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Karen Pittel
Erstveröffentlichung im Makronom
Strategien wie Planetary Health und One Health haben ein großes Potenzial, zur Bewältigung der Gesundheitskrise beizutragen. Allerdings gilt es, dies auch zu nutzen – und hier besteht nach wie vor großer Handlungsbedarf. Ein Beitrag von Karen Pittel.
Unsere Gesellschaft befindet sich inmitten eines tiefgreifenden Transformationsprozesses. Im Zentrum: die Wirtschaft. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob uns der Wandel by disaster passiert oder uns by design gelingt. Die Debattenreihe Economists for Future widmet sich den damit verbundenen ökonomischen Herausforderungen. Sie beleuchten einerseits kritisch-konstruktiv Engführungen in den Wirtschaftswissenschaften sowie Leerstellen der aktuellen Wirtschaftspolitik. Andererseits diskutieren wir Orientierungspunkte für eine zukunftsfähige Wirtschaft und setzen Impulse für eine plurale Ökonomik, in der sich angemessen mit sozial-ökologischen Notwendigkeiten auseinandergesetzt wird.
Die aktuelle Debatte um Gesundheitspolitik betrifft wichtige Fragen der zukünftigen Versorgung und Finanzierung unseres Gesundheitssystems. Sie findet allerdings primär mit dem traditionellen Fokus auf der Behandlung von Krankheiten statt. Für die Zukunft braucht es dringend ein erweitertes Verständnis von Gesundheitspolitik. Dieses sollte verstärkt als komplementäre Ansätze die Prävention und Stärkung von Widerstandsfähigkeit und Entwicklungspotenzialen in einem ganzheitlichen gesundheitspolitischen Ansatz verbinden. Dieser muss explizit die sich ändernden Herausforderungen vor dem Hintergrund einer immer stärkeren Übernutzung unserer natürlichen Lebensgrundlagen einbeziehen.
Die Entwicklung der letzten Jahrhunderte in zivilisatorischer, technischer und wirtschaftlicher Hinsicht hat zu beachtlichen Verbesserungen des Lebensstandards und damit auch der Gesundheitsversorgung geführt. Doch diesen Verbesserungen stehen mehr und mehr menschengemachte Krisen gegenüber. Hitzewellen, Dürren, Flutkatastrophen aber auch die COVID19-Pandemie machen die Gefahren der Übernutzung unserer natürlichen Lebensgrundlagen immer deutlicher. Klimawandel, die Verringerung der Artenvielfalt und globale Umweltverschmutzung gefährden die Gesundheit von Ökosystemen und des Menschen weltweit.
Um nur ein paar besorgniserregende Zahlen zu nennen: Die hitzebedingte Sterblichkeit bei älteren Menschen stieg in den letzten 20 Jahren um fast 70% (Romanello et al. 2022). Allein im Hitzesommer 2022 gab es in Europa 100.000 zusätzliche Todesfälle (Rahmstorf, 2022). Global hängen 5 Millionen Todesfälle pro Jahr mit antimikrobiellen Resistenzen zusammen (Murray et al., 2022) und mindestens 9 Millionen vorzeitige Todesfälle pro Jahr sind auf Umweltverschmutzung zurückzuführen (Fuller et al., 2022). Zur gleichen Zeit nehmen Zivilisationskrankheiten massiv zu: Inzwischen sterben allein 17 Millionen Menschen im Alter von 30 bis 70 jährlich an nicht übertragbaren Krankheiten (WHO, 2020), viele von ihnen an lebensstilbedingten Faktoren (u.a. ungesunde Ernährung, mangelnde Bewegung, Stress). Diese Entwicklungen sind nicht beschränkt auf einige Regionen, sie sind weltweit und in allen Einkommensgruppen zu beobachten.
Die genannten Zahlen zeigen bereits deutlich, dass ein Verständnis von Gesundheit und Gesundheitspolitik, welches sich nur auf die akute Bekämpfung von Krankheiten beschränkt, zu kurz greift. Um die Ursachen für viele Krankheitslasten zu erfassen, muss breiter gedacht und gehandelt werden. Gesundheit ist Teil des gesamten Umwelt-Gesundheits-Wirtschaftskomplexes. Trotzdem ist die Wahrnehmung in Gesellschaft und Politik häufig nicht, dass Landwirtschaftspolitik, Verkehrspolitik und Energiepolitik – um nur einige Beispiele zu nennen – gleichzeitig auch Gesundheitspolitik sind. Hier braucht es dringend ein Umdenken hin zu einer systemischen Herangehensweise, die gesundheitliche Belange in allen Ressorts und auf allen Ebenen mitdenkt – also einen „Health in all Policies“ Ansatz.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) hat dieses Thema in seinem Hauptgutachten „Gesund leben auf einer gesunden Erde“ aufgegriffen und dabei die Untrennbarkeit der Gesundheit von Mensch und Natur in den Mittelpunkt gestellt (WBGU 2023). Inspiriert wird die darin geführte Diskussion um dringende Anpassungen des Verständnisses von Gesundheit von integrativen und transdisziplinären Gesundheitskonzepte wie One Health und Planetary Health, die in den letzten Jahren verstärkt an Bedeutung gewonnen haben. Diese Gesundheitskonzepte führen nicht nur in der Gesundheitscommunity zu einem neuen Verständnis des Zusammenhangs von Gesundheit und globalen Umweltveränderungen, sie bereichern auch die internationale Debatte um nachhaltige Entwicklung.
Beide Konzepte prägen die wissenschaftliche und auch politische Diskussion um Gesundheit und Umweltveränderungen der letzten Jahre. One Health kann dabei auf eine etwas längere Geschichte zurückblicken. Beide Konzepte weisen deutliche Überschneidungen auf. Das One Health-Konzept betont die Wechselwirkungen zwischen der Gesundheit von Mensch und Tier aus biomedizinischer Sicht. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Kontrolle von Infektionskrankheiten und Antibiotikaresistenzen sowie auf dem allgemeinen Umgang mit Gesundheitsgefahren für Mensch und Tier. Planetare Gesundheit fokussiert auf das gesamte Erdsystem und die Biosphäre. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Zusammenhängen zwischen der menschlichen Gesundheit und den natürlichen Systemen der Erde sowie den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Systemen.
Während früher ökologische Determinanten in der Regel nur als externe Faktoren verstanden wurden, die die menschliche Gesundheit beeinflussen, verstehen integrative und transdisziplinäre Gesundheitskonzepte die menschliche Gesundheit als eng mit intakten natürlichen Ressourcen und der Gesundheit anderer Lebewesen und Ökosysteme verbunden.
Trotz ihrer Unterschiede sind beide Konzepte äußerst wertvoll für die zukünftige Debatte über Reformen der Gesundheitspolitik. Gleichzeitig bergen konkurrierende Konzepte die Gefahr, den inhaltlichen Fokus aus den Augen zu verlieren. Dies gilt umso mehr, als dass es eine ganze Reihe weiterer Konzepte gibt, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen und teils aus unterschiedlichen disziplinären Hintergründen entstanden sind (z.B. GeoHealth und EcoHealth). Aus diesem Grund schließt sich der WBGU in seinem Gutachten keinem der Konzepte an, sondern spricht von der Vision eines „gesunden Lebens auf einem gesunden Planeten“. Diese Vision umfasst, dass die Verbesserung der menschlichen Gesundheit nur durch die Verbesserung vieler weiterer Nachhaltigkeitsdimensionen realisiert werden kann. Ihre Verwirklichung ist deshalb ohne eine umfassende Transformation zur Nachhaltigkeit nicht denkbar.
Die Vision des WBGU, aber auch von Planetary Health und One Health ergänzen damit das Leitbild nachhaltiger Entwicklung, wie es sich in verschiedenen internationalen Konventionen und Zielen wiederfindet (Rio-Konventionen, Pariser Abkommen, Sustainable Development Goals SDGs, etc.). Den Beitrag der neuen Gesundheitskonzepte darauf zu reduzieren, würde allerdings zu kurz greifen.
Ihr vielleicht wichtigster Beitrag liegt in der Zugänglichkeit der Thematik Gesundheit und ihres Zusammenhangs mit der natürlichen Umgebung für jede*n Einzelne*n. So ist die Debatte um nachhaltige Entwicklung auf individueller Ebene lange mehr oder minder als abstrakt wahrgenommen worden, obwohl sie bereits seit den 90er Jahren intensiv in Wissenschaft und schließlich auch Politik und Gesellschaft geführt wurde. Die SDGs haben zwar geholfen, diese Abstraktheit durch die Formulierung konkreter Ziele zu reduzieren. Auch hat die Vielfältigkeit der im Rahmen der SDGs adressierten Aspekte dazu beigetragen, dass Nachhaltigkeit als mehr als Klimawandel und lokale Umweltverschmutzung wahrgenommen wird. Insofern waren die SDGs ein wichtiger Schritt, nachhaltige Entwicklung stärker im Bewusstsein der Menschen zu verankern. Trotzdem werden die SDGs häufig, gerade in Hocheinkommensländern, nicht als direkt relevant für das eigene Leben angesehen.
Demgegenüber sind gesundheitsrelevante Folgen der Eingriffe des Menschen in die Natur für Jede*n direkt und im eigenen Umfeld spürbar. Die bereits angesprochenen Hitzewellen, Trockenperioden und Flutkatastrophen beschränken sich nicht auf andere Länder. Sie sind direkt vor Ort beobachtbar und ihre Häufigkeit steigt. Auch die Diskussion um die COVID-19-Pandemie hat das Bewusstsein für die Folgen der Wechselwirkung zwischen Umwelt und Mensch geschärft und verdeutlicht, was auch die Wissenschaft bestätigt (Wu, 2021; Gibb et al., 2020): Das Risiko von Pandemien wird von Eingriffen des Menschen in die Natur gefördert.
Was lange primär als Prognosen und Szenarien der Wissenschaft wahrgenommen wurde, nimmt nun direkt vor der eigenen Haustür Gestalt an. Angesichts der existenziellen Bedeutung von Gesundheit ist die Aufmerksamkeit, die das Thema derzeit erfährt, eine einmalige Chance, die Transformation in Richtung Nachhaltigkeit voranzutreiben. Planetary Health und One Health können dabei eine wichtige Rolle einnehmen.
Häufig wird der ökonomische Blick auf Klimawandel, Biodiversitätsschutz und Umweltverschmutzung mit einer gewissen Skepsis gesehen. Dies gilt für die Öffentlichkeit ebenso wie für andere wissenschaftliche Disziplinen. Die „Ökonomisierung“ der Übernutzung unserer natürlichen Lebensgrundlagen wird dabei nicht als Chance, sondern als Bedrohung angesehen.
Wie häufig im Leben enthalten beide Sichtweisen einen Anteil Wahrheit. Kaum ein*e Ökonom*in wird bestreiten, dass der Versuch, die Vielfalt von Ökosystemleistungen monetär zu quantifizieren, nicht alle Folgen der Eingriffe des Menschen abbilden kann. Und selbst hinsichtlich der Folgen, die im Rahmen wissenschaftlicher Studien quantifiziert werden, gibt es beträchtliche Unsicherheiten. Trotzdem können die Schätzungen im politischen Diskurs über Planetary Health und One Health hilfreich sein, um auch die Politik von der Sinnhaftigkeit von Maßnahmen zu überzeugen. Nur ein paar Beispiele:
Die Kosten nicht übertragbarer Krankheiten werden in den Jahren 2011-2030 global schätzungsweise 30 Billionen US-Dollar betragen (Bloom et al., 2011). Diese Kosten könnten durch eine Reihe von Politikmaßnahmen massiv gesenkt werden. Dies betrifft im Grunde alle Lebensbereiche des Menschen, von der Ernährung bis hin zur Organisation von Arbeit, aber auch die Gesundheitssysteme selbst.
Eine stärkere Fokussierung auf Prävention und Gesundheitsförderung beispielsweise würde gerade für ärmere Länder massive Vorteile bringen (WHO, 2022b). So würden zusätzliche Investitionen von 18 Milliarden US-Dollar pro Jahr nach Watkins et al. (2022) in allen Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zusammengenommen einen wirtschaftlichen Nettonutzen von 2,7 Billionen US-Dollar bis zum Ende dieses Jahrzehnts generieren.
Allerdings steht nicht nur in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen die direkte Bekämpfung von Krankheiten, und nicht die Prävention und Gesundheitsförderung im Mittelpunkt des gesundheitspolitischen Interesses. Laut OECD (2021) machen die Ausgaben für Prävention in den OECD-Ländern bisher nur 2,7% der Gesamtausgaben in den Gesundheitssystemen aus. Auch in Deutschland manifestiert sich in den heutigen Vergütungssystemen für Gesundheitsleistungen, dass Prävention nicht im Fokus steht. Entsprechend ist die Vergütung von Beratungstätigkeiten und Gesprächen zur Gesundheitsförderung und Prävention relativ gering (Osterloh, 2022), während der Fokus auf kurative Maßnahmen zu Über-, Unter- und Fehlversorgung führt, die den Kostendruck weiter erhöhen (Bundesärztekammer, 2022).
Gesundheitssysteme generieren zudem auch selber Umweltverschmutzung und (ver)brauchen eine Vielzahl an Ressourcen. Energie- und Wasserverbrauch, medizinische Abfälle und der Einsatz toxischer Chemikalien gefährden die Gesundheit des Planeten mit entsprechenden gesundheitlichen Konsequenzen für den Menschen.
Prävention und Gesundheitsförderung gehen aber weit über den Gesundheitssektor hinaus und umfassen Verhaltens- ebenso wie Verhältnisprävention. Maßnahmen, die darauf zielen, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen, fallen dabei unter Verhaltensprävention (z. B. Aufklärungsmaßnahmen und Gesundheitsbildung), während das Adressieren der Lebensverhältnisse und Kontexte (z. B. Umweltschutzmaßnahmen, Arbeitsschutz, Sozialstandards) unter Verhältnisprävention subsumiert wird. Nur beide Präventionsarten zusammen können eine nachhaltige und ökonomisch effiziente Strategie im Kontext der Gesundheitsförderung darstellen.
Studien zeigen beispielsweise die große Hebelwirkung, die von Verhaltens- ebenso wie Verhältnisprävention im Bereich menschlicher Mobilität ausgehen kann. Die WHO schätzt, dass körperliche Inaktivität und Bewegungsmangel global zu Kosten für das Gesundheitssystem von 27 Milliarden US-Dollar pro Jahr führen (WHO, 2022a). Für den Lebensmittelbereich wiederum werden externalisierte Gesundheitskosten von 11 Billionen US-Dollar geschätzt (Hendriks et al. 2021). Im Vergleich dazu wird der Marktwert der produzierten Lebensmittel mit 9 Billionen US-Dollar angegeben.
Für Verhaltens- und Verhältnisprävention gilt gleichermaßen, dass uns häufig nicht das Wissen darüber fehlt, wie diese umgesetzt werden könnte. Ein stärkeres Bewusstsein über die entstehenden Kosten sowohl auf gesamtwirtschaftlicher als auch individueller Ebene kann helfen, die Hindernisse bei ihrer Implementation zu überwinden.
Planetary Health und One Health haben ein großes Potenzial, zur Bewältigung der Gesundheitskrise beizutragen, mit der Mensch und Natur konfrontiert sind. Die Strategie der Bundesregierung zur globalen Gesundheit aus dem Jahr 2020 und die Global Health-Strategie der EU aus dem Jahr 2022 zeigen, dass dies auch auf politischer Ebene wahrgenommen wird. Selbst bei der UN-Klimakonferenz im Jahr 2023 gab es erstmals einen Gesundheitsfokus. Allerdings gilt es das transformative Potential dieser Ansätze durch entsprechende Kommunikation und durch Bildungs- und Forschungsinitiativen sowohl bei uns als auch global zu fördern. Hier besteht nach wie vor großer Handlungsbedarf.
Zur Autorin:
Karen Pittel leitet das ifo Zentrum für Energie, Klima und Ressourcen und ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der LMU München. Sie ist Co-Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen WBGU, Mitglied des Bayerischen Klimarats und des Direktoriums des Akademienprojekts „Energiesysteme der Zukunft“. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Energie- und Klimaökonomie mit Schwerpunkt auf effizienter und effektiver Klima- und Energiepolitik.