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Die Lehre der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland - Wissenschaft oder Ideologie?

Lars Grünhagen
Exploring Economics, 2025
Level: beginner
Perspectives: Neoclassical Economics, Other, Post-Keynesian Economics
Topic: Reflection of Economics
Format: Essay

Dieser Beitrag besteht zu großen Teilen aus Auszügen aus dem Buch "Die Lehre der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland" von Lars Grünhagen, erschienen 2024 im Metropolis Verlag.

Gehe zum Buch

Spätestens seit der Finanzkrise im Jahr 2008 gibt es eine breite Kritik gegen die Realitätsferne der Volkswirtschaftslehre. Die Kritik richtet sich vor allem gegen das dominante Paradigma der Neoklassik, seine realitätsferne Theoriebildung und mathematische Modellierung, die die Finanzkrise weder vorhersagen noch erklären konnte. Mittlerweile sind 16 Jahre seit der Finanzkrise vergangen, aber die Neoklassik ist mit ihren Prämissen weiterhin das dominante Paradigma in Deutschland,  wie auch international (vgl. Rebhan 2017, Beyer et al. 2018, Pühringer/ Bäuerle 2019, Kapeller et al. 2022, Heise 2023).

Wie die vorliegende Untersuchung bestätigt, ist diese Kritik mehr als berechtigt. Diese exemplarische Beobachtung und Analyse einer Einführungsveranstaltung an einer der größten Universitäten Deutschlands zeigt, dass die wirtschaftswissenschaftliche Lehre Prinzipien wie dem Kontroversitätsgebot, die jede sozialwissenschaftliche Lehre erfüllen sollte, nicht gerecht wird. Stattdessen wird weiterhin einseitig in die Neoklassik und ihre Modelle eingeführt, ohne Reflexion ihrer Grundannahmen oder Behandlung ihrer Kritik.

Dieser Text basiert auf meinem gleichnamigen Buch, welches ich 2024 als Masterarbeit eingereicht habe. Es handelt sich dabei eine zusammenfassende Darstellung, wobei einige Textstellen hierbei weitestgehend wortgleich übernommen wurden.

Forschungsstand: Die Einseitigkeit der Wirtschaftswissenschaft

Kapeller et al. untersuchten 2022 deutschsprachige Ökonom*innen und ihren Einfluss auf die Politik und konnten weitestgehend bestätigen, dass der neoklassische Mainstream das dominante Paradigma darstellt. Rebhan (Rebhan, 2017) untersuchte quantitativ die in Deutschland verwendeten Lehrbücher, und im Anschluss hieran analysierte Peukert (2019, 2020) die wichtigsten mikro- und makroökonomischen Lehrbücher und kommt zu dem Schluss diese seien ideologisch einseitig und didaktisch zweifelhaft (Peukert 2018).

Wenig Untersuchungen gab es jedoch dazu, wie die tatsächliche Lehre der Wirtschaftswissenschaften aussieht. Hier schließt dieser Artikel an, der eine Einführungsveranstaltung der Wirtschaftswissenschaften (Einführung in die Volkswirtschaftslehre) an einer der größten Universitäten Deutschlands ethnographisch und inhaltsanalytisch analysiert.  

Anforderungen an die VWL als Sozialwissenschaft

Da die Wirtschaftswissenschaft eine Sozialwissenschaft ist, stellt sich an diese besondere didaktische Anforderungen, die bereits Humboldt betonte. Es stellt sich also die Frage: Wird die Lehre der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland ihren allgemeinen und ethisch-gesellschaftlichen Anforderungen im Sinne des Humboldt’schen Bildungsideals gerecht?  

Denn Ziel sozialwissenschaftlicher Bildung sollte sein, dem Ideal des mündigen Menschen näherzukommen (Engartner et al. 2021: 12), da laut Adorno eine „verwirklichte Demokratie“ nur in einer „Gesellschaft der Mündigen“ (Adorno 1971: 107) denkbar sei. Hierfür sollte wirtschaftswissenschaftliche Lehre gewisse didaktische, allgemeine und ethisch-gesellschaftliche Prinzipien erfüllen, die z.T. bereits auf Humboldt zurückgehen (vgl. Humboldt 2017 [1810], Haarmann 2021).

Auf diesem Bildungs- und Wissenschaftsideal baut auch die Idee sozioökonomischer Bildung auf. Diese formuliert einige Prinzipien, denen sozialwissenschaftliche und damit wirtschaftswissenschaftliche Bildung gerecht werden sollte.

Das Wichtigste dieser Prinzipien ist das Kontroversitätsgebot (vgl. Humboldt 2017 [1810]: 158, Haarmann 2021: 40-41, Engartner et al. 2021: 117-124). Es besagt, dass alles, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, auch im Unterricht bzw. in der Lehre als kontrovers dargestellt werden muss. Für die wirtschaftswissenschaftliche Lehre würde dies bedeuten unterschiedliche Theorien und Paradigmen gegenüberzustellen, ebenso wie Debatten um die Ausrichtung der wirtschaftswissenschaftlichen Disziplin unabhängig vom eigenen Standpunkt des Lehrenden offenzulegen. Konkret müsste die Lehre hierfür also die Kritik an der neoklassischen Theorie und ihren Grundannahmen darstellen, ebenso wie (Gegen-)Annahmen, Konzepte, Modelle und Theorien anderer Paradigmen.

Darüber hinaus sollte die Lehre (2) adressat*innenorientiert (3) problemorientiert (4) konfliktorientiert (5) sowie situations- und lebensweltorientiert sein (vgl. Haarmann 2021: 34-42, Engartner et al. 2021: 73-131).

Analysenahmen: Unterschiedliche Grundannahmen von Heterodoxie und Mainstream

Zur Untersuchung des Kontroversitätsgebots greife ich auf den analytischen Rahmen von Helge Peukerts Lehrbuchanalysen zurück (vgl. Peukert 2020: 16-23). Peukert ordnet dem Mainstream elf Charakteristika (M) zu, denen er elf heterodoxe Charakteristika (H) gegenüberstellt. Diese Charakteristika können weitestgehend übernommen werden, um die Pluralität der Lehre zu bewerten. Hieraus ergibt sich die folgende Tabelle 1:

M1. Entscheidungen bei Knappheit, Produktion aus Kapital und Arbeit

H1. Versorgung und Bedürfnis­befriedigung

M2. Homo oeconomicus,
Mikro = Makro

H2. Mikro ≠ Makro
(Strukturen à Verhalten)

M3. Ziel der Wirtschaft: Effizienz und Wachstum = Wohlstand

H3. Ziel der Wirtschaft: Wohlbefinden

M4. Ideale Märkte als (quasi) natürlich und sinnvoll

H4. Ökonomische Systeme als politisch

 

M5. Gleichgewichtsannahmen,
Effizienz durch Märkte und freie Preise, gleiche Logiken aller Märkte,
Demokratieskepsis

H5. Ungleichgewichte, Effizienz nicht allein durch freie Preise, unterschied­liche Logiken verschiedener Märkte

M6. Freie Märkte à Wohlstand;
politische Eingriffe mindern Effizienz und Wohlstand, Laissez-faire oder begrenzter Interventionismus

H6. „always embedded economies“, dauerhaftes Abwägen von Vor- und Nachteilen staatlicher Interventionen

M7. Ungleichheiten durch unterschied­liche Präferenzen und nicht im Fokus

H7. Ungleichheit durch unterschied­lichste Faktoren

M8. Neutralität des Geldes

H8. Geld als gesellschaftliche
Kon­struktion/Institution;
Nicht-Neutralität des Geldes

M9. Umwelt als externer Faktor

H9. Umwelt als elementarer Faktor

M10. Positivismus, linearer Fortschritt und Pfadunabhängigkeit der Wissen­schaft, Neutralität der Ökonomik

H10. (sozialwissenschaftlicher)
Kon­struktivismus (o.Ä.),
Ideengeschichte, Paradigmen

M11. Mathematische Modellierung

H11. Sozialwissenschaftliche
Methoden

(S. 38)

Mit diesen Charakteristika und Prinzipien wurde eine Veranstaltung der Einführung in die Volkswirtschaftslehre ethnografisch beobachtet. Anschließend wurden die gesamten Materialien untersucht, um zu beantworten, inwieweit die Lehre ihren ethisch-gesellschaftlichen Anforderungen gerecht wird.

Da in der untersuchten Veranstaltung die Grundlagen für das restliche Studium gelegt werden, können einerseits Rückschlüsse auf den gesamten Studiengang der Wirtschaftswissenschaften gezogen werden, andererseits dürften durch die ähnliche Struktur der Studiengänge der Wirtschaftswissenschaften in Deutschland mit seinem einheitlichen Lehrbuchkanon (vgl. Rebhan 2017) die Ergebnisse dieser Untersuchung auch auf viele andere deutsche Universitäten übertragbar sein.

Ethnografie und Inhaltsanalyse

Zunächst soll ein Eindruck davon vermittelt werden, wie die tatsächliche Realität der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre aussieht. Hierfür wird die erste ethnografische Beobachtung aus der Vorlesung der Veranstaltung direkt wiedergegeben. Im Anschluss werden die restlichen Beobachtungen der Veranstaltung (bestehend aus Vorlesung, Übung und Tutorium) sowie der Analyse der Materialien zusammengefasst.

Ethnografische Beobachtung einer VWL-Vorlesung

Der erste Besuch der Veranstaltung erfolgte am Anfang des SemestersDie Vorlesung fand in einem der größten Hörsäle der Universität statt und der Raum war zu Beginn so voll, dass nicht nur alle Stühle belegt waren, sondern auch die gesamten Gänge.

Der Professor begann als Erstes zu erläutern, warum diese Veran­staltung so wichtig sei: „Grundlagen sind das Wichtigste und alles danach baut auf den Grundlagen auf.“

Als Nächstes nannte er drei Lernziele der Veranstaltung. Das Erste sei die Vorbereitung auf die Mikro- und Makroökonomiekurse der späteren Semester. Im Gegensatz zu diesen Veranstaltungen liege der Fokus hier auf der Herleitung von Konzepten, statt auf Berechnungen. „Warum ist man hier? Man will irgendwie wissen, wie die Welt funk­tioniert … ich will Sie dazu befähigen“, damit man öffentliche Dis­kussionen verstehen und nachvollziehen könne. Und damit leitete er über zum zweiten Ziel: wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, um sich eine Meinung bilden und mitreden zu können. Wobei das Bilden einer eigenen Meinung dann bereits das dritte Ziel der Veran­staltung sei. Hierfür brauche man die Volkswirtschaftslehre, weil die Wirtschaft überall mit dabei sei. Eine fundierte Meinung sei folglich wichtig für die eigene Rolle als Staatsbürger (auch in späteren Sitzun­gen kam er auf diesen Punkt noch zurück).

Nach dieser Einleitung ging der Professor zum organisatorischen Teil der Veranstaltung über, um anschließend mit Inhalten zu begin­nen. Medial verwendete er jeweils PowerPoint-Präsentationen, die stichpunktartig seine Ausführungen wiedergaben.

Er startete damit, was Volkswirtschaftslehre eigentlich sei, und cha­rakterisierte sie nach neoklassischem Verständnis als Analyse mensch­lichen Handelns; Analyse der Erzeugung und Verteilung knapper Güter und der Erarbeitung von Handlungsempfehlungen für die Politik. Hiernach sprach der Professor mit kurzem Bezug zu Karl Polanyi über verschiedene (historische) Wirtschaftssysteme. Diese seien Reziprozi­täts-, Befehls- und Marktsysteme gewesen. Explizit ging er hier darauf ein, dass es die von Adam Smith vorgestellten Tauschsysteme nicht gegeben habe.

Als Nächstes erklärte der Professor, dass die Volkswirtschaftslehre Modelle benutzen würde, um Zusammenhänge vereinfacht darstellen zu können. Er begann hierfür mit einem Modell eines Wirtschafts­kreislaufes, welches „Das Wirtschaften auf einen Blick“ abbilden sollte. Anschließend leitete er das neoklassische Arbeitsmarktmodell her. Unternehmen kauften mehr Arbeit, wenn sie billig sei, Haushalte böten mehr Arbeit an, wenn sie mehr dafür bekämen. Direkt im Anschluss folgte eine Erklärung zur Agenda 2010. Die Löhne und Sozialleistun­gen in Deutschland seien vorher zu hoch gewesen, deswegen habe es hohe Arbeitslosigkeit gegeben; also habe man politisch die Sozialleis­tungen gesenkt und damit indirekt die Löhne, damit die Unternehmen mehr Arbeit nachfragen und die Haushalte trotz niedrigerer Löhne wei­terhin Arbeit anbieten konnten. Unter Ökonom*innen sei man „sich so ungefähr konsensmäßig einig, dass die Agenda funktioniert hat“ schloss er sein Beispiel zur Agenda 2010. Man müsse sich Modelle eben wie eine Landkarte vorstellen: „sie stimmen in der Tendenz“.

Zuletzt begann der Professor mit den zehn volkwirtschaftlichen Regeln von Mankiw und Taylor (2018). Auch wenn diese in der neuen Ausgabe seines Buches nicht mehr vorhanden seien (weil sie wohl zu sehr nach den zehn Geboten klängen), seien sie dennoch wahr. Er nannte die Regeln, die auf der Folie abgebildet waren und beendete damit die erste Vorlesung. (S. 47-49)

In der ersten Vorlesung tauchen damit nur Charakteristika des Mainstreams auf. Beispielsweise wird die Wirtschaftswissenschaft als Analyse wirtschaftlichen Handelns sowie der Erzeugung und Verteilung knapper Güter charakterisiert (M1). Obwohl der Professor anschließend feststellt, dass es die von Smith beschriebenen Tauschsysteme nicht gegeben hätte und Gesellschaften auch über Reziprozitäts- oder Befehlssysteme organisiert seien könnten, folgt nicht die Schlussfolgerung, dass es sich bei Wirtschaftssystemen grundsätzlich um politische Systeme handelt, wie es heterodoxe Ansätze betonen würden (H4). Auch die zehn Regeln von Mankiw die folgen spiegeln nur Charakteristika des Mainstreams wider (vgl. auch Peukert 2020: 85).

Analyse der Einführungsveranstaltung

Die folgenden Vorlesungen vermitteln ein ähnliches Bild. Es tauchen vor allem die Charakteristika des Mainstreams auf, ohne eine entsprechende Gegenüberstellung zu heterodoxen Charakteristika.

Diese Analyse kann durch die Untersuchung der in der Vorlesung verwendeten Präsentationen bestätigt werden. In diesen folgt die Vorlesung allen Eigenschaften des Mainstreams mit Ausnahme des Positivismus, von denen sich der Professor mit Verweis auf Kuhns Paradigmen distanziert. Die Vorlesung wird somit nur an wenigen Stellen dem Kontroversitätsgebot gerecht. Die anderen Prinzipien sozioökonomischer Bildung werden ebenfalls kaum beachtet. Lediglich der Situations- und Lebensweltorientierung kommt der Professor durch viele anschauliche Beispiele nach. 

Auch in den Übungen der Veranstaltung ergibt sich ein ähnliches Bild. In der Übung werden vor allem Grundkonzepte und auf diesen aufbauende einfache mathematische Modelle behandelt; beispielsweise der abnehmende Grenznutzen und die darauf aufbauende Kostenfunktion oder die Cobb-Douglass Produktionsfunktion. Auf diesen Grundlagen soll dann das spätere Studium aufbauen. In den Übungen gelingt es dem Professor weiterhin, sehr gut situations- und lebensweltorientiere Beispiele für die abstrakten Konzepte zu finden. Hierbei geht er auch auf aktuelle politische Geschehnisse ein, die er häufig aus liberaler Perspektive kommentiert. Beispielsweise äußert sich der Professor kritisch gegenüber Robert Habeck, der ja „nur“ Philosophie studiert habe. Darüber hinaus werden auch hier die anderen Prinzipien, denen eine sozialwissenschaftliche Lehre gerecht werden sollte, kaum bis gar nicht erfüllt.

Auch die analysierten Lernmaterialien der Übung bestätigen dieses Bild, jedoch mit einigen Ausnahmen, in denen die Lehre dem Kontroversitätsgebot gerecht wird. So werden einerseits verschiedene Wissenschaftstheorien (Popper und Kuhn) gegenübergestellt und andererseits gibt es eine ideengeschichtliche Betrachtung verschiedener wirtschaftswissenschaftlicher Theorien. Hier werden unterschiedliche theoretische Standpunkte erklärt und gegenübergestellt. Durch eine Darstellung von Keynes tauchen damit einige heterodoxe Charakteristika auf und werden denen des Mainstreams gegenübergestellt. Leider macht dies nur einen kleinen Teil der Übung aus und der größere Teil besteht aus Konzepten und mathematischen Modellen, die auf den Charakteristika des Mainstreams basieren. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf mikroökonomischen Konzepten.

Der letzte Teil der Veranstaltung sind Tutorien, die von Studierenden aus höheren Semestern gegeben werden. In den Tutorien werden Arbeitsblätter besprochen, die die Studierenden zuvor zuhause erledigen können. Diese Arbeitsblätter wiederholen vor allem die Konzepte und Modelle der Vorlesung und Übung. In den Tutorien gehen die Tutor*innen dabei die einzelnen Fragen nacheinander durch und beantworten diese anschließend mit mehr oder weniger Beteiligung der Studierenden. Neben diesen Wiederholungen gibt es hier jedoch auch immer wieder Fragen mit politischem Einschlag.

Eine solche Frage lautet Beispielsweise: „Die ökonomische Zunft ist sich relativ einig darüber, dass das Preisniveau in vielen südeuropäischen Ländern sinken muss, da diese über zu hohe Preis- und Lohnsteigerungen in der Vergangenheit ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren haben. Welche der beiden Messgrößen [Verbraucherpreisindex oder BIP-Deflator; Anmerk. d. Verf.] halten Sie als Indikator für eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit für geeigneter. Diskutieren Sie!“ Hier soll herausgearbeitet werden, dass sich der BIP-Deflator besser eignet. Die implizite politische Forderung nach Austerität der südeuropäischen Länder in dieser Aufgabe wird in den vorliegenden Lösungen sowie den besuchten Tutorien nicht diskutiert. Auch die postkeynesianische Kritik, dass Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der südeuropäischen Länder erhöht habe und die Anpassung z.T. auch von den nordeuropäischen Ländern ausgehen könnte oder sogar müsste (vgl. Bibow/Flassbeck 2018), findet nicht statt.

Fazit und Ausblick

Die Veranstaltung Einführung in die Volkswirtschaftslehre an der untersuchten Universität führt mit vielen Beispielen aus dem Alltag vor allem in den neoklassischen Mainstream der Volkswirtschaftslehre ein und präsentiert diesen als nahezu wertfreie, unpolitische und alternativlose Beschreibung der Logiken modernen Wirtschaftens, verstanden als Handeln auf Märkten. Alternative Theorien zum Mainstream kommen nur am Rande und nur in wenigen ausgewählten Feldern vor – in der Behandlung von Wissenschaftstheorien und einer Ideengeschichte wirtschaftswissenschaftlicher Theorien.

Leider wird dabei die Gelegenheit versäumt, den Postkeynesianismus als nicht-neoklassische Weiterentwicklung von Keynes vorzustellen. Ebenso wenig werden der dem Kapitalismus kritisch eingestellte Marxismus oder andere Alternativen zur Neoklassik auch nur genannt.

Im Anschluss an diese dem Kontroversitätsgebot zumindest leicht folgenden Teile der Veranstaltung widmet sich der größte Teil der Veranstaltung der Mikroökonomie. Hier tauchen alle Charakteristika des Mainstreams auf, ohne entsprechende Gegenüberstellung heterodoxer Charakteristika.

Der Veranstaltung zufolge befasst sich die Volkswirtschaftslehre also mit Entscheidungen (M1) rationaler Akteure, die aggregiert die Struktur der Wirtschaft bilden (M2). Ziel ist eine möglichst effiziente Allokation von Ressourcen (M3). Hierfür eignen sich Märkte, die als unumstritten effizienteste Organisation der Wirtschaft dargestellt werden (M4). Sie tendieren zum Gleichgewicht und sind tendenziell stabil (M5); dem Staat kommt lediglich eine korrigierende Rolle zu (M6). Ungleichheit wird nicht behandelt (M7), Geld taucht nur als nicht-klausurrelevantes Thema auf und die gelehrten Modelle setzen die Neutralität des Geldes implizit voraus (M8). Ebenso wird die Umwelt nahezu vollständig ausgeklammert – hier müsse lediglich der Staat dafür sorgen, externe Effekte zu internalisieren, um diese zu schützen (M9). Obwohl die Volkswirtschaftslehre als Gesellschaftswissenschaft keine positivistische Wissenschaft sein könne (H10), ist die einzig vorgestellte Methode die mathematische Modellierung (M11).

Auch wenn an einigen Stellen gewisse heterodoxe Charakteristika auftauchen, so werden diese nicht systematisiert, um aus ihnen Schlussfolgerungen zu alternativen kohärenten Theorien zu ziehen.

Die Lehre der Wirtschaftswissenschaften an der untersuchten Universität wird damit ihren allgemeinen und ethisch-gesellschaftlichen Anforderungen im Sinne des Humboldt’schen Bildungsideals nicht gerecht. Ähnlich dürfte es sich bei einer Vielzahl anderer deutscher Universitäten verhalten.

Die Lehre behandelt lediglich in anschaulicher und an der Lebenswelt der Studierenden ausgerichteter Weise Konzepte und Modelle des neoklassischen Mainstreams (Situations- und Lebensweltorientierung). Dabei werden jedoch alternative Betrachtungsweisen ebenso ausgeklammert (Kontroversitätsgebot) wie die Behandlung von realen gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen von Wirtschaftssystemen abseits der modelltheoretischen Optimierung (Problemorientierung) oder die Behandlung von gesellschaftlichen Konflikten (die u.a. durch die kapitalistische Wirtschaftsweise entstehen oder verschärft werden; Konfliktorientierung). Zuletzt orientiert sich die Lehre damit auch nicht an den Bedürfnissen der Studierenden (Adressat*innenorientierung).

Es ist fraglich, wie in dieser Form ausgebildete zukünftige Ökonom*innen zu einer Bearbeitung gesamtgesellschaftlicher Problemlagen wie dem Klimawandel oder zunehmender (Einkommens- und Vermögens-)Ungleichheiten (vgl. Piketty et al. 2020, Milanović 2020) beitragen sollen, wenn die durch Märkte auftretenden Probleme und Konflikte von der Lehre nicht thematisiert werden.

Es scheint sich zu bestätigen, dass es Bildungsziel der orthodoxen Wirtschaftswissenschaft ist, eine „affirmative Grundhaltung zur Marktwirtschaft“ zu erzeugen (vgl. Hedtke 2019: 146, Engartner et al. 2021: 94).Durch diese Einseitigkeit der Lehre findet eine Erziehung zur Mündigkeit im Sinne Adornos folglich nicht statt.

Literatur

Adorno, T. W. (1971): Erziehung zur Mündigkeit: Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Suhrkamp, Frankfurt [Main].

Beyer, K.M.V. / Grimm, C.V. / Kapeller, J.V. / Pühringer, S.V. (2018): Die VWL in Deutschland und den USA: eine ländervergleichende Analyse. Düsseldorf. https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/66394 (zuletzt überprüft 22.04.2024).

Bibow, J. / Flassbeck, H. (2018): Das Euro-Desaster. Wie deutsche Wirtschaftspolitik die Eurozone in den Abgrund treibt. Frankfurt/Main: Westend.

Engartner, T. / Hedtke, R. / Zurstrassen, B. (2021): Sozialwissenschaftliche Bildung. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn.

Haarmann, M.P. (2021): Lehre im Interesse der Studierenden: Selbstverständnis, Prinzipien und Praktiken einer bildungswirksamen Hochschullehre. In: Urban, J.; Schröder, L.-M.; Hantke, H.; Bäuerle, L. (Hrsg.), Wirtschaft neu lehren: Erfahrungen aus der pluralen, sozio-ökonomischen Hochschulbildung, 1. Auflage. Springer Fachmedien Wiesbaden, Wiesbaden.

Hedtke, R. (2019): „Lebensweltorientierung von Lernaufgaben birgt die Gefahr, die Subjektwerdung der Lernenden zu behindern oder zu verhindern.“. Lebensweltorientierte Lernaufgaben – sozialwissenschaftliche Zugänge. In: Fischer, A.; Oeftering, T.; Hantke, H.; Oppermann, J. (Hrsg.), Lebensweltorientierung und lebensweltorientierte Lernaufgaben: wieviel Lebensweltorientierung ist im Unterricht möglich?: fachdidaktische Zugänge. Schneider Verlag Hohengehren GmbH, Baltmannsweiler.

Heise, A. (2023): Heterodoxe Ökonomik: Alternativen zum ökonomischen Mainstream. Springer Fachmedien, Wiesbaden.

Humboldt, W. (2017 [1810]): Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. In: Lauer, G. (Hrsg.), Wilhelm von Humboldt. Schriften zur Bildung. Reclam, Stuttgart.

Kapeller, J. / Puehringer, S. / Grimm, C. (2022): Paradigms and policies: the state of economics in the German-speaking countries. In: Review of International Political Economy, 29(4).

Mankiw, N.G. / Taylor, M.P. / Herrmann, M. / Muller, C. / Püplichhuysen, D. (2018): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 7., überarbeitete Auflage. Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart.

Milanović, B. (2020): Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Peukert, H. (2018): Ideologisch einseitig und didaktisch zweifelhaft: Eine Analyse vorherrschender mikro- und makroökonomischer Lehrbücher. (FGW-Impuls Neues ökonomisches Denken, 9). Düsseldorf: Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung e.V. (FGW). https://www.exploring-economics.org/en/discover/ideologisch-einseitig-und-didaktisch-zweifelhaft/ (zuletzt überprüft 22.04.2024).

Peukert, H. (2019): Mikroökonomische Lehrbücher: Wissenschaft oder Ideologie?, 2., korrigierte Auflage. Metropolis-Verlag, Marburg.

Peukert, H. (2020) Makroökonomische Lehrbücher: Wissenschaft oder Ideologie?, 2. Auflage. Metropolis-Verlag, Marburg.

Piketty, T. / Hansen, A. / Heinemann, E. / Lorenzer, S. / Schäfer, U. / Dresler, N.S. (2020): Kapital und Ideologie. C.H.Beck, München.

Pühringer, S. / Bäuerle, L. / Engartner, T. (2017): Was denken (zukünftige) ÖkonomInnen? Einblicke in die politische und gesellschaftliche Wirkmächtigkeit ökonomischen Denkens. In: GWP: Gesellschaft Wirtschaft Politik, 67 (3), 351-359. https://doi.org/10.3224/gwp.v67i3.07 (zuletzt überprüft 22.04.2024).

Rebhan, C. (2017): Einseitig oder plural? Eine quantitative Analyse der wissenschaftlichen Einführungslehrbücher an deutschen Hochschulen. Metropolis-Verlag, Marburg.

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