Erstveröffentlichung im Makronom
Die Sorge- und Versorgungswirtschaft der größte Sektor der Volkswirtschaft – und bleibt in den wirtschaftspolitischen Debatten dennoch meist unsichtbar. Dabei wäre eine stärkere Anerkennung zentral für eine zukunftsgerichtete Wirtschaftspolitik.
Was folgt aus der Klimakrise für unsere Wirtschaft(sweisen) und das Denken darüber? Im Angesicht der Fridays-for-Future-Proteste hat sich aus dem Netzwerk Plurale Ökonomik eine neue Initiative herausgebildet: Economists for Future. Mit der gleichnamigen Debattenreihe werden zentrale Fragen einer zukunftsfähigen Wirtschaft in den Fokus gerückt. Im Zentrum stehen nicht nur kritische Auseinandersetzungen mit dem Status Quo der Wirtschaftswissenschaften, sondern auch mögliche Wege und angemessene Antworten auf die dringlichen Herausforderungen und Notwendigkeiten. Dabei werden verschiedene Orientierungspunkte für einen tiefgreifenden Strukturwandel diskutiert.
Die Arbeit in der unbezahlten und bezahlten Sorge- und Versorgungswirtschaft trägt wesentlich zu unserem Wohlbefinden und unserem Lebensstandard bei. Gemessen am gesamten Arbeitsvolumen ist die Sorge- und Versorgungswirtschaft der größte Sektor der Volkswirtschaft und zu einem wesentlichen Teil Arbeit von Frauen. Doch trotz seines Umfangs und seiner Bedeutung bleibt er in wirtschaftspolitischen Debatten in der Regel unsichtbar.
In diesem Beitrag stellen wir grundsätzliche Überlegungen zu seiner Bedeutung, seinem Umfang, seinem Wert sowie zu seiner makroökonomischen Einordnung an – und werfen nicht zuletzt Fragen einer (geschlechter-)gerechten Organisation und Finanzierung dieses Wirtschaftssektors auf.
Rund 825 Milliarden Euro pro Jahr ist die unbezahlte Arbeit der Frauen in Deutschland laut der letzten Erhebung aus dem Jahr 2012 wert. Diese Zahl verdeutlicht: Der Beitrag von Frauen zu unserem Lebensstandard in Form von unbezahlt geleisteter Arbeit ist ökonomisch von enormer Bedeutung. Er ist fast so groß wie alle Ausgaben, die Bund, Länder und Gemeinden im selben Zeitraum tätigten.
In einer geldgesteuerten Wirtschaft ist es wichtig, unbezahlte Arbeit zu beziffern. Denn erst die Integration unbezahlter Arbeit in das, was gemeinhin als Wirtschaft verstanden und in Geld gerechnet wird, macht eine umfassende Betrachtung materieller Wohlfahrt möglich. Insgesamt wird in Deutschland mehr unbezahlt als bezahlt gearbeitet − ein Großteil dieser Arbeit wird von Frauen geleistet. Wird der Haushaltssektor als institutioneller Sektor betrachtet, ist er (gemessen am Arbeitsvolumen) fast so groß wie die gesamte Privatwirtschaft und sehr viel größer als der Produktionssektor und als der Staat.
In den deutschen Wirtschaftsstatistiken werden Haushalte jedoch nur als Konsumeinheiten, nicht als produzierende und dienstleistende Institutionen gesehen. Dies ist deshalb so fatal, weil die große wirtschaftliche Bedeutung der unbezahlten Arbeit von Frauen (und Männern) als Beitrag zu unserem Lebensstandard für die Wirtschaftspolitik dadurch unsichtbar bleibt − und damit auch Fragen zu den Bedingungen, Ausbeutungs- und Machtverhältnissen in denen sie geleistet wird.
Die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie scheint sich immer noch zu Lasten von Frauen mit kleinen Kindern auszuwirken
Ohne diese unbezahlte (und vorwiegend von Frauen geleistete) Arbeit könnten wir nicht leben. Sie ermöglicht unseren Wohlstand und schafft das soziale Gefüge, auf dem eine Gesellschaft beruht. Gleichzeitig verbringet ein Großteil der Frauen ihre Erwerbsarbeit ebenfalls im Bereich der personenbezogenen- und haushaltsnahen Dienstleistungen: in der Erziehung, in Gesundheitsberufen, im Verkauf und in der Reinigung. Insgesamt beträgt der Anteil der Sorge- und Versorgungswirtschaft 64 Prozent des gesamten Arbeitsvolumens in Deutschland. Sie bildet somit den größten Sektor der Wirtschaft.
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Neben der vielen unbezahlten Arbeit gehen heutzutage die meisten Frauen im erwerbsfähigen Alter einer Erwerbsarbeit nach: 79,9 Prozent waren es im Jahr 2019. Damit machen sie einen Anteil von 46,6 Prozent aller Erwerbstätigen aus: praktisch die Hälfte. Die Quote der erwerbstätigen Frauen hat sich seit 2003 um fast 20 Prozentpunkte von 61,9 auf rund 80 Prozent erhöht. Auch der Anteil erwerbstätiger Mütter ist in den letzten Jahren gestiegen: von 66,7 im Jahr 2009 auf 74,7 Prozent im Jahr 2019. Drei von vier Müttern waren 2019 erwerbstätig. Der größte Zuwachs jedoch ist in der Gruppe der Frauen ab 55 Jahren zu verzeichnen. Die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie scheint sich demnach immer noch zu Lasten von Frauen mit kleinen Kindern auszuwirken.
Die Zunahme der Erwerbsbeteiligung von Frauen steht in einem engen Zusammenhang mit dem Wachstum des Dienstleistungssektors. Dessen Bruttowertschöpfung hat sich in Deutschland seit dem Jahr 1992 verdoppelt und betrug im Jahr 2020 700 Milliarden Euro. Kein anderer Wirtschaftssektor hat eine solche Zunahme zu verzeichnen. Auch der Bereich der nicht personenbezogenen Dienstleistungen, wie zum Beispiel die Finanzdienstleistungen, ist gewachsen. Frauen arbeiten jedoch vorwiegend im Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen: in der Bildung, im Gesundheitswesen und in der Kinderbetreuung. Der Frauenanteil der Beschäftigten im bezahlten Dienstleistungssektor betrug zuletzt 67,5 Prozent. In allen sogenannt klassischen Frauenberufen, wie etwa in der Pflege, in der Kinderbetreuung und im Einzelhandel, liegt der Anteil sogar noch deutlich höher: zwischen 71,5 und 84 Prozent. Nicht erfasst sind hier diejenigen Frauen, die ohne Sozialversicherung im häuslichen Bereich einer bezahlten Arbeit nachgehen.
Parallel zur Zunahme der Erwerbsarbeit von Frauen hat sich ein riesiger − und im Vergleich zu anderen Sektoren schlecht bezahlter − Sektor personenbezogener oder haushaltsnaher Frauenarbeit entwickelt. Gemessen an den Löhnen im verarbeitenden Gewerbe sind die Nettolöhne im Einzelhandel und im Gesundheitswesen zwar etwas stärker gestiegen. Dennoch fielen sie 2016 im Sektor der Sorge- und Versorgungswirtschaft weiterhin niedriger aus, als es die Löhne des verarbeitenden Gewerbes im Jahr 2008 waren.
Das heißt nichts anderes, als dass Sorge- und Versorgungsarbeiten zwischen unbezahlten und zum Teil schlecht bezahlten Frauen hin und her geschoben werden, ohne dass sie dabei annähernd gleiche Einkommen und Renten wie Männer erwirtschaften können.
Frauen in Deutschland verdienen jährlich rund 380 Milliarden Euro weniger als Männer, obwohl sie pro Woche eine Stunde mehr arbeiten – unbezahlte und bezahlte Arbeit zusammengezählt. Die Berechnung dieser Einkommenslücke beruht auf Daten des Statistischen Amtes der Europäischen Union, welches für die einzelnen Länder einen sogenannten Gender Overall Earnings Gap (GOEG) eruiert. Dabei wird nicht nur der Lohnunterschied (Gender Pay Gap) eingerechnet, sondern auch die Tatsache, dass Frauen weniger Erwerbsarbeitsstunden leisten als Männer. Für Deutschland beträgt der GOEG 41,9 Prozent. Frauen verdienen demnach nur 41,9 Prozent dessen was Männer im Geldbeutel haben. Oder monetär ausgedrückt: 380 Milliarden Euro weniger im Jahr. Deutschland gehört damit zu den Ländern mit einem der höchsten GOEG-Indexe. Nur Holland, Österreich, die Schweiz, Italien und das Vereinigte Königreich weisen noch leicht höhere Einkommensunterschiede aus.
Alle Arbeit zusammengezählt, arbeiten Frauen wie Männer in Deutschland in Vollzeit. Doch lediglich 35 Prozent der Wochenarbeitsstunden von Frauen sind bezahlt. Bei den Männern sind es 56 Prozent. Frauen leisten also einen wesentlich größeren Anteil ihrer Arbeitsstunden unbezahlt und schlechter bezahlt als Männer. Das heißt: Frauen sind sowohl knapp an Geld, wie auch an Zeit. Diese Realitäten stehen in engem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Organisation und Finanzierung des Sorge- und Versorgungssektors und damit, wie die Arbeit in diesem Sektor theoretisch erfasst und politisch thematisiert wird.
Ein Vergleich der Arbeitsproduktivität zwischen den wichtigsten Sektoren der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung macht deutlich, dass das Versprechen der Industriellen Revolution 4.0 − ein Quantensprung in der Produktivitätssteigerung − für sehr viele Arbeiten nicht eingelöst wird. Vor allem im Bereich der Sorge- und Versorgungsarbeit lässt sich diese Steigerung nicht umsetzen. Sorgearbeit zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass sie nicht beliebig intensivierbar ist, ohne massive Qualitätseinbußen zu erleiden. Denn anders als in der industriellen Güterproduktion, kann Sorgearbeit nicht einfach automatisiert und rationalisiert werden. In der Industrie erlaubt es der technische Fortschritt, den Arbeitsaufwand durch den Einsatz von Maschinen zu senken. Dadurch werden Arbeitskräfte ersetzt und die Arbeitskosten reduziert – sogar, wenn die Löhne steigen. Deshalb können Produkte immer billiger angeboten werden, ohne dass die Qualität darunter leiden muss.
Die Produktion von Lebensqualität geht alle an und darf nicht weiterhin an ein Geschlecht allein delegiert werden
Sorgearbeit folgt jedoch einer anderen Logik. Ihre Qualität hängt direkt mit der zur Verfügung stehenden Zeit zusammen. Die Arbeit lässt sich nicht in gleicher Weise mit dem Einsatz von Technik und standardisierten Arbeitsprozessen beschleunigen. Menschen lassen sich nicht immer schneller pflegen und noch so intelligente Roboter können nur wenige Handreichungen einer menschlichen Pflege ersetzen: Sorgearbeit ist und bleibt zeit- und damit arbeits- und kostenintensiv. Die Digitalisierung der Dokumentation in Sorgeberufen hat zwar zweifelsohne zu einer Arbeitsverdichtung geführt, aber eine ähnliche Produktivitätssteigerung wie zum Beispiel in der Informationstechnologie oder bei der Produktion von Autos ist nicht zu erwarten. Stattdessen führen auf Kosteneffizienz getrimmte Sorgedienstleistungen zu einer Verschlechterung der Qualität der Angebote und Arbeitsbedingungen. So nimmt die Bruttowertschöpfung des Gesundheitssektors zwar zu, weil die Beschäftigung im Gesundheitssektor steigt, nicht aber die Produktivität.
Neben vielen makroökonomischen Fragen erfordert diese eigene ökonomische Logik der Sorgearbeit vor allem eine Antwort in Bezug auf eine angemessene Finanzierung. Die Branchen der Gesundheitsversorgung, der Kinderbetreuung und Bildung sind grundlegend auf öffentliche Finanzen angewiesen.
64 Prozent aller geleisteten Arbeit in Deutschland besteht aus Sorge- und Versorgungsarbeit, und den weit überwiegenden Anteil leisten Frauen. Und es ist dieser Sektor der Wirtschaft, der auch in Zukunft weiter wachsen wird. Überlegungen zur Sorge- und Versorgungswirtschaft sind deshalb zentrale Bestandteile einer realistischen, gerechten und sozial, nachhaltigen, zukunftsgerichteten Wirtschaftspolitik. Alleine das Volumen dieser Arbeit ist Grund genug, sie in wirtschaftstheoretische und -politische Überlegungen zu integrieren. Denn wer die Gegenwart nicht zur Kenntnis nimmt, kann die Zukunft nicht gestalten. Dazu kommen wichtige Fragen der Bedeutung dieser Arbeit für das gute Leben und nicht zuletzt der Geschlechtergerechtigkeit. Die Produktion von Lebensqualität geht alle an und darf nicht weiterhin an ein Geschlecht allein delegiert werden.
Gesellschaftliche Organisation und Finanzierung von qualifizierter, gut bezahlter Sorgearbeit und von unbezahlter Sorgearbeit bedarf also vielfältiger und neuer Antworten. Es ist der bezahlte und unbezahlte Sorge-und Versorgungssektor, in dem ein wesentlicher Teil der Arbeit verrichtet wird, die grundlegend ist für unseren Lebensstandard. Im Zuge der Automatisierung werden viele Jobs verloren gehen. Klar ist hingegen, dass die Sorge- und Versorgungsarbeit, sei sie unbezahlt oder bezahlt, nicht weniger werden wird. Deshalb sehen wir die dringende Notwendigkeit, eben diese Arbeit mit der ihr angemessenen Bedeutung und Wertigkeit aufzuladen und in Überlegungen zukunftsfähiger Versorgungsökonomien einzubeziehen.
Zu den Autorinnen:
Anja Peter ist Historikerin und Co-Geschäftsleiterin von Economiefeministe und sie leitet Kurse zum Thema Gleichstellung, Care-Arbeit und Sorge- und Versorgungswirtschaft.
Christine Rudolf ist politische Ökonomin und Co-Projektleiterin von Economiefeministe und unterrichtet Öffentliche Finanzen und Feministische Ökonomie an der HTW-Berlin, sie ist geschäftsführende Vorständin der Genossinnenschaft Schokofabrik eG.