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Erstveröffentlichung im Makronom
Um den sozial-ökologischen Herausforderungen zu begegnen, ist die konsequente Wiedereinbettung ökonomischer Strukturen in soziale Kontexte notwendig. Sogenannte CSX-Unternehmensmodelle bergen das Potenzial, Versorgungssysteme gemeinschaftsgetragen zu inspirieren und zu gestalten.
Was folgt aus der Klimakrise für unsere Wirtschaft(sweisen) und das Denken darüber? Im Angesicht der Fridays-for-Future-Proteste hat sich aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik eine neue Initiative herausgebildet: Economists for Future. Mit der gleichnamigen Debattenreihe werden zentrale Fragen einer zukunftsfähigen Wirtschaft in den Fokus gerückt. Im Zentrum stehen nicht nur kritische Auseinandersetzungen mit dem Status Quo der Wirtschaftswissenschaften, sondern auch mögliche Wege und angemessene Antworten auf die dringlichen Herausforderungen und Notwendigkeiten. Dabei werden verschiedene Orientierungspunkte für einen tiefgreifenden Strukturwandel diskutiert.
Wenn Begriffe wie Zukunftsfähigkeit oder Nachhaltigkeit fallen, dann geht der Fokus zumeist hin zu den großen ökologischen Herausforderungen und wie wir diese meistern können. Dadurch vernachlässigen wir, was uns als Einzelne und als Gesellschaft überhaupt dazu befähigt, zukunftsfähig zu sein: Vertrauen und gelingende Beziehungen. Wie kann es also gelingen, Gesellschaft so zu organisieren, dass sozialer Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit gestärkt werden? Notwendig wäre die grundlegende Transformation unserer heutigen Wirtschaftsweise, durch eine konsequente Wiedereinbettung ökonomischer Strukturen in soziale Kontexte.
In unserer heutigen Wirtschaft besteht der einzige Kontakt zwischen Produzenten und Konsumenten – wenn überhaupt – im Moment des Kaufs. Deren Beziehung bleibt anonym – reale Bedürfnisse, Motive und Wertvorstellungen werden nicht direkt kommuniziert und bleiben uneinsichtig, vor allem in einer arbeitsteilig globalisierten und zunehmend digitalisierten Wirtschaft. Deshalb ist es den Konsumenten in der Regel egal, wie gut oder schlecht die Produzenten über die Runden kommen und umgekehrt genauso. Und selbst denjenigen, denen es „eigentlich“ nicht egal ist, legt der harte Preis- und Konkurrenzdruck oder das Milliarden-Geschäft „Werbung“ eine vorherrschende Orientierung am eigenen Vorteil und an Effizienzparametern nahe. Diese Wirtschaftsweise schürt ein allgegenwärtiges Misstrauen und untergräbt solidarisches Miteinander.
Gleichsam erzeugt die Anonymität des Marktes eine gewisse Entmoralisierung von Kaufakten, durch welche Konsumenten die Folgen ihrer Konsumhandlungen nicht nachvollziehen (können) und insofern ökologische wie soziale Kriterien in geringerem Maße berücksichtigen. Eine physische Distanz ist gleichsam eine psychische, da sie die moralische Tragweite des eigenen Handelns verschleiert. Mit der Entgrenzung der Produktionsprozesse wächst die Vulnerabilität des gesamten Systems. Die Corona-Pandemie hat uns dies ungleich nachdrücklich vor Augen geführt.
Als Antwort auf diese Problemstrukturen praktizieren beispielsweise in der Landwirtschaft immer mehr Betriebe eine andere Art des (Land-)Wirtschaftens: SoLaWi (kurz für Solidarische Landwirtschaft) nennen sie das oder im englischsprachigen Raum CSA (für Community Supported Agriculture). Dabei schließen sich Produzenten und Konsumenten mit dem Ziel zusammen, sich solidarisch und ökologisch nachhaltig mit Lebensmitteln zu versorgen. Während in den vergangenen Jahren immer mehr SoLaWis entstanden sind (inzwischen sind es laut Daten des Netzwerks Solidarische Landwirtschaft deutschlandweit knapp 400 Betriebe), inspiriert dieses innovative Unternehmensmodell weitere Versorgungsfelder. Aus CSA wird CSX, also die Suche nach x-weiteren Versorgungskontexten, in denen gemeinschaftsgetragenes Wirtschaften realisiert werden kann.
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CSX funktioniert nach dem Prinzip Kosten und Erträge teilen: Anbieter von Produkten und/oder Dienstleistungen schließen sich mit einer Gruppe von Verbrauchern zusammen und gehen eine unmittelbare Austauschbeziehung ein – ohne Märkte, Handels- und Lieferketten, Marketing etc.. Statt eines Produktpreises wird die gesamte Produktion bzw. Bereitstellung finanziert. Dabei werden die laufenden Kosten des Betriebs auf alle Mitglieder anteilig umgelegt und die Produktion im Voraus finanziert.
Dies verändert die Beziehung zwischen Anbietern und Verbrauchern bzw. Nutzern, die als Solidargemeinschaft gemeinsam das Risiko und die Verantwortung für die Produktion und die Entwicklung der Organisation teilen. Die Erzeugnisse werden nicht mehr zu einem Marktpreis verkauft, sondern an die Mitglieder verteilt, denn die Kosten sind durch die Beiträge bereits gedeckt. Die Kosten für die Mitglieder sind oftmals höher als die Preise von konventionell produzierten Gütern, da sie ansatzweise versuchen, die wahren sozialen und ökologischen Kosten der Wertschöpfung abzubilden und auf Mengeneffekte weitestgehend verzichten müssen.
Die anonymisierte Massenproduktion weicht in den CSX-Prinzipien einer gemeinschaftsgetragenen Wertschöpfung durch die Massen
Dies können CSX-Unternehmen jedoch dadurch kompensieren, dass einerseits Mitglieder systematisch in die Wertschöpfungsprozesse einbezogen werden und andererseits aufgrund der garantierten Direktabnahme und Vorfinanzierung Marketing, Transport und andere Kosten weitestgehend wegfallen. Beiträge sind damit i.d.R. vergleichbar mit den Preisen der Bio- oder Fair-Trade-Branche – mit dem zentralen Unterschied, dass CSX marktinhärente Wachstumszwänge mildert und damit zusätzlich Spielräume für faire Arbeitsbedingungen, konsequent nachhaltige Produktion oder die Entwicklung einer solidarischen Gemeinschaft ermöglicht. So können beispielsweise durch Biete-Runden die einkommensstarken Mitglieder die Einkommensschwächeren entlasten und diesen damit den Zugang zu hochwertigen Produkten und Dienstleistungen ermöglichen, der ihnen ansonsten auf dem Bio-Markt verschlossen bleibt. In Biete-Runden sagt jedes Mitglied anonym im Rahmen von dessen finanziellen Möglichkeiten den Betrag zu, mit dem es sich am Jahresbudget eines CSX Unternehmens beteiligen möchte. Es werden so lange Biete-Runden durchgeführt, bis das Jahresbudget komplett ausfinanziert wurde (in der Regel braucht es ein bis zwei Runden).
Da diese Finanzierungsform voraussetzungsvoll hinsichtlich des gegenseitigen Vertrauens und einer beständigen Beteiligung ist, werden die Kostenstruktur ebenso wie die Standards der Wertschöpfung jederzeit offengelegt und Partizipationsmöglichkeiten in Prozessen der Wertschöpfung und Organisationsentwicklung geschaffen. Mitglieder erfahren die Wertschöpfung hautnah, womit sich die Trennung zwischen Anbietern und Verbrauchern relativiert, sie entsprechend zu Prosumenten werden. So verwundert es nicht, dass unternehmerische Impulse zur Gründung von CSX-Unternehmen vermehrt auch von Verbrauchern ausgehen, die sich in einer Gruppe organisieren und aktiv auf Partnersuche gehen, um eine wirtschaftlich agierende Solidargemeinschaft aufzubauen.
Die Anwendung der CSA-Prinzipien in anderen Wirtschaftsbereichen bringt diverse Herausforderungen mit sich. So erschwert unter anderem eine kapitalintensive Produktion die Übertragung, da sie zur Wettbewerbsfähigkeit einen hohen Mengenausschuss benötigt, sowie komplexe Wertschöpfungsketten und seltene oder nur einmalige Nachfrage (insbesondere bei Gebrauchsgütern). Um auszuloten, welche Versorgungskontexte gemeinschaftsgetragen organisiert werden können und um bestehende CSX-Betriebsmodelle in ihrer Entwicklung zu unterstützen, gründete sich 2018 das CSX-Netzwerk aus Praktiker*innen, Berater*innen und Wissenschaftler*innen; mit stetig wachsender Vielfalt. Ob Bäckerei, Imkerei, Brau– oder Winzer-Handwerk, Gesundheitszentrum, Kaffee– oder Olivenöl-Handel, Fahrradwerkstatt, pädagogische Angebote, Yoga-Unterricht oder Schneiderei – eine Wirtschaft ohne Marktpreise wird bereits in verschiedenen Versorgungsbereichen entwickelt und erprobt.
Die anonymisierte Massenproduktion weicht in den CSX-Prinzipien einer gemeinschaftsgetragenen Wertschöpfung durch die Massen. Die gemeinsame Verantwortung für eine multifunktionale Wertschöpfung im CSX-Sinne kann Menschen dabei auf vielfältige Weise nähren, mit Lebensmitteln oder anderen Gütern und Dienstleistungen aber insbesondere auch in sozialer, politischer und mentaler Hinsicht. CSX-Unternehmen schaffen einen geschützten Rahmen, innerhalb dessen die Mitglieder neue Regeln, Werte, Überzeugungen, Routinen und Rituale gemeinsam praktisch ausprobieren und erleben können.
Viele CSX-Mitglieder machen die bereichernde politische Erfahrung, sowohl ihre unmittelbare als auch die gesellschaftliche Welt in ihrem Sinne mitgestalten zu können
Viele CSX-Mitglieder machen zudem ganz grundsätzlich die bereichernde politische Erfahrung, sowohl ihre unmittelbare als auch die gesellschaftliche Welt in ihrem Sinne mitgestalten zu können. So unterstützen sie beispielsweise CO2– und Ressourcen-Einsparung u.a. durch kurze Transportwege, saisonale Produktion und niedrige Abfallquoten, beteiligen sich an internen demokratischen Entscheidungsprozessen zur Verteilung des erwirtschafteten Outputs, organisieren sich in politischen Bündnissen (z.B. Ernährungsräte oder „München/Hamburg/etc. muss handeln“) oder fördern durch CSX ganz generell eine strukturelle Wachstumsunabhängigkeit, die in einer Wirtschaftskonfiguration jenseits Bedürfniserzeugungszwängen mündet. Das Erproben und Praktizieren von Zukunftsfähigkeit in einer CSX schützt damit Ökosysteme und die Existenz der wertschöpfenden Menschen, und kann darüber hinaus eine qualitative Bereicherung für das Leben der Mitglieder darstellen. Damit bildet CSX einen Nährboden für vielfältige Potentialentfaltung von Mitgliedern und sozialen Systemen.
Wer den CSX-Gedanken zu Ende denkt, erkennt: Die Einzelbetrachtung reicht nicht aus, um große Herausforderungen zu lösen. Zielführend erscheint vielmehr ein Fokus auf gesamte regionale Versorgungssysteme, in welchen sich unterschiedliche transformative Wirtschaftsformen ergänzen, gegebenenfalls in Lieferbeziehungen zueinander treten und gemeinsame Angebote entwickeln. Wenngleich CSX-Unternehmensmodelle noch rar gesät sind, bergen sie doch das Potenzial, solche Versorgungssysteme gemeinschaftsgetragen zu inspirieren und zu gestalten.
Bestehende SoLaWi-Abholorte bilden einen idealen Ausgangspunkt, umfassendere nachbarschaftliche Verteilstrukturen zu bilden. Die Initiative Stadt, Land, Beides in der Metropolregion Nürnberg etwa bringt bereits SoLaWis für verschiedenste landwirtschaftliche Erzeugnisse (Gemüse, Eier, Milchprodukte usw.) an zentralen Abholorten zusammen. Vertreter*innen der Wohnbaugenossenschaften Wagnis e.G. und Progeno e.G. gehen noch darüber hinaus, indem sie im derzeit neu entstehenden Münchner Stadtviertel Freiham verschiedene Versorgungsbereiche nach dem CSX-Modell organisieren wollen. Neben Lebensmitteln wird beispielsweise darüber nachgedacht, Car- und Bikesharing, Co-Working-Spaces, jährliche Kontingente für Reparaturen im eigenen Haushalt sowie individuell gearbeiteten Kleidungsstücken durch eine Quartiersschneiderin bis hin zu Yoga- und Fitnessangeboten umzusetzen.
Die Gestaltungsmöglichkeiten einer lokalen (Grund-)Versorgung von und für die Menschen im Stadtteil sind kreativ und vielfältig gestaltbar. Die Idee ist, dass die Wohnbaugenossenschaften als Eigentümer*innen Wirtschaftsflächen für unterschiedlichste CSX-Unternehmensbereiche freihalten und gleichzeitig den Aufbau einer zusätzlichen „Quartier-Versorgungsgenossenschaft“ planen. Letztere übernimmt wichtige Aufgaben: von der allgemeinen Bedarfsermittlung, der Erzeugung und Weiterverarbeitung von Lebensmitteln, dem solidarischen Zukauf von Erzeugnissen bei regionalen Kooperationsbetrieben, der Distribution der Waren & Dienstleistungen im Quartier bis hin zur Einbindung der Mitglieder in Entscheidungsprozesse und durch deren freiwillige Eigen- oder Mitarbeit im Rahmen der Genossenschaft.
Die Stärke solcher Wertschöpfungsräume liegt auf der Hand: Unter anderem steigert ein hoher Grad an Versorgungssouveränität die Krisenfestigkeit gegenüber Störungen wie der Covid-19-Pandemie. Gleichzeitig erhöhen Beteiligungsoptionen die Attraktivität und Entfaltung lebenswerter, vitaler Regionen. Nicht zuletzt minimieren intelligente Wertschöpfungsverfahren ökologische Folgekosten, erschließen Reduktionspotenziale und erbringen gezielt Ökosystemleistungen. Um beantworten zu können, ob sich gemeinschaftsgetragene Unternehmen und Systeme wirklich langfristig auf der Ebene der Grundversorgung als Ergänzung zu marktwirtschaftlichen Prozessen durchsetzen können und wo sie zukünftig in Kombination mit anderen transformativen Ansätzen entwickelt werden sollten, braucht es weitere, vernetzte Pionierprojekte, aber auch inter- und transdisziplinärer Forschung.
In jedem Fall bedarf es weiterer Reallabore in Dörfern, Städten und Nachbarschaften, um die Potenziale gemeinschaftsgetragener Versorgungssysteme erproben zu können. Dafür sollte die Kommunalpolitik zum strategischen Unterstützer werden, indem sie sich zunächst einmal für Forderungen von politischen Bündnissen (z.B. Abschaffung von sozial-ökologisch schädlichen Subventionen oder öffentlichen Aufträgen, Öko-Steuer, etc.) auf höheren politischen Ebenen einsetzt und diese bei sich vor Ort im Rahmen ihrer Möglichkeiten umsetzt, um damit zu faireren Preisen beizutragen. Darüber hinaus sollte sie öffentlich regelmäßig auf alternative Wirtschaftsformen wie CSX hinweisen, mit diesen in einen umsetzungsorientierten Austausch gehen und Plattformen zur Verbreitung entwickeln.
Zudem sollte die Kommunalpolitik im Sinne einer Wirtschaftsförderung 4.0 gezielt Gelder für praktische CSX Ansätze unbürokratisch bereitstellen und bspw. gemeinschaftsgetragene Nahversorgungszentren fördern, welche gleichermaßen als multifunktionale Depots für Produkte und Dienstleistungen sowie als kulturelle Begegnungsräume fungieren. Sie sollte gezielte Beratungs- und Vermittlungskonzepte entwickeln und Kontakt zu unterstützenden Partnern herstellen, die bei der Gründung und Entwicklung dienlich sein können.
Mit dieser Unterstützung besitzen CSX-Unternehmen das Potenzial angesichts der großen sozial-ökologischen Herausforderungen einem Gegenentwurf zur Realität der Ohnmacht, Entfremdung und Überforderung in unserer heutigen Gesellschaft zu werden. Sie schaffen Nähe, räumlich wie sozial, in denen Vertrauen und Beziehungen gestärkt werden. Damit gelingt es, transformative Wege einzuschlagen und dabei die sozialen mit den ökologischen Fragen konsequent zusammenzudenken. Darin besteht die große Chance.
Zu den Autoren:
Marius Rommel ist Nachhaltigkeitsforscher an der Forschungsstelle Plurale Ökonomik der Universität Siegen. Im Forschungsprojekt nascent untersucht er die Stabilisierungsbedingungen Solidarischer Landwirtschaftsbetriebe und deren Beiträge zur Entwicklung resilienter Regionalversorgung.
Florian Koch forscht als Doktorand und selbstständiger Organisationsberater zu den kulturellen und mentalen Bedingungen gelingender sozial-ökologischer Transformationsprozesse, u.a. am Beispiel von gemeinschaftsgetragenen Unternehmen.