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Veith Selk
Erstveröffentlichung im Makronom
Die Diskussion über die Zukunft der Demokratie hat sich eingetrübt – auch im traditionell demokratieoptimistisch eingestellten linksliberalen Lager. Ein Beitrag von Veith Selk.
Unsere Gesellschaft befindet sich inmitten eines tiefgreifenden Transformationsprozesses. Im Zentrum: die Wirtschaft. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob uns der Wandel by disaster passiert oder uns by design gelingt. Die Debattenreihe Economists for Future widmet sich den damit verbundenen ökonomischen Herausforderungen. Sie beleuchten einerseits kritisch-konstruktiv Engführungen in den Wirtschaftswissenschaften sowie Leerstellen der aktuellen Wirtschaftspolitik. Andererseits diskutieren wir Orientierungspunkte für eine zukunftsfähige Wirtschaft und setzen Impulse für eine plurale Ökonomik, in der sich angemessen mit sozial-ökologischen Notwendigkeiten auseinandergesetzt wird.
Die Diskussion über die Zukunft der Demokratie hat sich eingetrübt – auch in dem traditionell demokratieoptimistisch eingestellten linksliberalen Lager. Während unter Progressiven früher darüber gestritten wurde, wie die repräsentative Demokratie verbessert werden kann, um mehr Mitbestimmung und Freiheit zu ermöglichen, wird der politische Diskurs in zunehmendem Maße durch einen demokratieskeptischen Ton geprägt. Die Skepsis bezieht sich sowohl auf die Output-Dimension von Demokratie (die Qualität der Erledigung öffentlicher Angelegenheiten) als auch auf ihre Input-Seite (die Qualität der bürgerschaftlichen Beteiligung). Es wächst der Eindruck, dass Demokratien in beiden Dimensionen schlechter abschneiden als lange Zeit vermutet.
Hierzu trägt auch bei, dass der erstarkende Rechtspopulismus im progressiven Juste-Milieu für ein mulmiges Gefühl, wenn nicht gar für blanke Angst sorgt. Der Rechtspopulismus, so eine vor diesem Hintergrund entstandene Befürchtung, führe nicht in eine „illiberale Demokratie“, sondern in den Faschismus (Mason 2022).
Infolgedessen wird die Frage akut, ob Freiheit noch zu retten sei, wenn man der Bürgerschaft bei der Wahl die freie Wahl ließe. Die Zweifel an der „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann 1983) wachsen. Zum demokratischen Credo gehört das folgende Prinzip: Wer mittels demokratischer Prozeduren ins Amt gelangt und kein Programm der Systemüberwindung verfolgt, der verdient Gehorsam. Allerdings wird dieses Prinzip nicht nur von manchem Populisten infrage gestellt – es scheint auch nicht mehr jedem Progressiven einzuleuchten.
Generell nimmt im Kontext einer verstärkt zu Mitteln des zivilen Ungehorsams greifenden Klimabewegung und lebensweltlich sichtbarer Klimafolgen die Dringlichkeitsemphase in der klimapolitischen Diskussion zu. Eine wachsende Zahl von Engagierten scheint jedoch zu bezweifeln, dass uns die demokratische Politik überhaupt noch vor dem Klimakollaps schützen kann. Sie sei keine Lösung, sondern selbst ein Problem, da sie „das Notwendige“ nicht in die Tat umsetze (Abadi 2022).
Deshalb werden mittlerweile Überlegungen darüber angestellt, in welcher Form demokratische Verfahren der Meinungs- und Willensbildung durch die Einführung undemokratischer Institutionen, wie einer nach dem Modell „unabhängiger“ Zentralbanken gemodelten Klimabehörde (Schaible 2023), umgangen oder gar notstandsrechtlich außer Kraft gesetzt werden könnten. In der wissenschaftlichen Debatte werden, auch von Autoren, die sich selbst als progressiv verstehen, Konzepte vertreten, die im Dienste einer „protektiven Technokratie“ (Staab 2022) oder eines ökologisch begründeten Ausnahmezustands (Mittiga 2022) einen Demokratieabbau implizieren.
Kurzum: Im sich selbst als progressiv verstehenden Lager wächst die Demokratieskepsis. Sie nährt sich aus dem Verdacht, ein größer werdender Teil der Wählerschaft wähle falsch. Zudem sei die Demokratie der als notwendig erachteten Aufgabe der ökologischen Transformation nicht gewachsen. Vor diesem Hintergrund darf die in hektischer Weise und mit bemüht optimistischer Symbolik versehene Einführung von „Bürgerräten“ und das unermüdliche Lob der Demokratie nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Demokratieskepsis auch auf Seiten derer wächst, die vordergründig als ihre Vertreter und Fürsprecher auftreten.
Die Skepsis an der Zukunftstauglichkeit der Demokratie ist nicht nur ideologischer Polarisierung, akademischer Überheblichkeit oder der Angst vor der Klimakatastrophe geschuldet. Sie ist realistisch, wenn auch aus anderen als den eingangs genannten Gründen. Ein Blick auf Veränderungen der Rahmenbedingungen von demokratischer Politik macht das deutlich (ausführlich Selk 2023):
Erstens hat sich das politische Leben infolge zunehmender internationaler Verflechtung und Europäisierung verkompliziert. Politik findet heute auf mehreren politischen Ebenen, unter Einbezug zahlreicher politischer Akteure und in Form von Policy-Netzwerken und Governance-Arrangements statt, die für Außenstehende weitgehend unverständlich sind.
Diese Überdifferenzierung macht ein kohärentes Regieren schwer, sie blamiert Ansprüche auf bürgerschaftliche Beteiligung und sie lässt mit der jeweiligen Materie unvertraute Beobachter ratlos zurück. In Europa geht dies mit einer Konstitutionalisierung liberaler Wirtschafts- und Finanzpolitik und der Überdehnung des politischen Raums einher (Jörke 2019). Der Maßstab für die Legitimität politischer Herrschaft ist unter solchen Bedingungen in verstärktem Maße die lebensweltliche Wahrnehmung der Leistungsfähigkeit des Regimes und deren medial vermittelte Darstellung in der Öffentlichkeit. Obwohl das Regieren hierzulande im Systemvergleich immer noch recht gut dastehen mag, mehrt sich die Unzufriedenheit mit dem Output des politischen Systems. Überspitzt formuliert lautet die Leitfrage eines solcherart postdemokratisch beherrschten Bürgers: Werde ich so regiert, dass ich etwas davon habe?
Zweitens sind wir Zeuge der Verabschiedung des polit-ökonomischen Regimes, mit dem Demokratien unserer Prägung ein hohes Maß an Output-Legitimation generieren konnten: dem „demokratischen Kapitalismus“. Gemeint ist eine politische Ökonomie, die so wahrgenommen wurde, als verbinde sie Profitmacherei, Wachstum und „Marktgerechtigkeit“ mit Solidarität, Umverteilung und „sozialer Gerechtigkeit“. Diese Wahrnehmung kollidiert seit geraumer Zeit mit der Wirklichkeit (Streeck 2021).
Das ist politisch folgenreich. Für eine wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern verschlechtern sich die Zukunftsaussichten (Przeworski 2020) und deren Bilanz der jüngeren Vergangenheit fällt negativ aus. Aber auch unabhängig von dieser veränderten Wahrnehmung mehren sich die Anzeichen dafür, dass der „demokratische Kapitalismus“ an sein Ende kommt. Dies hat nicht nur ökonomische und technologische Gründe (Collins 2013; Gordon 2016), sondern auch politische. So fehlt es an der für einen „demokratischen Kapitalismus“ nötigen Disziplinierung der Oberklassen und an der Elitenkontrolle (McCormick 2023), d.h. der Eindämmung des Machstrebens von Eliten, sowie an gewerkschaftlicher Organisation und der sozialen Öffnung von Karrierewegen (Hartmann 2013).
Es kann deshalb nicht verwundern, dass die beiden wichtigsten politischen Rechtfertigungstheorien des „demokratischen Kapitalismus“ anachronistisch geworden sind (zum Folgenden Offe 2012). Sowohl die sozialdemokratische Theorie, die den Akzent stärker auf soziale Gerechtigkeit und staatliche Steuerung legte, als auch die neoliberale Theorie, die primär auf Markteffizienz und die bürokratische Verwaltung des Wettbewerbs abzielte, taugen nicht mehr zur Rechtfertigung. Sie wirken schal und sind historisch abgelebt.
Die politische Ökonomie ist, zumindest was ihre öffentliche Rechtfertigung betrifft, theorielos. Sie erscheint zusehends als ein Spiel, in dem die mit den Eliten verbündeten „Gewinner“ gegen die „Verlierer“ antreten – unter unfairen Bedingungen. Infolgedessen schwindet etwas, das man mit einem von Richard Rorty geprägten Ausdruck als „soziale Hoffnung“ bezeichnen kann und das den sozialen Leim demokratischer Gemeinwesen bildete: der Glaube, gemeinsam eine bessere Zukunft anzusteuern.
Drittens nehmen der Transformationsstress und der Adaptionsdruck zu. Hinsichtlich der sogenannten Klimakrise geht es nicht mehr um eine Verhinderung des Klimawandels, sondern um die Frage nach dem Umgang mit ihm. Was dies konkret politisch bedeutet, ist erstmal unklar. Viele Prognosen über zu erwartende Klimafolgen und mögliche Lösungsmodelle für einen ökologischen Umbau der Gesellschaft beruhen zunächst auf Beobachtungen, Annahmen, Modellen und Theorien, die von wenigen Experten diskutiert und kritisch überprüft werden. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger kann diese jedoch inhaltlich nicht nachvollziehen. Sie haben daher nur die Wahl zwischen Vertrauen in das generierte Wissen oder Nicht-Glauben.
Es ist unvermeidlich, dass wissenschaftliche Expertisen und Prognosen bei einem so weitreichenden politischen Vorhaben umstritten sind. Denn darin spiegeln sich auch grundsätzliche Konflikte um Agenda-Setting, Prioritätensetzung und Kostenverteilung wider. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Problemdefinitionen und Lösungsvorschläge im expertokratischen Modus vorgebracht werden. Demokratische Willensbildung kann durch Expertise informiert werden, jedoch fußt sie auf der Annahme politischer Gleichheit und dem Prinzip, dass zwar nicht jedes Argument, aber doch jede Stimme den gleichen Wert hat. Wird dieses Prinzip durch eine expertokratische Politikbegründung ersetzt, provoziert dies insbesondere unter Bedingungen abnehmender output-Legitimation „demokratischen Widerstand“ (Selk/Kemmerzell/Radtke 2019).
Zugleich kommen, umgangssprachlich gesagt, die Einschläge näher: ungewohnt hohe Temperaturen, Extremwetterereignisse, Kahlschläge im heimischen Wald. Bei einer wachsenden Zahl von Menschen entsteht der Eindruck: so geht es tatsächlich nicht mehr lange weiter.
Damit ist fraglich, ob es eine überzeugende Antwort auf die wieder akut werdende soziale Frage als auch auf ökologische Risiken geben wird. Die Veränderungen der Rahmenbedingungen demokratischer Politik und die beginnende diskursive Absetzbewegung von der Idee der Demokratie lassen es zudem zweifelhaft erscheinen, ob die Demokratie eine lange Zukunft haben wird.
Freilich mangelt es nicht an Konzepten und programmatischen Ideen, wie die beiden Problemfelder – sozio-politische Kohäsion und Ökologie – gleichzeitig angegangen werden könnten. Die Makronom-Reihe, in der dieser Beitrag erscheint, geizt nicht mit Vorschlägen zur Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation. Allerdings stellt sich die Frage, wie solche anspruchsvollen Konzepte auf die politische Agenda kommen und welche machtvollen politischen Akteure für sie einstehen könnten.
Zudem scheint es so, als würden sich die beiden Themen (sozio-politische Kohäsion und Ökologie) in der politischen Lagerbildung stärker voneinander entkoppeln, und zwar anhand des Pols zwischen zwei, hier abschließend zugespitzt dargestellten Ansätzen: Einerseits einem retrogradem Populismus, der auf die gesellschaftliche Desintegration mit der forcierten Wiederherstellung der Vergangenheit antwortet; andererseits einer progressiven Expertokratie, die der ökologischen Transformation den Vorzug vor der Demokratie gibt.
Die Transformation des Rechtspopulismus in eine neofaschistische Bewegung ist möglich, aufgrund der Diskreditierung des Faschismus indes unwahrscheinlich. Eher wird es, auch hierzulande, zur pointierteren Ausbildung eines retrograden populistischen Profils der Wiederherstellung der „guten alten Zeit“ und der Reaktivierung altbundesrepublikanischer Ordnungsideen kommen, da die Zahl derjenigen wächst, die meinen: Es war nicht alles schlecht (in Bonn).
Hierbei ist insbesondere die Schärfung des sozialpolitischen Profils im Sinne eines Sozialkonservatismus zu erwarten. Manche rechtspopulistische Partei, die FPÖ zum Beispiel, verfügt zwar über ein vergleichsweise „grünes“ politisches Profil (zur Varianz Selk/Kemmerzell 2022), aber die ökologische Frage wird im hiesigen Rechtspopulismus entweder auf einen unbedeutenden Platz verwiesen oder im Rahmen einer nationalen Agenda zum „Heimatschutz“ beantwortet. Sollte sich hierzulande eine linkspopulistische Partei etablieren, würde sie die Ökologiefrage ebenfalls entweder weitgehend ignorieren oder aber umfunktionieren, und zwar in ein Vehikel zur Unterfütterung eines kommunitaristischen Politikprogramms. Nach dem Motto: Ohne Wiederherstellung starker Grenzen und Gemeinschaftsbindungen keine grüne Politik.
Sollte sich die eingangs umrissene Absetzbewegung von der Idee der Demokratie unter Progressiven fortsetzen, wird sich womöglich etwas Neuartiges herausbilden, was man als progressive Expertokratie bezeichnen kann.
Während Expertokratie in Deutschland lange Zeit für wirtschaftsliberale Programme genutzt worden ist, zeichnet sich nun in ersten Umrissen die Vermählung von Expertokratie mit dem Programm einer sich selbst als fortschrittlich beschreibenden Sozial-Ökologie ab. Aufgrund des Status und der Sozialisation ihrer Trägerschichten werden soziale Belange hierin allerdings auf einen untergeordneten Platz verwiesen. Das primäre Ziel ist die beschleunigte Transformation im Sinne eines durch den Anspruch auf überlegenes Wissen und Szenarien einer Klimakatastrophe begründeten Ökomodernismus. Während sich der Populismus auf die „vox populi“ beruft, ist die bevorzugte Legitimationsquelle hierfür die „vox scientifica“ (Zulianello/Ceccobelli 2020).
Dieser Ansatz wird nicht dem liberalen Modell ökologischer Modernisierung (Hajer 2021) folgen, dass auf das in Auflösung begriffene politische System pluralistisch-repräsentativer Demokratie zugeschnitten wurde. Die progressive Expertokratie reagiert ja gerade auf diese Auflösung bzw. ist ein Treiber der evolutionären Transformation des Systems in etwas Neues. Inhaltlich wird sie stärker auf eine Mischung aus gouvernementaler Steuerung, postdemokratischer Governance, Umverteilung nach oben und expertokratischer Willensbildung nebst illiberaler Meinungskontrolle setzen.
Zum Autor:
Veith Selk ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt und Senior Fellow am Point Alpha Research Institute in Geisa. Seine Forschungsfelder umfassen u.a. Demokratietheorie, Politische Theorie und Ideengeschichte. Er ist in dem von der VolkswagenStiftung geförderten Transferprojekt „Moralisierung, Emotionalisierung, Polarisierung. Ein bürgerwissenschaftliches Reallabor mit Alltagsexpert*innen“ tätig.