Es ist immer noch zweifelhaft, ob Ökonom*innen mit ihrem Instrumentarium die nächste Wirtschaftskrise vorhersagen können.
Als erster Grund ist dafür der nicht-systemische Status von Krisen in Mainstream-Theorien zu nennen. Zweifelsohne entwickeln empirisch arbeitende Makroökonomen Warn-Indikatoren für Finanzkrisen (Schularick und Taylor 2012), es gibt auch makroökonomsiche Modelle, die Krisendynamiken aufgreifen (Kumhof et al. 2015) und Debatten im Mainstream der VWL über den richtigen Umgang mit der Mathematik (Romer ABC). Ob sich damit die Prognosen verbessert haben, ist offen und ebenso zu diskutieren, ob Prognosen allein der richtige Maßstab für die Bewertung von Ökonom*innen sind. Offenkundig erheben Ökonom*innen oft den Anspruch gute Prognosen zu geben, was auf einen berühmten Aufsatz von Milton Friedman (1953) zurückgeht. Friedman erklärt darin die Prognosefähigkeit als oberstes Gütekriterium für ökonomische Modelle - unabhängig vom Realismus der Annahmen. Gleichzeitig ist es aber nicht nur wichtig, gute Prognosen zu liefern, sondern auch gute Erklärungen dafür zu haben, andernfalls ist quasi jede Prognose möglich und es finden sich ex-post immer Prognosen, die stimmen. Wichtiger scheint da, systemisch Krisen in Modelle einzubauen und so theoretisches Wissen über Mechanismen dazu auszubauen. Solange Gleichgewichtsmodelle in makroökonomischen Theorien dominieren, scheint dies schwierig zu sein, wie bereits Hyman Minsky (ABC) früh bemerkte. Stattdessen, so sein Vorschlag, sollen Krisen in Modellen endogen entstehen können, andernfalls sei es keine kapitalistische Ökonomik. Dies scheint für die Modelltheorie des Mainstream, wenn überhaupt, nur durch exogen eingeführte Tricks möglich und bleibt auf einzelne Blasen oder eine Nullzinspolitik begrenzt. Systemische Krisen werden ignoriert.
Eine zweite Erklärung setzt an den institutionellen Faktoren an, die schnelle Veränderungen erschweren: Die VWL, weil sie gesellschaftlich äußerst relevante und auch umkämpfte Themen und Fragen bearbeitet, hat sowohl einen großen Rückhalt bei ehemaligen Studierenden in vielen gesellschaftlichen und politischen Positionen als auch in der Politik, wo viele Wirtschaftswissenschaftler*innen beratend tätig sind. Insofern spielen auch die Querverbindungen zwischen Wissenschaft und Politik eine Rolle. So ist die US-amerikanische Notenbank FED einer der größten Arbeitgeber*innen für Makroökonom*innen (Mirowski 2015). Solange dort nicht die üblichen DSGE-Modellen hinterfragt werden, ist es nicht zu erwarten, dass sich große theoretische Änderungen durchsetzen werden. Diese Querverbindungen gehen einher mit zusätzlicher politischer Macht, führen aber auch dazu, dass eine größere Stabilität des Wissensgebäudes bevorzugt und mitproduziert wird.
Drittens gibt es wissenschaftstheoretische Gründe: Die Wirtschafts- und Finanzkrise kann als externer Faktor angesehen werden, der eine Wissenschaft, die in sich zu funktionieren schien, von außen erschüttert. Üblicherweise brauchen solche Krisen innerhalb der Wissenschaft eine gewisse Zeit, ehe herrschende Paradigmen aufgebrochen werden. Für die Stabilität des herrschenden Paradigmas, vor allem in der Makroökonomie, spricht auch die Vergabepraxis für den „Preis der Schwedischen Reichsbank in Wirtschaftswissenschaft zur Erinnerung an Alfred Nobel“. Dieser wurde auch nach der Krise an Vertreter der rational expectations Schule vergeben. Eine Stabilität des Mainstreams bescheinigt auch eine Analyse über VWL-Professor*innen in Deutschland (Grimm et al. 2017). Thomas Kuhns (1962) Überlegungen zu wissenschaftlichen Revolutionen helfen beim Verstehen: Wissenschaften stabilisieren sich in bestimmten Sichtweisen (Paradigmen), die sie für anderes, für Probleme außerhalb dieser Sichtweise, blind machen. Hinzu kommt, dass jene, die die Paradigmen vertreten, häufig ihre Karriere auf diesen herrschenden Paradigmen aufbauen und damit auch persönlich angegriffen sind wenn das Paradigma in Frage gestellt wird. Daher sind es, nach Kuhns Beobachtungen tendenziell jüngere Wissenschaftler*innen, die Veränderungen gegenüber aufgeschlossen sind und diese in die Wissenschaft hineintragen.
All das ist deswegen problematisch für den Mainstream der VWL, weil diese über die Prognosefähigkeit viel öffentliche Reputation bezieht. So belegen Ökonom*innen die Relevanz ihrer Modelle gerne dadurch, dass diese Aussagen über ökonomische Zusammenhänge erlauben ohne auf den zeitlichen Rahmen historischer Daten beschränkt zu sein und damit zukünftige Ereignisse vorhersagen zu können. Während die empirische Ökonomin oder gar der qualitativ arbeitende Historiker also nur vergangenes analysieren, bildet beispielsweise ein modernes DSGE-Modell in der Makroökonomik angeblich zeitlose Zusammenhänge ab. Selbst wenn, wie momentan modern, eine spezielle Zinsstruktur wie der zero lower bound angenommen wird, bleiben die Aussagen absolut. Diese Rechtfertigung impliziert natürlich eine ordentliche Bringschuld: Wenn dieses Modell von der Realität nicht bestätigt wird, ist es für andere Politikfelder, in denen die VWL beraten möchte, auch nicht brauchbar. Eine weit verbreitete Kritik an Ökonom*innen nach 2008 hob daher nicht von ungefähr die schlechte Prognosefähigkeit gängiger Modelle hervor. Nur wenige Ökonom*innen (wie z.B. Shiller und Rajan im Mainstream oder Keen aus dem heterodoxen Lager) warnten vor der Krise. Ökonom*innen mussten sich die Frage gefallen lassen, wieso Modell, welche die größte Wirtschafts- und Finanzkrise seit dem zweiten Weltkrieg nicht vorhersagen konnten, überhaupt noch ernst genommen werden sollten. Wie sollte man diesen Modellen dann in anderen Bereichen, wie der Regulierung von Mindestlöhnen oder der Bankenregulierung vertrauen? Die Frage nach der Prognosefähigkeit steht also im Zentrum der Rechtfertigung des, verglichen mit anderen Sozialwissenschaften, hohen Ansehens von Ökonom*innen in der öffentlichen Debatte.
Die Stickeraktion wurde von der Gruppe Was ist Ökonomie? initiiert und für das Netzwerk Plurale Ökonomik erstellt. Vielen Dank für die finanzielle Unterstützung des Projekts an das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung.
1. Wann kommt die nächste Krise, Herr Professor*?
2. Grenzenloses Kapital? Grenzenlose Arbeit? Grenzenlose Freiheit?
3. Markt United vs. FC Staat: Wer gewinnt?
5. Ein Ökonom kommt in eine Krise: Was tut er?
6. Mit neuem Nationalismus aus der Wirtschaftskrise?
7. Mit Green Growth die Welt retten?
9. Hat Griechenland Schuld(en)?
10. Wie viele Theorieschulen gibt es eigentlich in der VWL?
11. Werde ich durch das VWL Studium egoistischer?
12. Ist der repräsentative Agent männlich oder weiblich?
13. Was ist mit ökonomischen Inhalten, die nicht in Matheformeln passen?
14. Wieso sehen meine VWL-Professor*innen auch dort Gleichgewichte, wo keine sind?
15. Hat Geld wirklich keinen Einfluss auf die reale Wirtschaft?
16. Wieso nimmt mein VWL-Professor andere Sozialwissenschaften nicht ernst?
17. Wie funktionieren eigentlich andere Wirtschaftssysteme?
18. Warum sind meine VWL-Professoren fast nur männlich?
19. Wieso kennen meine VWL-Modelle keine Geschichte?
20. Studiere ich VWL oder Neoklassik?
Friedman, Milton (1953) Essays in Positive Economics. University of Chicago Press, Chicago [IL].
Grimm, Christian, Jakob Kapeller und Stephan Pühringer (2017) Zum Profil der deutschsprachigen Volkswirtschaftslehre. Paradigmatische Ausrichtung und politische Orientierung deutschsprachiger Ökonom_innen. Forschungsinstitut für Gesellschaftliche Weiterentwicklung: Düsseldorf.
Kuhn, Thomas (1962). The Structure of Scientific Revolutions. University of Chicago Press, Chicago [IL].
Kumhof, Michael, Romain Rancière und Pablo Winant (2015) Inequality, Leverage, and Crisis. American Economic Review 105(3), 1217-1245
Mirowski, Philip (2015) Never Let a Serious Crisis go to Waste: How Neoliberalism Survived the Financial Meltdown. Verso, London.
Romer, Paul (2015) Mathiness in the Theory of Economic Growth. American Economic Review: Papers and Proceedings 105(5), 89-93.
Schularick, Moritz und Alan Taylor (2012) Credit Booms Gone Bust: Monetary Policy, Leverage Cycles, and Financial Crises, 1870-2008. American Economic Review 102 (2), 1029-1061.