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Quelle: van Treeck, Till, and Janina Urban. Wirtschaft neu denken: Blinde Flecken in der Lehrbuchökonomie. iRights Media, 2016. Das Buch kann hier bestellt werden: http://irights-media.de/publikationen/wirtschaft-neu-denken/.
Rezensierte Bücher:
Mankiw, N.G./Taylor, M.P. (2016): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 6. Auflage, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 1172 Seiten. Im Original: Economics, 3. Auflage, Boston: Cengage Learning, 2014. Im Folgenden zitiert als MT. (Abb: Schäffer-Poeschel)
Samuelson, P.A./Nordhaus, W.D. (1989): Economics, 13. Auflage, New York: McGraw-Hill, 1013 Seiten. Im Folgenden zitiert als SNa. (ohne Abb.)
Samuelson, P.A./Nordhaus, W.D. (2010): Volkswirtschaftslehre, 4. Auflage, München: mi-Wirtschaftsbuch, FinanzBuch Verlag, 1104 Seiten. Im Original: Economics, 19. Auflage, New York: McGraw-Hill, 2009. Im Folgenden zitiert als SNb. (Abb: mi-Wirtschaftsbuch)
„Students learn the embalmed truth from their teachers and sacred textbooks. The imperfections in the orthodox doctrines are ignored or glossed over as unimportant. Decadence and senility set in.” (SNa, S. 826)1
Marx und Marx’sche Ökonomie beziehungsweise kritische politische Ökonomie sucht man heute in den Standardlehrbüchern zur Volkswirtschaftslehre meist vergeblich. Dies war nicht immer so und muss auch nicht so sein. Ein paradigmatisches Beispiel dafür bietet das Buch von Samuelson/Nordhaus. Paul A. Samuelson hat sich früher noch selbst in Debatten und Auseinandersetzungen um die Marx’sche Ökonomie eingeschaltet. Er brachte eine spezifische neoklassische Interpretation des Transformationsproblems ins Spiel, welche die Herausbildung von Preisen auf Basis der für die Produktion notwendigen gesellschaftlichen Arbeitszeit problematisiert. Samuelsons Ansicht war, dass das Problem so nicht lösbar sei. Daher sei auch die Marx’sche Theorie problematisch, so sein Argument (Samuelson 1971). Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, früher zentrale und heute zumindest noch einige relevante Aspekte des Marx’schen Zugangs in seinem Standardlehrbuch darzulegen. N. Gregory Mankiw hingegen ist deutlich jünger und hatte vor dem Hintergrund einer anderen geopolitischen Lage und eines anderen Zeitgeists Auseinandersetzungen mit Marx’schen Perspektiven offensichtlich nicht mehr nötig. So kommt es, dass dieser Zugang in seinem einführenden Lehrbuch heute völlig unerwähnt bleibt. Der vorliegende Beitrag geht zunächst anhand des Werks von Samuelson/Nordhaus exemplarisch der Frage nach, wie Marx ursprünglich in Standardlehrbüchern behandelt wurde und wie sich das geändert hat. Auch wird angesprochen, warum Marx heute in Lehrbüchern häufig überhaupt keine Erwähnung mehr findet. Dies wird wesentlich dadurch erklärt, dass die Verbreitung von Wissen beziehungsweise das Verschweigen von Zugängen – insbesondere im Bereich der Wirtschaftswissenschaften – als Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse begriffen werden kann.
Das (Nicht-)Vorhandensein von Marx in Standardlehrbüchern
Eine mir vorliegende ältere Ausgabe von Samuelson/Nordhaus (13. Auflage, 1989) hat Marx’schen Zugängen noch deutlich mehr Raum zugestanden als die aktuelle Auflage. In dieser älteren Auflage wird vielerorts auf Marx verwiesen: Bereits zu Beginn (S. 4) werden Studierende im Kontext einer historischen Perspektive auf seine Bedeutung hingewiesen: „Adam Smith war jedoch nur der Anfang. Beinahe ein Jahrhundert später, als dynamische kapitalistische Eisenbahnunternehmen sowie der Textilsektor und andere Industrien ihren Einfluss auf alle Weltregionen ausdehnten, erschien die wuchtige Kritik des Kapitalismus: ‚Das Kapital‘ von Karl Marx (1867, 1885, 1994). Marx proklamierte, dass Kapitalismus dem Untergang geweiht wäre und alsbald Wirtschaftskrisen, Revolutionen und staatlicher Sozialismus folgen würden.“2 In der aktuellen 19. Auflage (4. Auflage in Deutsch, 2010, S. 7) plädiert Samuelson in seiner Einleitung angesichts der Krise für eine „Ökonomie der Mitte“ und den „Wert wirtschaftlicher Mischsysteme […]. Leider geben sich viele Lehrbücher der letzten Zeit allzu sehr in das Fahrwasser eines selbstgefälligen Laissez-faire-Liberalismus […].“ Dieser Weg der Mitte impliziert, dass man trotz aller erwähnten Probleme eine grundlegende Kritik am Kapitalismus sowie eine historischen Perspektive nur am Rande findet. Marx wird nur in einem Kapitel zum Sozialismus gegen Ende des Buches behandelt. Dem aktuellen Lehrbuch von Mankiw/Taylor (6. Auflage, 2016) kann man zugutehalten, dass hier Marx nicht ausgedünnt wurde – er war noch nie da. Nachdem also Marx und kritische politische Ökonomie bei Mankiw/Taylor nicht vorkommen, werde ich mich in der folgenden Besprechung auf Samuelson/Nordhaus, vor allem auf die 13. Auflage (1989), aber auch auf die jüngste Auflage (2010) beziehen.
Von einer relativ breiten Diskussion der Marx’schen Ökonomie …
In der Auflage von 1989 von Samuelson/Nordhaus wird im Kapitel zur Messung von Einkommen und Ungleichheit auf ein Zitat aus dem kommunistischen Manifest Bezug genommen, in dem Marx und Engels von der Verarmung der Massen sprechen. Mit dem Verweis auf steigende Löhne in den USA zwischen 1920 und den 1980er Jahren wird folgendermaßen argumentiert: „Während einige der Vorhersagen von Marx über die Zukunft des Industriekapitalismus sich in den folgenden Jahren als korrekt erwiesen haben, haben sich seine Vorhersagen über das Schicksal der Arbeiterklasse als falsch herausgestellt. Seine Behauptung, dass die Reichen reicher würden und die Armen ärmer, kann auf Basis einer sorgfältigen historischen und statistischen Analyse nicht aufrechterhalten werden.“ (SNa, S. 640) Offensichtlich scheint es den Autoren wichtig, zu versuchen zu zeigen, dass Marx falsch lag. Ihre verkürzte Darstellung ist in mehrerlei Hinsicht problematisch, wie im Folgenden kurz beispielhaft angedeutet wird: Erstens ist das kommunistische Manifest eine politische Schrift zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt und stellt nicht den Kern der komplexen Marx’schen Verteilungstheorie (Arbeitswerttheorie) dar, die (Subsistenz-)Löhne als Ergebnis einer Klassenauseinandersetzung unter spezifischen historischen Bedingungen begreift. Zweitens war das 19. Jahrhundert tatsächlich durch Massenarmut trotz voranschreitendem Wirtschaftswachstum gekennzeichnet. Drittens sind die Löhne historisch wesentlich aufgrund der gewerkschaftlichen Organisierung (und in den USA im Anschluss an den New Deal) gestiegen. Viertens gehen in jüngerer Zeit zum Teil die Löhne über längere Zeit trotz steigender Produktivitätsfortschritte zurück, wie etwa in Deutschland (siehe den Beitrag von Camille Logeay in diesem Band). Fünftens ist die Ungleichheit im Kapitalismus sehr hoch und hat in den letzten Jahrzehnten fast überall deutlich zugenommen, wie die aktuellen Entwicklungen der Gini-Quotienten verschiedener Länder nur annähernd abbilden können.
In der Folge wird im Kapitel „Löhne und Arbeitsmarkt“ (SNa, S. 686) auf das Argument der Reservearmee von Marx eingegangen. Mit dem Angebots-Nachfrage-Diagramm (Überschrift: „Marxisten übertreiben die Macht der ‚Reservearmee der Arbeitslosen‘, Löhne drücken zu können“) für den Arbeitsmarkt wird argumentiert, dass der Gleichgewichtspunkt zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage über dem Minimumlevel für Löhne läge. Jedoch wird in der Beschreibung zur Grafik eingeräumt: „Wenn das Arbeitsangebot so groß wird, dass sich die SS-Kurve mit der DD-Kurve bei mm schneiden, wäre der Lohn auf einem Minimumniveau wie es in vielen unterentwickelten Regionen der Fall ist.“ Damit relativieren sie ihre vorher entwickelte Argumentation, dass der Gleichgewichtspreis über dem Subsistenzniveau für Löhne läge, was sicherlich positiv anzumerken ist.
Im Kapitel zur „Entwicklung ökonomischen Denkens“ (SNa, S. 824–847) wird ebenfalls auf Marx eingegangen: „Vor einem Jahrhundert hat sich der Stammbaum der Ökonomik geteilt. Ein Ast wuchs aus dem ‚Kapital‘ von Marx (1867, 1885, 1894) und seinen früheren Schriften. Diese Linie, die wichtig für das Verständnis der Organisation von kommunistischen Ländern ist, wird im Teil B dieses Kapitels behandelt. Die andere Strömung setzte die Tradition von Smith und Ricardo über neoklassische Denker und keynesianische Ökonomen bis zur heutigen modernen Ära der Mainstream-Ökonomik fort.“ (SNa, S. 826) Damit werden Neoklassik, Keynesianismus und Mainstream als der Tradition von Smith und Ricardo folgend erachtet und Marx als relevant für planwirtschaftliche Systeme, nicht aber als wichtig für die Analyse des Kapitalismus, dargestellt. Dies entspricht jedoch nicht dem Marx’schen Werk, das zum Beispiel im „Kapital“ sehr eng an Ricardo orientiert ist und in dem es insgesamt nur wenige Aussagen zu Kommunismus und Planwirtschaft gibt. Es geht darin stattdessen vor allem um eine Analyse des Kapitalismus, seiner Widersprüche und Entwicklungsdynamiken (wie Samuelson/Nordhaus auch andernorts eingestehen – siehe weiter unten).
Weiter hinten wird im Unterkapitel „Moderne Kritiken“ neben der Chicago School auch von „Abweichlern von Links“, wie zum Beispiel Galbraith und den Radical Economics gesprochen. Die Entstehung von Radical Economics in den USA wird historisch eingebettet in die Bewegung der New Left gegen den Vietnamkrieg und den US-Imperialismus. Als zentrale Eckpunkte dieser radikalen Kritik werden die Ablehnung moderner Makroökonomie (etwa der natürlichen Arbeitslosigkeit), eine Gegenbewegung zum Imperialismus, die Forderung nach mehr Gleichheit, eine Ablehnung von Märkten und ein Eintreten für demokratische Planung ausgemacht. Abschließend wird festgehalten, dass diese jüngere Strömung der kritischen politischen Ökonomie bis dato wenig Einfluss auf den Mainstream gehabt hat (vgl. SNa, S. 832).
… zur Reduktion von Marx auf Sozialismus/Planwirtschaft
Im Abschnitt „Marxismus und alternative Wirtschaftssysteme“ findet sich in der Auflage von 1989 neben einer Diskussion historischer Wirtschaftskrisen vor allem eine Besprechung der sowjetischen Planwirtschaft und des Sozialismus. Auch gibt es eine Kurzbiographie von Marx sowie einige wichtige zentrale Konzepte. Arbeitswerttheorie und Mehrwert werden knapp vorgestellt sowie auf Entwicklungsdynamiken unter dem Titel „Prophezeiungen“ eingegangen. Dieser Abschnitt ist der einzige, der in einer gekürzten und überarbeiteten Fassung bis zur aktuellen Auflage überlebt hat und in dem nunmehr Marx erwähnt wird.
Konkret wird damit heute im Kapitel „Wirtschaftliche Entwicklung als Herausforderung“ unter dem Schlagwort Sozialismus (SNb, S. 792–797) auf sozialistische und gescheiterte planwirtschaftliche Modelle eingegangen und dabei auf Marx Bezug genommen. Es findet sich dort sogar eine Box unter dem Titel „Karl Marx: Ein Ökonom als Revolutionär“. Im Vergleich zur älteren Ausgabe werden die Perspektive und die historische Bedeutung von Marx in diesem Abschnitt doch deutlich knapper dargestellt. Samuelson/Nordhaus (2010, S. 793–794) schreiben dennoch: „Das Kernstück der Arbeit von Marx ist eine scharfsinnige Untersuchung der Stärken und Schwächen des Kapitalismus.“ Im Anschluss werden kurz die Arbeitswerttheorie und das „unverdiente Einkommen“ der Kapitalist_innen sowie die historische Bedeutung von Marx angesprochen: „Über ein Jahrhundert lang zitterten die herrschenden kapitalistische Klassen tatsächlich vor dem Marxismus! Wie viele große Wirtschaftswissenschaftler, aber leidenschaftlicher als die meisten von ihnen, war Marx zutiefst vom Kampf der arbeitenden Klassen bewegt und hoffte, ihr Leben verbessern zu können.“ Auch das Zitat aus den „Thesen zu Feuerbach“ wird in diesem Zusammenhang wiedergegeben: „Bisher haben die Philosophen die Welt nur auf unterschiedliche Weise interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“
Damit werden die Autoren dem Anliegen von Marx durchaus gerecht. Noch deutlicher war dies allerdings in einer abschließenden Würdigung von Marx durch Samuelson/Nordhaus (1989, S. 836) in der älteren Auflage: „Unser knapper Überblick über die Marx’schen Ökonomik kann die weitreichende Analyse dieser großen und kontroversen Person nur schablonenhaft erfassen. Schlussendlich war es der größte Beitrag von Marx zu zeigen, wie sich Ökonomie aufgrund von technologischen Veränderungen und sozialer Entwicklung ständig verändert. Jedes soziale System trägt die Elemente, die zu seiner eigenen Zerstörung führen, bereits in sich. Wenn wir daher den Marx’schen Zugang zur Geschichte verstanden haben, können wir nicht länger glauben – wie dies selbstgefällige Historiker in Großbritannien des 19. Jahrhunderts gemacht haben –, dass britischer Laissez-faire-Kapitalismus den Höhepunkt der menschlichen Zivilisation darstellt. Auch können wir nicht dem Trugschluss erliegen, dass der Sieg des Proletariats unvermeidlich ein definitives Ende des Klassenkampfes mit sich bringen wird oder gar die gemischte Wirtschaft des 20. Jahrhunderts in den USA ein Endpunkt der Geschichte sei.“
Während es damit in der älteren Ausgabe eine – wenn auch zum Teil auf neoklassischer Basis erfolgende – integrale Auseinandersetzung mit Marx’scher Ökonomie in einigen zentralen inhaltlichen Bereichen gab, so sucht man eine solche in der aktuellen Ausgabe von 2010 vergeblich. Die Perspektiven von Marx werden in der aktuellen Ausgabe so gut wie ausschließlich bezogen auf den Sozialismus und Planwirtschaft diskutiert, nicht jedoch systematisch in Bezug auf Fragen von Verteilung, Wachstum, der Rolle des Staates, des Geldes oder globalen Entwicklungsdynamik des Kapitalismus, wobei dies gut möglich wäre (siehe Jäger/Springler 2015). Ebenso fehlt ein Überblick zur theoriegeschichtlichen Entwicklung. Weiterhin fehlt in der aktuellen Ausgabe jeglicher Bezug zu über Marx hinausgehenden Weiterentwicklungen – in der älteren hier analysierten Ausgabe war das noch der Fall. Das ist in etwa so, als würde man in die Neoklassik ausschließlich mit Bezug auf die „Principles of Economics“ von Marshall von 1890 einführen (und argumentieren, dass die Neoklassik wesentlich für die Krise der 1930er Jahre verantwortlich ist) und jegliche neuere Entwicklung einfach unerwähnt lassen. Dass es aufbauend auf die Tradition von Marx in der Kritischen Politischen Ökonomie wichtige Weiterentwicklungen und eine lebendige Debatte gab und gibt, bleibt somit bei Samuelson/Nordhaus heute gänzlich außen vor. Für Leser_innen mag sich damit der (falsche) Eindruck aufdrängen, dass Marx ganz interessant und bedeutend für sozialistische Systeme war, dieser Zugang zur Analyse des aktuellen Kapitalismus allerdings kaum mehr etwas beizutragen hat und es auch keine wissenschaftliche Produktion in diesem Bereich gibt. Dies ist jedoch (wie nicht zuletzt die ältere Auflage von Samuelson/Nordhaus zeigt) eine problematische Verkürzung. Neben den Radical Economics in den USA gibt es noch eine Reihe von marxistisch inspirierten Weiterentwicklungen, wie sie etwa unter dem Titel der „Critical Political Economy“ subsumiert werden können. Darüber hinaus gibt es auch außerhalb der Disziplin Ökonomie – die ja bekanntermaßen heute sehr wenig Platz für alternative Ansätze lässt – in vielen anderen Fächern eine auf Marx basierende Auseinandersetzung mit ökonomischen Themen. Dem kommt entgegen, dass Ökonomie in der Marx’schen Tradition niemals isoliert betrachtet werden kann, sondern immer im Kontext gesellschaftlicher und politischer Prozesse integrativ analysiert werden muss. Entsprechend kommt es nicht nur in der Ökonomie, sondern vor allem in anderen Disziplinen, wie zum Beispiel der Politikwissenschaft, der Soziologie, die Geographie etc. heute zu dynamischen Weiterentwicklungen.
Kanonisierung von Wissen als Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse
Lehrbücher – und damit die Kanonisierung eines Wissensgebietes – haben großes Potenzial das Denken und damit Diskurse, in unserem Fall über Ökonomie, zu beeinflussen. Sie haben daher eine wichtige gesellschaftliche und politische Bedeutung. Einerseits werden Dinge auf eine bestimmte Weise systematisiert und damit implizite und explizite Schlussfolgerungen zum Wirtschaftssystem und zur Wirtschaftspolitik nahegelegt. Andererseits wird damit definiert, was überhaupt dazu gehört beziehungsweise wogegen man sich abgrenzen muss. Wird Studierenden nur eine (wenn auch dominante) Sichtweise zur Ökonomie im Rahmen einer akademischen Ausbildung vermittelt, so ist zu befürchten, dass alternative Perspektiven – etwa im Interesse benachteiligter gesellschaftlicher Gruppen – nur schwer ins Blickfeld genommen werden können.
Warum fehlt eine marxistische Perspektive in den Standardlehrbüchern heute meist beziehungsweise wird der Zugang im besten Fall nur sehr verkürzt und als etwas bereits Überholtes dargestellt? Inhalte von weit verbreiteten Standardlehrbüchern folgen zwei (miteinander verbundenen) Logiken, wenn es um die inhaltliche Ausrichtung von Diskursen geht: Erstens ist es nicht überraschend, dass in liberalen Ökonomien, die auf einem gesellschaftlichen Konsens beruhen, wirtschaftsliberale Lehrbücher vorherrschen, spiegeln sie doch die herrschende Meinung wider. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die herrschende Meinung die Meinung der Herrschenden ist. Wirtschaftslehrbücher aus den USA haben die sehr wirtschaftsliberal geprägte US-Realität als Hintergrund. Bezogen auf ökonomische Fragen geht es damit immer um die Legitimation eines historischen Wirtschaftssystems als spezifische Form einer kapitalistischen Produktionsweise. Wenn auch eine soziale Marktwirtschaft hierzulande im Vergleich zu einem weitgehend schrankenlosen Kapitalismus durch ein Mehr an staatlicher Umverteilung und Schutz für Arbeitnehmer_innen geprägt ist, so ist die soziale Realität doch durch die Existenz unterschiedlicher ökonomischer Klassen geprägt und überdies die Ungleichheit erheblich gestiegen. Diese ökonomischen Klassen und Interessengegensätze bleiben im Rahmen der Standardlehrbücher systematisch ausgeblendet beziehungsweise finden bestenfalls eine marginale Anmerkung. Vielmehr werden beispielsweise die Kosten von Kollektivvertragslöhnen (SNb, S. 395., Abb. 13.6) mit der einfachen Angebots-Nachfrage-Grafik beschrieben, mit der versucht wird zu zeigen, dass ein solcher Mindestpreis zu Arbeitslosigkeit führt (auch MT, S. 265 argumentieren so). Ebenso wird die Umverteilung von Reich zu Arm als problematisch dargestellt. Die vorgeblichen Effizienzverluste staatlicher Umverteilung werden von Samuelson/Nordhaus (2010, S. 502-503) plakativ auf mehreren Seiten als der „löchrige Eimer“ beschrieben (siehe den Beitrag von Till van Treeck zu Effizienz und Gerechtigkeit in diesem Band). Beides sind Fälle ausgezeichneter didaktischer Aufbereitung. Dass Mindestlöhne und Umverteilung problematisch sind, soll damit wohl unzweifelhaft suggeriert werden. Eine Sichtweise, die eindeutig denjenigen nützt, die im Zuge einer Umverteilung etwas abgeben müss(t)en. Man erinnere sich nur an die Debatte um die Einführung des Mindestlohns in Deutschland. Dass es aber auch andere Sichtweisen darauf gibt (siehe den Beitrag von Camille Logeay in diesem Band), wird damit verdrängt.
Zweitens ist die Eigendynamik des innerökonomischen Diskurses nicht zu unterschätzen. Die Durchsetzung der Neoklassik ging eng mit der (historischen) Disziplinierung beziehungsweise Etablierung des Faches einher (Milonakis/Fine 2009). Die Argumente von Keynes wurden umgehend und weitgehend im Rahmen der neoklassischen Synthese beziehungsweise heute der neokeynesiansichen Zugänge eingebaut (siehe den Beitrag von Eckhard Hein in diesem Band), soweit die damit verbundenen Politiken der Stabilisierung von kapitalistischen Wirtschaften dienen können. Auf Marx zurückgehende Perspektiven, die Widersprüche und mit dem Kapitalismus systematisch verbundene Ungleichheitsstrukturen analysieren und Herrschaftsinteressen in Frage stellen, bleiben heute marginalisiert. Es ist jedoch davon auszugehen, dass durch ein Wiedererstarken gesellschaftlicher und politischer Akteur_innen, die die aktuellen Verhältnisse in Frage stellen, auch die Diskussionen innerhalb der Ökonomie und damit auch die Darstellung der Ökonomie in Lehrbüchern entsprechende Änderungen erfahren können.
Schlussfolgerungen
Auch wenn Marx’sche Ökonomie über die letzten Jahrzehnte sicherlich immer mehr aus Standardlehrbüchern verschwunden ist, stellt sich die Frage, wie sich dies angesichts der Krise und vor allem sich zuspitzender sozialer Ungleichheit und damit auch sozialer Auseinandersetzungen weiterentwickeln wird. Genau im Verständnis dieser Probleme liegen ja die Stärken der auf Marx zurückgehenden Zugänge, wie sie Samuleson/Nordhaus in ihrer älteren Auflage noch explizit hervorheben. Ob dieser Zugang alsbald breiten Einzug in Standardlehrbücher finden wird, bleibt jedoch mehr als fraglich. Auch wenn alternative Lehrbücher den kritischen politökonomischen Zugängen substanziellen Raum geben (Jäger/Springler 2015), werden wohl viele einführende Bücher in die Ökonomie noch für längere Zeit dem neoklassischen Mainstream mit allenfalls einigen keynesianisch inspirierten Einsprengseln treu bleiben.
Literatur
Jäger, J./Springler, E. (2015): Ökonomie der internationalen Entwicklung. Eine kritische Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 3. Auflage, Wien: Mandelbaum.
Milonakis, D./Fine, B. (2009): From Political Economy to Economics. Method, the social and the historical evolution of economic theory, London: Routledge.
Samuelson, P.A. (1971): Understanding the Marxian Notion of Exploitation: A Summary of the So-Called Transformation Problem – Between Marxian Values and Competitive Prices. In: Journal of Economic Literature 9, Nr. 2, S. 399–431.
1Dieses Zitat beziehen Samuelson/Nordhaus nicht auf die aktuelle Situation – was ja doch überraschend wäre –, sondern sie verweisen auf die Ablösung der klassischen politischen Ökonomie als „dekadentes Paradigma“ durch die Neoklassik. Der/die geneigte Leser_in mag sich natürlich fragen, ob das obige Zitat nicht auch auf die heutige Situation und die Rolle der Neoklassik beziehungsweise des Mainstreams zutrifft.
2Dieses und auch die folgenden Zitate aus Samuelson/Nordhaus (1989) wurden vom Autor aus dem Englischen übersetzt.