Wir brauchen eine kritische Wirtschaftswissenschaft - mehr denn je! Mit Exploring Economics stärken wir alternative ökonomische Ansätze und setzen der Mainstream-VWL ein kritisches und plurales Verständnis von ökonomischer Bildung entgegen. Außerdem liefern wir Hintergrundanalysen zu akuellen ökonomischen Debatten, um einen kritischen Wirtschaftsdiskurs zu stärken.
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Julian Becker, Till van Treeck
Ziel des Projektes war, ein offenes Online-Lehr- und Lernmittel für die Bearbeitung des Inhaltsfeldes Wirtschaftspolitik (Sek. II) zu schaffen.
Es ist eine Antwort auf eine doppelte Herausforderung: auf die teilweise vorhandenen Defizite von Unterrichtsmaterialien aus dem Internet und auf das geringe Angebot an freien Materialien für die ökonomisch-politische Bildung.
Es wird die Vielfalt der ökonomischen Perspektiven betont und die Debatte um den Pluralismus in der Volkswirtschaftslehre fruchtbar gemacht.
Die Inhalte stehen unter CC-Lizenzen und erlauben damit die leichte Nutzung, Bearbeitung und Weitergabe.
Ein wichtiger Bestandteil sind interaktive Anwendungen, die mit H5P und Geogebra veröffentlicht werden.
Durch das Internet und die Digitalisierung haben sich Angebot, Beschaffung und Einsatzmöglichkeiten von schulischen Lehr- und Lernmitteln[1] erheblich gewandelt. Dieser Wandel betrifft sowohl formelle als auch inhaltliche Aspekte. Er ist auch und gerade im Bereich der sozialwissenschaftlichen Bildung vordringlich, da diese seit jeher ein ideologisch umkämpftes Feld darstellt.
So hat sich in den vergangenen Jahren ein breites Anbieterfeld entwickelt, auf dem Unterrichtsmaterialien für die ökonomisch-politische Bildung kostenlos im Internet offeriert werden. Unternehmen, Verbände, Stiftungen, Vereine, Ministerien, Zeitungen, Verlage, NGOs – sie alle sind Mitspieler auf diesem Feld. Dabei sind erhebliche Qualitätsunterschiede festzustellen: Neben guten, inhaltlich ausgewogenen und am Gebot der Kontroversität orientierten Materialien gibt es auch Negativbeispiele. In diesen wird nicht die Vielfalt der Positionen und Argumente in wissenschaftlich-politischen Debatten abgebildet, sondern sie sind durch die Verzerrung einzelner Perspektiven und Positionen der Wirtschaftsforschung oder durch die Interessen ihrer Anbieter geprägt.
Hinzu kommt: Der überwiegende Teil der Online-Materialien für die ökonomisch-politische Bildung wird zwar kostenlos zur Verfügung gestellt, ist aber nicht frei im Sinne des Konzepts freier Unterrichtsmaterialien[2]. Damit wird der Mehrwert, den digitale Materialien den Lehrenden und Lernenden aufgrund ihrer geringeren Kosten, leichteren Bearbeitbarkeit und einfacheren Weitergabemöglichkeiten bieten, entweder eingeschränkt oder erst nach einer Urheberrechtsverletzung durch die Nutzer_innen realisierbar. Die zunehmende Digitalisierung von Unterrichtsmaterialien, so formulieren es Heimstädt und Dobusch, „verstärkt ein etabliertes System aus Rechtsunsicherheit und Umgehungskreativität seitens der Lehrer_innen (…).“[3]
Während für andere Fächer – beispielsweise Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte – bereits eigene Online-Portale mit freien Unterrichtsmaterialien existieren, gibt es für den Bereich der ökonomisch-politischen Bildung eine solche eigene Plattform noch nicht. Freie Materialien – wenn überhaupt vorhanden - müssen aus verstreuten Quellen im Netz zusammengetragen werden. Eine Ausnahme ist hier die Bundeszentrale für politische Bildung, die ihr Angebot an offenen Materialien ausbaut, dabei allerdings manchmal noch auf eher restriktive Lizenzen, also eine beschränkte Nutzungserlaubnis zurückgreift.
Abb 1: Ansicht des Dashboards zur Seitennavigation (Screenshot)
Diese Beobachtungen bildeten den Ausgangspunkt für das Ziel, ein neues digitales Online-Lehrmittel zu konzipieren und umzusetzen. Dabei wird auf inhaltlicher Seite unter Rückgriff auf die Debatte um den (Mangel an) Pluralismus in der Volkswirtschaftslehre und die Einseitigkeit in den wirtschaftspolitischen Handlungsempfehlungen ein besonderer Schwerpunkt auf die Vielfalt der ökonomischen Perspektiven und die Kontroversität wirtschaftspolitischer Debatten gelegt: Welche Ziele sollte die Wirtschaftspolitik heutzutage verfolgen? Sind die Zeiten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als dominante Maßzahl vorüber? Wie kann die Arbeitslosigkeit in Europa bekämpft werden? Wie unabhängig und wertfrei ist die Volkswirtschaftslehre? Was waren die Ursachen der letzten großen Finanz- und Wirtschaftskrise? Wie ist die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) in den vergangenen Jahren zu bewerten? Wie kann die Eurozone weiterentwickelt werden? Sind außenwirtschaftliche Ungleichgewichte ein Problem? Wenn ja, wie lassen sie sich bekämpfen? Diese und weitere Fragen werden kontrovers diskutiert, zum Beispiel unter Rückgriff auf die unterschiedlichen volkswirtschaftlichen Perspektiven der Neoklassik, des (Post-)Keynesianismus, des Ordoliberalismus, der feministischen Ökonomik oder der marxistischen politischen Ökonomie.
Darüber hinaus werden im Online-Lehrmittel weitere Schwachstellen existierender Unterrichtsmaterialien angegangen, die in anderen FGW-Studien thematisiert wurden: So zeigen Hedtke[4] und Hedtke et al.[5], dass in didaktischen Konzepten, Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien oft eine mikroökonomische Schlagseite festzustellen ist, während Perspektiven der Makroökonomik und der Politischen Ökonomie eher vernachlässigt werden – und das, obgleich doch die Makroökonomik als das „unbestreitbare Proprium der Volkswirtschaftslehre“ (R. Hedtke) verstanden werden kann (mit Proprium ist das spezifische Merkmal gemeint). Dem setzen wir eine Orientierung an volkswirtschaftlichen Aggregaten (bzw. volkswirtschaftlichen Summierungen mikroökonomischer Größen wie z. B. Bruttoinlandsprodukt), Kreislaufzusammenhängen und saldenmechanischen Beziehungen entgegen. Aus unserer Sicht haben diese Konzepte – werden sie mit einer einheitlichen Terminologie verwendet – das Zeug dazu, als eine Art Vokabular zu fungieren, mit dem wirtschaftspolitische Kontroversen systematisch erschlossen und multiperspektivisch diskutiert werden können. Ein weiteres Defizit, das angegangen wird, ist die oftmals fehlende Berücksichtigung wirtschafts- und ideengeschichtlicher Sichtweisen.
In formeller Hinsicht kommen verschiedene Varianten der Creative-Commons-(CC-)Lizenzen zum Einsatz. Nicht immer kann dabei ein vollständiger Grad an Offenheit (CC-BY, CC-BY-SA) gewährleistet werden, weil an verschiedenen Stellen auf die Vorgaben von externen Urheberrechtsinhaber_innen Rücksicht genommen werden muss. Aber: Die zahlreichen, eigens für das Lehrmittel erstellten Materialien werden alle unter wirklich freien CC-Lizenzen publiziert.
Neben Texten, Abbildungen, Diagrammen und eingebundenen Videos spielen interaktive Anwendungen eine Hauptrolle in unserem Lehrmittel. Einerseits ist auch hier das Angebot bereits recht groß: Im Netz werden verschiedene Varianten von Lehrspielen, Simulationen oder kleineren interaktiven Anwendungen zur Verfügung gestellt, in denen Schüler_innen zum Beispiel in die Rolle der EZB schlüpfen oder ihr Wissen in Quizzes testen können. Andererseits ist jedoch festzustellen: Diese Anwendungen sind meist nicht offen und können daher von den Lehrkräften nicht an die Bedürfnisse und Voraussetzungen ihrer Lerngruppe angepasst und dann modifiziert weitergegeben werden. Wir setzen deshalb ausschließlich auf die Programme H5P und Geogebra, mit denen interaktive Anwendungen von sehr unterschiedlichem Komplexitätsgrad erstellt werden, die von den Nutzer_innen mit wenig Aufwand verändert und veröffentlicht werden können.
Wir sammeln Artikel, Videos und Lernmaterialien und machen sie öffentlich zugänglich. Dafür sind wir auf Unterstützung angewiesen.
H5P bietet dabei die Möglichkeit, aus einer großen Menge von Inhaltstypen zu wählen, aus der ohne große Vorkenntnisse eigene Anwendungen entwickelt werden können, beispielsweise Quiz, Zuordnungsaufgaben, interaktive Präsentationen und Abbildungen, Lückentexte, interaktive Videos, Zuordnungsspiele oder Zeitleisten. Es wird bewusst eine breite Zahl von Inhaltstypen verwendet, um die Lehrkräfte zu einer Auseinandersetzung mit den vielfältigen Möglichkeiten von H5P anzuregen. Geogebra als Mathematiksoftware findet bereits Verwendung im Mathematikunterricht und bietet sich in unserem Kontext an, um dynamisch-interaktive Visualisierungen ökonomischer Zusammenhänge und Modelle zur Verfügung zu stellen. Als dynamisches Werkzeug eröffnet es gute Möglichkeiten in der Vermittlung von Inhalten, die bei statischen Abbildungen nur eingeschränkt stattfinden kann. Mehr als 70 solcher Anwendungen haben wir für das Lehrmittel bereits erstellt.
Im Hinblick auf die mediale Gestaltung wurde gemeinsam mit dem Kooperationspartner irights.media, der die digitale Umsetzung verantwortet, die Entscheidung getroffen, ein digitales, browserbasiertes Buch als Onepager zu entwickeln. Diese Form dient dazu, den Nutzer_innen einen möglichst einfachen Zugang, der bestehende Arbeitsroutinen nicht übermäßig herausfordert, zu gewährleisten. Die Gestaltung des Lehrmittels als browserbasierte Webseite ermöglicht eine hohe Flexibilität hinsichtlich der nutzbaren Endgeräte und Betriebssysteme. Das Design der Webseite orientiert sich an einem modernen Webseitenlayout. Um verschiedene Nutzungsszenarien abzudecken, wurde die Webseite responsiv gestaltet. Dies ermöglicht unter Berücksichtigung der technisch oft eingeschränkten Ausstattung von Schulen die Nutzung an einem Desktop-PC/Laptop ebenso wie an einem Tablet-PC oder auch am Smartphone – beispielsweise in einem Bring-Your-Own-Device-Szenario.
Das Lehrmittel unterteilt sich zurzeit in vier Kapitel. Leitendes Kriterium für die Kapitelstruktur waren die im Stabilitätsgesetz verankerten Ziele der Wirtschaftspolitik. Weitere Kapitel sind bereits geplant und werden das Lehrmittel in der Zukunft sukzessive ergänzen.
Tab. 1
Kapitel 1: Was will Wirtschaftspolitik? Kontroversen um wirtschaftspolitische ZieleDie Beschäftigung mit Wirtschaftspolitik beginnt mit einem Blick auf wirtschaftspolitische Ziele und die Kontroversen, die darum geführt werden. Welche Ziele sind besonders wichtig? Wie kann ermittelt werden, ob die Ziele erreicht wurden? Brauchen wir heute neue Ziele? Wir lernen eine „Sprache“ kennen, in der Kontroversen um die Wirtschaft ausgetragen werden – und das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als wichtigen Begriff in dieser Sprache. Wir schauen uns an, welche Kritik am BIP geäußert wird und welche Alternativen es dazu gibt. |
Kapitel 2: Wie lässt sich Arbeitslosigkeit bekämpfen? Kontroversen um wirtschaftspolitische KonzepteGeringe Arbeitslosigkeit gilt als eines der wichtigsten Ziele der Wirtschaftspolitik. Warum ist das so? Wie lässt sich Arbeitslosigkeit messen? Und wie bekämpfen? Anhand dieser Frage werden zwei verschiedene Konzepte der Wirtschaftspolitik vorgestellt, die unterschiedliche Lösungen für Beschäftigungsprobleme vorschlagen. Sie konzentrieren sich jeweils vorrangig auf andere Seiten des BIP. Schließlich schauen wir uns an, was die Gründe dafür sein könnten, dass Wirtschaftsforscher_innen unterschiedliche Meinungen vertreten. |
Kapitel 3: Wie lässt sich die Wirtschaft stabilisieren? Kontroversen um Konjunktur und KrisenDie wirtschaftliche Entwicklung verläuft alles andere als stetig. Sie ist ständig kleineren Schwankungen ausgesetzt: Konjunkturen. Manchmal kommt es auch zu starken Einbrüchen: Wirtschaftskrisen. Doch was sind Konjunkturschwankungen überhaupt? Warum entstehen sie? Und was waren die Ursachen der letzten weltweiten Wirtschaftskrise aus unterschiedlichen Sichtweisen? Was kann die Wirtschaftspolitik tun, um für mehr Stabilität zu sorgen? |
Kapitel 4: Wie lassen sich internationale Herausforderungen bewältigen? Kontroversen jenseits des NationalstaatsDer internationale Handel hat in der Vergangenheit stark zugenommen und eine weltweit verflochtene Wirtschaft hervorgebracht. In Europa haben sich die Staaten vor einiger Zeit entschieden, eine gemeinsame Währung zu verwenden. Beide Entwicklungen bringen neue Herausforderungen mit sich: Europa wurde von der Eurokrise erschüttert, was die Folge einer unvollkommenen Währungsunion sein könnte. Was hat das möglicherweise mit dem Ziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts zu tun? Und wie kann sich die Währungsunion weiterentwickeln? |
Anders als gedruckte Materialien bieten Online-Materialien den Vorteil einer leichten Aktualisierung und Verbesserung. Dies betrifft nicht nur die volkswirtschaftlichen Daten, die immer auf dem neuesten Stand bleiben können. Auch aktuelle wirtschaftspolitische Debatten können so leichter berücksichtigt werden. Wir begreifen unser Lehrmittel als Work in progress: Hinweise von Nutzer_innen wurden bereits während der Entstehungsphase berücksichtigt und werden auch in Zukunft aufgenommen. Dazu wird u. a. auf einer begleitenden Projektseite die Möglichkeit gegeben. Zudem sind weitere Kapitel in Planung und werden demnächst realisiert. Bei Transferveranstaltungen stellen wir das offene Lehrmittel interessierten Nutzer_innen vor. Die Veröffentlichung erfolgt im Laufe des Sommers 2019.
Über die Autor:innen
Julian Becker – Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen.
Prof. Dr. Till van Treeck – Professor und geschäftsführender Direktor am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen.
Beratung und Unterstützung: Dr. Heike Hornbruch, Prof. Dr. Reinhold Hedtke, Edwin Stiller
[1] Der Lesbarkeit zuliebe wird im Weiteren nur noch von Lehrmitteln gesprochen.
[2] Für eine einsteigerfreundliche Einführung in dieses Thema siehe Muuß-Merholz, Jöran (2018): Freie Unterrichtsmaterialien finden, rechtssicher einsetzen, selbst machen und teilen. 1. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz.
[3] Heimstädt, Maximilian; Dobusch, Leonhard (2017): Perspektiven von Open Educational Resources (OER) für die (sozio-)ökonomische Bildung an Schulen in NRW und in Deutschland. Hg. v. FGW – Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung e. V. Düsseldorf (FGW-Studie Neues ökonomisches Denken, 6), S. 5.
[4] Hedtke, Reinhold (2016): Paradigmatische Parteilichkeit, lückenhafte Lehrpläne und tendenziöses Unterrichtsmaterial? Eine Studie zu Gestalt und Gehalt sozio/ökonomischer Bildung. Hg. v. FGW – Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung e.V. Düsseldorf (FGW-Studie Neues ökonomisches Denken, 1).
[5] Hedtke, Reinhold; Kahle, Patrick; Middelschulte, Henning; Sack, Detlef (2019): Kontroversität und Wissenschaftlichkeit in Materialien und Vorgaben für die sozioökonomische Bildung (KoWiMa). FGW – Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung e.V. Düsseldorf (FGW-Studie Neues ökonomisches Denken), erscheint demnächst.