes Haltung zur Schuldenbremse? Die Kurzfassung: nichts. Die Langfassung: Das Urteil sagt, dass die Herren Scholz und Lindner zusammen mit ihrem altgedienten und inzwischen gefeuerten Staatssekretär Werner Gatzer handwerklich ganz schönen Schrott fabriziert haben. Aber taugt das als Stärkung des politischen Bekenntnisses zur Schuldenbremse?
Wenn man den Austeritätsprediger*innen aus Wissenschaft und Politik Glauben schenken mag, dann ist das offenbar so. Gleichwohl, die Argumentation überzeugt nicht. Das Verfassungsgericht ist an das in Grundgesetzartikel gegossene politische Bekenntnis zur Schuldenbremse gebunden. Was soll es denn anderes tun, als dieses Bekenntnis zu bekräftigen und zu beanstanden, wenn die Regierung die Regeln nicht einhält? Umgekehrt wird ein Schuh draus. Der Gesetzgeber hat mit der Einführung der Schuldenbremse unser Grundgesetz und das Engagement des Bundesverfassungsgerichts für dessen Zwecke geschwächt.
Wenn der Gesetzgeber ökonomischen Unsinn ins Grundgesetz schreibt, kann er sich nicht in einem normativen Sinne auf Urteile aus Karlsruhe berufen, um zu argumentieren, dass der Unsinn doch sinnvoll sei. In der politischen Debatte um den Sinn der Schuldenbremse bringt uns das Karlsruher Urteil also genau so viel weiter wie die Ampelparteien im Moment einer Wiederwahl näherkommen: keinen Schritt! Deswegen noch einen Meter zurück und das Ganze aus ökonomischer Sicht betrachten.
Der deutsche Staat ist über die Bundesbank, die Teil des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) ist, der Schöpfer unseres Geldes. Wenn die Bundesregierung Ausgaben tätigt, schöpft die Bundesbank den entsprechenden Geldbetrag, indem sie der Geschäftsbank, bei der der Zahlungsempfänger sein Konto hat, den Betrag elektronisch, per Mausklick gutschreibt. Bei jeder Staatsausgabe schöpft die Bundesbank also neues Geld. Immer.
Das bedeutet im Umkehrschluss: Es werden keine Steuereinnahmen „wiederverwendet“, die dann als Staatsausgaben an den Privatsektor zurückfließen. Daran wird deutlich: Dem deutschen Staat kann das Geld schlicht und ergreifend nicht ausgehen. Selbst wenn niemand mehr Steuern zahlen würde, hätte der Staat kein Solvenzproblem. Er wäre dann immer noch in der Lage, über die Notenbank neues Geld zu schöpfen.
Das heißt nicht, dass Steuern überflüssig sind. Denn, wenn der Staat dem Privatsektor nur noch Geld schenken, aber ihm durch Steuern keine Kaufkraft mehr entziehen würde, käme es irgendwann unweigerlich zur Hyperinflation. Daneben gibt es noch eine ganze Menge anderer Gründe, warum wir Steuern brauchen. Sie garantieren zum Beispiel die Akzeptanz der staatlichen Währung oder sanktionieren unerwünschten Konsum (Beispiele: Tabak- oder CO2-Steuern).
Der entscheidende Punkt ist, dass die Steuern nichts mit der Finanzierung von Staatsausgaben zu tun haben. Wie gesagt: Steuern dienen (unter anderem) dazu, die Kaufkraft der Haushalte und Unternehmen so im Zaum zu halten, dass deren Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen gering genug ist, damit der Staat seine Nachfrage ebenfalls befriedigen kann, ohne dass beides zusammen das gesamtwirtschaftliche Angebot übersteigt.
Wenn der Staat mehr Geld ausgibt als er dem Privatsektor wieder über Steuern entzieht, schafft er zusätzlichen Wohlstand – Nettogeldvermögen im privaten Sektor. Dass die Regierung dann verzinste Staatsanleihen verkauft, um ihr Konto wieder auszugleichen, ist eine politisch festgelegte, aber ökonomisch keineswegs zwingend notwendige Praxis. Sie ändert auch nichts an der beschriebenen Tatsache: Staatliche Defizite übersetzen sich eins zu eins in private Überschüsse. Wenn wir also die jährlichen Defizite des Bundeshaushalts begrenzen, dann begrenzen wir nichts anderes als die Nettogeldvermögen von Privathaushalten und Unternehmen.
Wir sollten uns die Schuldenbremse vielmehr als Wohlstandsbremse vorstellen. Denn nichts anderes ist sie. Eine Bremse für die staatliche Verschuldung ist mit logischer Notwendigkeit eine Bremse für das Nettogeldvermögen im Privatsektors – jedenfalls wenn das Vermögen einiger Haushalte und Unternehmen nicht durch Schulden anderer Haushalte und Unternehmen erkauft sein soll. Und letzteres ist nicht wünschenswert. Zu viel private Verschuldung macht die Wirtschaft instabil. Denn Haushalte und Unternehmen können sehr wohl pleite gehen. Sie haben ja keine Bundesbank im Keller, die Euros schöpfen kann.
Staatliche Verschuldung hingegen stützt die Wirtschaft, zumindest insoweit, als die dadurch entstandene Kaufkraft des privaten Sektors das gesamtwirtschaftliche Angebot nicht überstrapaziert. Und davon kann keine Rede sein: Die Inflation der vergangenen Jahre ist maßgeblich von Energiepreisen getrieben worden, nicht von einem plötzlichen positiven Kaufkraftschock auf der Nachfrageseite.
Und so manche „Haushaltskonsolidierung“ kann entgegen der gängigen Annahme sogar selbst inflationär sein. Man kann ja mal überlegen, wie sich die Lebensmittelpreise wohl entwickeln würden, wenn ein Durchschnittsbetrieb in der Landwirtschaft mit 100 Hektar Fläche jährliche Mehrkosten von 6.000 bis 8.000 Euro hätte. Diese Wirkung hätten die nun teilweise zurückgenommenen Vorschläge der Bundesregierung nämlich haben können. Gesunken wären die Endverbraucherpreise sicherlich nicht.
Es wird Zeit, dass wir das alles mal begreifen. Das Verfassungsgericht kann uns da allerdings nicht weiterhelfen.
Aber hätten die Karlsruher Richter*innen wirklich keine Möglichkeit gehabt, die Schuldenbremse ökonomisch sinnvoll auszulegen? Eher nicht. Der einzige Versuch hätte vielleicht so aussehen können: Geht es nach dem Zweck der Schuldenbremse, dann dient sie der nachhaltigen Tragfähigkeit der Bundes- und Landeshaushalte sowie der Generationengerechtigkeit, der gesamtwirtschaftlichen Stabilität und einem stabilen Preisniveau. Da, wie oben ausgeführt, die Schuldenbremse all diese Zwecke eher konterkariert als sie zu unterstützen, müsste eine teleologisch plausible Betrachtung strenggenommen zu einer Rechtsprechung führen, die den Wortlaut der genannten Artikel so weit und schwach wie nur irgend möglich auslegt.
Aber, dass das Verfassungsgericht diesen dünnen teleologischen Strohhalm nicht gegen die Kavallerie von Wortlaut und historischem politischem Willen zur Austerität ins Feld geführt hat, darf man wohl kaum beanstanden. Indes, für rechtswissenschaftliche Fachdiskussionen könnte es spannend sein, wie mit Verfassungsrecht umzugehen ist, das im Lichte des verfassungsmäßig gebotenen Schutzes künftiger Generationen (Art. 20a GG) in einem teleologischen Sinne eigentlich selbst verfassungsfeindlich ist.
Bis ausreichend viele Parlamentarier*innen begriffen haben, dass man die Wohlstandsbremse (oder Schuldenbremse) besser wieder aus dem Grundgesetz zu streichen sollte, wird es wohl noch dauern. Zur Überbrückung sind andere – verfassungskonforme – Strategien gefragt, wie trotz Wohlstandsbremse die notwendigen Ausgaben für die sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaft getätigt werden können.
An guten Ideen mangelt es nicht. So könnte etwa die Methodik der Potentialschätzung in der Konjunkturkomponente der Schuldenbremse mit einfacher Mehrheit im Bundestag reformiert werden. Das würde je nach Art der Reform bereits in erheblichem Maße Mehrausgaben ermöglichen. Die unten aufgeführten Texte von Schuster et al. (2021) und Krebs (2024) bieten einen guten Einblick in diese Thematik. Horn und Kollatz (2024) bringen ferner die Idee eines Darlehensfonds zur Klimatransformation ins Gespräch. Vergünstigte staatliche Darlehen für private Investitionen fallen nämlich nicht unter die Schuldenbremse, können aber im Umfeld gestiegener Zinsen ähnliche Effekte entfalten wie reguläre staatliche Förderungen. Ein dritter Vorschlag bezieht sich auf Eigenkapital-Einschüsse in Unternehmen, die die sozial-ökologische Transformation voranbringen. Da solche Eigenkapital-Einschüssen mit einer Steigerung des Vermögenswerts einhergehen, sind auch sie nicht schuldenbremsenrelevant.
Solche Vorschläge gilt es jetzt mit Hochdruck zu verfolgen. Das ist der wahre politische Imperativ des Verfassungsgerichtsurteils. Schließlich stecken wir in einer existenziellen Menschheitskrise und müssen gerade unseren Planeten retten. Schaffen wir das nicht, dann wird dieser Planet uns in absehbarer Zeit jedes Jahr aufs Neue hunderte verfassungskonforme Gründe in die Wohnzimmer spülen und auf die Felder trocknen, um die Notstandsklausel der Schuldenbremse zu aktivieren. Wollen wir wirklich so lange warten?
Jonas Plattner studiert Internationale Beziehungen, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Erfurt. Er ist seit Jahren in der Bewegung für eine plurale Ökonomik aktiv und beschäftigt sich vorrangig mit Fragen der europäischen Geld-, Fiskal- und Klimapolitik. Er ist Mitbegründer der Initiative Mission Just Transition, die sich für die Ausarbeitung eines Green New Deals für die Europäische Union einsetzt.
Chiara Rohlfs studiert Recht, Wirtschaft und soziale Anthropologie an der Universität Cambridge und versucht, die Beziehung zwischen Geld und Klimaschutz zu entwirren. Dazu teilt sie ihre Aha-Erlebnisse mit anderen auf ihrem Blog geldundklima.org.
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Georg Friedrich Knapp: Staatliche Theorie des Geldes (Duncker & Humblot, 1905) David Graeber: Schulden – Die ersten 5000 Jahre (Goldmann, 2014) L. Randall Wray: Modern Money Theory – A Primer on Macroeconomics for Sovereign Monetary Systems (Palgrave Macmillan, 2015) Joshua Wollweber: Zentralbankkapitalismus (Suhrkamp, 2021) Mariana Mazzucato: Mission Economy – A Moonshot Guide to Changing Capitalism (Allen Lane, 2021) Florian Schuster, Max Krahé & Philippa Sigl-Glöckner: Wird die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse in ihrer heutigen Ausgestaltung ihrer Aufgabe noch gerecht? Analyse und ein Reformvorschlag (Dezernat Zukunft, 2021) Gustav Horn und Matthias Kollatz: Was tun nach Karlsruhe? Wie man Investitionen unter dem Regime der Schuldenbremse noch möglich machen kann (SPD Grundwertekommission, 2024) Tom Krebs: Transformative Investitionen als Treiber eines neuen Wirtschaftsbooms? (In: Forum for a New Economy, 2024) |
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