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"Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwachen", so Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung am 10. November 2009 in Berlin. Die Notwendigkeit von Wachstum ist ein gängiger Slogan, der von Wirtschaftswissenschaftler*innen und Politiker*innen immer wieder gern verwendet wird. Die Abhängigkeit vom Wirtschaftswachstum wird jedoch in Zeiten der massiven Überschreitung ökologischer Grenzen und zunehmender globaler Ungerechtigkeit immer mehr in Frage gestellt. In der Entwicklungszusammenarbeit wird seit mehr als 50 Jahren mit begrenztem Erfolg versucht, Ungleichheiten zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden mithilfe von Wirtschaftswachstum aufzulösen. Das Versprechen von Wohlstand durch Wirtschaftswachstum scheint hier nur begrenzt umsetzbar. Wachstumskritiker fragen deshalb: Ist wirtschaftliches Wachstum unverzichtbar für Wohlstand und (globale) Gerechtigkeit? Oder ist es im Gegenteil die Quelle globaler Ungleichheiten, der fortschreitenden Umweltkrise und eines möglichen wirtschaftlichen Niedergangs?
Wirtschaftswachstum in den Ländern des Globalen Nordens zu kritisieren ist eine Sache, aber was bedeutet Wachstumskritik für die Länder des Globalen Südens? Inwiefern ist die Frage nach Wachstum und Postwachstum für den Globalen Süden und die Entwicklungszusammenarbeit relevant? Mit drei Redner*innen aus dem Globalen Süden wurden diese Fragen im Seminar „Entwicklungszusammenarbeit in einer Postwachstums-Ära“ diskutiert.
Rajeswari S. Raina, Professorin am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Governance an der Shiv-Nadar-Universität (Dadri, Indien) betont: "Die indische Wirtschaft muss den Westen nicht einholen und die Fehler der entwickelten Länder wiederholen". Auch wenn die traditionellen Regeln und Institutionen der indischen Wirtschaft während der Kolonialherrschaft und später durch den Einfluss des kapitalistischen westlichen Wirtschaftsmodells in Teilen zerstört wurden, traditionell indische Formen wirtschaftlicher Aktivität sind nach wie vor präsent und in dem Land vorherrschend, wo 90% der Arbeit auf informelle Weise organisiert ist. Laut Raina basiere die indische Vorstellung von wirtschaftlicher Aktivität nicht auf Wachstum und externem oder finanziellem Kapital. „Kapital“ existiert vielmehr in vielfältiger Art und Weise. Wie im Fall der indischen Landwirtschaft: Hügel und Berge werden hier als Natur und als Quelle von Wasser betrachtet, aber nicht als Form von Kapital aus der sich wirtschaftliches Wachstum generieren lässt. Ein Pluriversum, das heißt vielfältige und vielgestaltige Formen des Lebens und der wirtschaftlichen Aktivitäten, sei bereits etabliert. Eine sozial gerechte und umweltfreundliche Wirtschaft sollte auf dezentralisierter Politik und direkter Demokratie basieren, insbesondere in einem so vielfältigen Land wie Indien.
Tonny Nowshin, kommt aus Bangladesch und ist heute in Deutschland Aktivistin innerhalb der degrowth- und Klimagerechtigkeitsbewegung. Ihrer Meinung nach sei es eher der „schlecht“ entwickelte Globale Norden, der sich wandeln müsse: „Der Globale Norden braucht degrowth, um die Narrative des absurden wachstumsbasierten Wirtschaftsmodell, das durch Kolonialisierung im Globalen Süden etabliert wurde, zu verändern“. Nowshin nennt die Annahme, dass jedes Land dieser Welt dem westlichen kapitalistischen Wirtschaftssystem folgen sollte "grundlegend falsch".
Roldan Muradian, Professor an der Universidade Federal Fluminense in Niterói, Brasilien, betrachtet die Konzepte Entwicklung und Postwachstum kritisch. Problematisch am Konzept Entwicklung sei, dass es durch den Kolonialismus etablierte Strukturen aufrechterhlte. Diese etablierten Strukturen werden außerdem durch die kapitalistische Wirtschaftsstruktur und die damit eng verknüpfte Entwicklungszusammenarbeit weitergeführt. Da die Konzepte Wachstum und damit auch Postwachstum westliche Konzepte sind, unterstützen sie nach Ansicht von Muradian, genauso wie das Konzept Entwicklung, die Aufrechterhaltung einer Unterteilung der Welt in Kategorien von "Helfenden“ und "Bedürftigen" einteilt. Muradian fordert deshalb einen Wandel der Narrative im globalen Kontext. Wachstum und westlicher Kapitalismus spielen seiner Meinung nach eine weit weniger große Rolle für den Globalen Süden als die, die ihnen beigemessen wird, da es, wie auch Raina bestätigt, bereits funktionierende Formen wirtschaftlicher Aktivitäten im Globalen Süden gibt, die nicht den kapitalistischen und wachstumsorientierten Modellen entsprechen. Da in Postwachstum auch das westliche Verständnis von Wachstum enthalten ist, sei es für den Globalen Süden ebenfalls nicht relevant. Der Globale Süden sei somit weder auf Wachstum noch auf Postwachstum angewiesen.
Während der interaktiven Diskussionen verbanden die Teilnehmer*innen die Beiträge der Redner*innen, Postwachstums-Konzepte sowie ihre eigenen Erfahrungen und Kenntnisse aus der Entwicklungszusammenarbeit, um Ideen für eine sinnvollere, gerechtere und nachhaltigere internationale Zusammenarbeit zu entwickeln. Es ist keine Überraschung, dass viele eine kritische Sichtweise gegenüber der Entwicklungszusammenarbeit in ihrer derzeitigen Form einnahmen. Die Frage, ob die Entwicklungszusammenarbeit in ihrer Gesamtheit in Frage gestellt werden sollte, oder ob es lediglich Veränderungen der bestehenden Strukturen bedürfe, wurde heiß diskutiert.
Dass man sich jedoch von gängigen Modellen und (staatlichen) Vorgaben lösen müsse, um die nötigen Veränderungen zur Einhaltung der „grundlegenden und breit anerkannten Prinzipien der intergenerationellen und globalen Gerechtigkeit“ (Umweltbundesamt 2018) zu wahren, wurde kaum infrage gestellt. Eine der in der Entwicklungszusammenarbeit tätigen Teilnehmerinnen äußerte sich wie folgt zu ihrer Arbeit: "Ich versuche, über die Schaffung einer gerechten globalen Wirtschaft in meiner Arbeit nachzudenken und stelle mir die Fragen: Ist mein Projekt in der Logik von jemandem, der aufholen muss? Oder liegt es in der Logik der Schaffung eines gerechten globalen Systems?“
Der Hauptausblick nach zwei Tagen voller Beiträge und lebhafter Online-Diskussionen war ein stärkerer Fokus auf lokale und regionale Bottom-up-Lösungen im Globalen Süden wie auch im Globalen Norden. Durch diese werden die Menschen in Gesellschaften überall auf der Welt befähigt, auf eigene Bedürfnisse angepasste Vorgehensweisen zu entwickeln und in Veränderungsprozesse einzubringen. Somit können eigenen Interessen verteidigt und umgesetzt werden. Im Gegensatz dazu dirigieren Top-Down Vorgehensweisen von außen vorgefertigte Einheitslösungen. Diese befriedigen häufig nicht die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger, sondern erfolgen eher zu Gunsten der ausführenden Organisationen und Unternehmen. Zur Herbeiführung der Veränderung anhaltender Machtstrukturen und politischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen wurden der Einsatz von kleinen Initiativen und allgemeines politisches Engagement als notwendig herausgestellt. Vorschläge für konkrete Lösungsansätze beinhalteten zum Beispiel die Einführung von nachfrageorientierter Entwicklungszusammenarbeit durch Einrichtungen, die Unterstützung nur bei Bedarf und Nachfrage bieten. Die Einführung von Frugal innovations (Frugale Innovationen), um Abhängigkeiten zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden aufzulösen, wurde als ein weiteres Lösungskonzept zur Reduzierung von Wachstums- und globalen Abhängigkeiten genannt. Die Frugale Innovation bricht mit dem Wachstums Paradigma nach dem Slogan „immer mehr, immer besser“ und stellt stattdessen einfache und anwendungsorientierte Lösungen bereit.
Auch wenn die Anwendung von Postwachstumskonzepten in der Entwicklungszusammenarbeit komplex und sicherlich keine einfache Aufgabe ist, bietet sie alternative und fortschrittliche Lösungen und hat das Potenzial, neue Arbeitsweisen und Methoden innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit zu gestalten.
Ulla Puckhaber studiert Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig und International Development Studies an der Universität Grenoble Alpes/Frankreich. Tanja Brumbauer ist Ökonomin, war Mitinitiatorin des Arbeitskreises „Plurale Ökonomik“ an der Universität Bayreuth und beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Rolle von Bottom-Up-Initiativen in Prozessen des sozial-ökologischen Wandels. Beide arbeiten bei NELA – Next Economy Lab. Die Organisation beschäftigt sich mit der Entwicklung und Umsetzung regionaler, klimafreundlicher und wachstumsunabhängiger und somit transformativer Wirtschaftsmodelle.
Das Seminar wurde organisiert von NELA – Next Economy Lab. Eine Folgeveranstaltung ist für dieses Jahr bereits geplant.
Gefördert durch ENGAGEMENT GLOBAL mit Mitteln des
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