Wir brauchen eine kritische Wirtschaftswissenschaft - mehr denn je! Mit Exploring Economics stärken wir alternative ökonomische Ansätze und setzen der Mainstream-VWL ein kritisches und plurales Verständnis von ökonomischer Bildung entgegen. Außerdem liefern wir Hintergrundanalysen zu akuellen ökonomischen Debatten, um einen kritischen Wirtschaftsdiskurs zu stärken.
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Auf dieser Seite dokumentiert Exploring Economics die Ergebnisse der Studie EconPLUS, die als Kooperationsprojekt des Fachgebiets Umwelt- und Verhaltensökonomik (Prof. Dr. Frank Beckenbach) der Universität Kassel und des Netzwerks Plurale Ökonomik durchgeführt und von Geldern der Hans Böckler Stiftung gefördert wurde.
Ziel der Befragung war es, ein möglichst umfassendes Bild der Einstellungen von ÖkonomInnen zu den Zielen und Inhalten des volkswirtschaftlichen Studiums zu erhalten. Der Schwerpunkt lag hierbei auf Fragestellungen, die die Pluralität der Lehre betreffen. Hierzu wurden 2.742 Lehrende an 54 volks- und wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen an Universitäten in Deutschland angeschrieben und um Teilnahme an der Umfrage gebeten. 580 WissenschaftlerInnen füllten den Fragebogen aus, 406 dabei vollständig. In den nachfolgenden Auswertungen sind die genannten Prozentzahlen immer auf die Anzahl der Lehrenden bezogen, die zu der jeweiligen Frage geantwortet haben. Die entsprechenden Werte finden sich u.a. in den Abbildungen in Klammern neben den jeweiligen Begriffen/Fragen.
Mit der Umfrage sollten folgende 7 Themenstellungen geklärt werden:
Um zu verstehen, was Vielfalt der Lehre bedeuten kann, gilt es zunächst festzustellen, ob es in der Ökonomik einen Mainstream gibt. Hier wurden die Befragten gefragt, ob es in der Ökonomik einen Mainstream gibt.
Die Umfrage hat ergeben, dass 77,2 % der ÖkonomInnen der Auffassung sind, dass es einen Mainstream gibt. Die Frage danach, ob für die Ökonomik auch vom Mainstream nicht abgedeckte relevante ökonomische Konzepte oder auch Theorien bzw. Theorieansätze von Bedeutung sind (im Folgenden Sidestream genannt), haben 62,6% der Befragten mit „Ja“ beantwortet.
Abbildung 1: Mainstream und Sidestream
Doch welche Konzepte und Methoden prägen den Mainstream? Die Befragten wurden hierzu in einer offenen Frage gebeten, die für sie relevanten Konzepte bzw. Axiome und Überzeugungen aufzulisten. Die über 1000 Nennungen wurden mittels einer Textminingsoftware codiert, zu Oberbegriffen zusammengefasst und ausgewertet. Im Ergebnis wird deutlich, dass nach Auffassung der Befragten der Mainstream durch Konzepte gekennzeichnet ist, die sich im Gedankengerüst der neoklassischen Denkschule bewegen. Die Grundlage liefert der Homo oeconomicus. Dieses Konzept eines rational handelnden und vollständig informierten, nutzenmaximierenden Akteurs wird oft verwendet, um in mathematischen Modellen, meist mit Optimierungsansätzen, Gleichgewichte und „effiziente Allokationen“ zu bestimmen. Etliche der weiteren Nennungen der Befragten beziehen sich auf diese Kernkonzepte und ihre nur randständigen Modifikationen (wie etwa der Hauptteil der Verhaltensökonomik).
Abbildung 2: Häufigkeit der Nennungen von Mainstreambegriffen nach Oberbegriffen
Um genauer zu untersuchen, welche Begriffe im Zusammenhang genannt wurden, wurden zudem die Angaben der Befragten mittels einer Netzwerkanalyse untersucht. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt hierbei mittels eines Netzwerkgraphen, welcher die 5 häufigsten Oberbegriffe erfasst, soweit diese mindestens mit 5 weiteren Oberbegriffen verbunden sind.
In der Netzwerkdarstellung wird das zentrale Begriffsnetzwerk des „Mainstream“ deutlich: Die Begriffe „Homo oeconomicus“ und „Rationalität“ nehmen hier eine hervorgehobene Stellung ein, gefolgt von „Gleichgewicht“ und „Maximierung“.
Abbildung 3: Begriffsnetzwerk Mainstream
Die Befragung umfasste auch Fragen zu den Lehrinhalten. In diesem Zusammenhang wurde danach gefragt, welche Methoden in der volkswirtschaftlichen Lehre vermittelt werden sollen. Die Antworten der Befragten zeigen, dass Ökonometrie und mathematische Methoden deutlich im Vordergrund stehen. Nicht-mathematische Methoden, etwa die historische oder qualitative Sozialforschung, werden als weniger relevant eingeschätzt. Das Ergebnis unterstreicht die Kritik, wonach es in der Lehre eine zu starke Fokussierung auf mathematische Methoden gibt und qualitative Ansätze im Hintergrund stehen.
Abbildung 4: Methoden, die in der volkswirtschaftlichen Lehre vermittelt werden sollen
Ein Ziel der Befragung war es, die Einstellung der Lehrenden hinsichtlich der zunehmenden Kritik an der VWL zu erfassen. Hierbei zeigt sich u.a., dass drei Viertel der Lehrenden die Kritikpunkte der Studierenden teilweise sehr gut kennen. Die Hälfte der Befragten, welche die Kritik kennen, hält die Kritik relativ weitgehend für angebracht.
Abbildung 5: Kenntnis der Kritikpunkte der Studierenden und Einstellung dazu
Im Rahmen der Umfrage wurden die Lehrenden gebeten, ihre Meinung zu einigen der in der Kritik häufiger geäußerten Aspekte darzulegen. Zunächst zeigt sich hier eine überwiegend positive Einstellung zur Vielfalt in der Lehre – drei Viertel der Befragten (80,6%) stimmten der Aussage eher bis sehr stark zu, dass diese ein Erfordernis der Freiheit von Wissenschaft und Lehre sei. Etwas über die Hälfte der Befragten (57%) sehen die Volkswirtschaftslehre dabei heute schon (weitgehend) als vielfältig an – für 43% trifft dies aber entsprechend eher bis gar nicht zu. Offensichtlich sind zudem über die Hälfte der Befragten – unterschiedlich stark – der Auffassung, dass die Vielfalt die Studierenden überfordern würde.
Abbildung 6: Einstellung zu Vielfalt in der Lehre
Gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Anspruch, plurale Lehre anzubieten, und dem tatsächlichen Angebot? Der überwiegende Teil der befragten ÖkonomInnen findet es wichtig, dass Studierende mit einer Vielfalt von Konzepten sowie den Erkenntnissen anderer Disziplinen vertraut gemacht werden.
Abbildung 7: Die Bedeutung von Vielfalt in der Lehre
Auf die Frage nach dem Zeitpunkt einer vertiefenden Darstellung unterschiedlicher Ansätze zeigt sich, dass die Vielfalt im Laufe des Studiums zunehmen sollte. So stimmen über 90 % der Befragten eher bis sehr stark der Aussage zu, dass im Master-Studium unterschiedliche Ansätze gelehrt werden sollten. Für Vielfalt in den Grundlagenveranstaltungen sprechen sich weniger, aber immerhin noch über die Hälfte eher bis sehr stark aus.
Abbildung 8: Vielfalt im Verlauf des Studiums
Aber wie ist es wirklich um die vielfältige Darstellung unterschiedlicher ökonomischer Konzepte in der Lehre bestellt? Die Ergebnisse der Befragung legen nahe, dass Anspruch und Wirklichkeit in diesem Fall nicht übereinstimmen (Einstellungs-Praxis-Lücke).
Erstens nimmt die Vielfalt deutlich weniger zu als es die Angaben der Lehrenden vermuten lässt. So lehren etwa nur gut 50 % der Befragten im Master-Studium – in unterschiedlicher Ausprägung – gleichberechtigt verschiedene Konzepte der VWL. Bei den Bachelor- Grundlagenfächern sind dies nur noch 30%.
Abbildung 9: Vermittlung unterschiedlicher Ansätze nach Studienstufen
Zweitens aber zeigen die Ergebnisse der Umfrage, dass die Lehrenden durchaus bereit wären, in der Lehre den Fokus mehr auf unterschiedliche Konzepte und Theorien, die Ergänzung der ökonomischen Perspektive um relevante Erkenntnisse und Methoden anderer Disziplinen zu legen. Somit stellt sich die Frage, welches die Haupthindernisse der pluralen Lehre sind.
Abbildung 10: Bereitschaft zur Vermittlung unterschiedlicher ökonomischer Theorien und Konzepte sowie interdisziplinäre Bezüge in der eigenen Lehre
Als Haupthindernis einer Vielfalt in der Lehre wird der Umfang des Pflichtstoffes genannt, gefolgt von einem Mangel an ausreichenden personellen Ressourcen, hoher Arbeitsbelastung sowie der Ausrichtung des Studiengangs.
Abbildung 11: Hindernisse der Vielfalt in der Lehre
Eine genauere Untersuchung der Bestimmungsgründe der Bereitschaft zu pluraler Lehre mittels Regressionsanalysen zeigt, dass diese umso höher ist, je stärker die Befragten eine positive Einstellung zum Gegenstandsbereich haben. Das die wissenschaftliche Norm determinierende Journal Ranking ist ebenso ein Hinderungsgrund der pluralen Lehre wie der Umfang des Pflichtstoffes, den die Befragten zu absolvieren haben. Je mehr die Befragten Kenntnis über die aktuelle Diskussion haben, desto höher ist die Bereitschaft zur pluralen Lehre. Frauen sind eher zur pluralen Lehre bereit als Männer.
Abbildung 12: Die Bestimmungsgründe der Bereitschaft zur pluralen Lehre
Ein weiteres Ergebnis der Befragung wird bei der Analyse der Antworten sichtbar, wenn die Antworten von Männern und Frauen getrennt analysiert werden. Die Gruppentests zeigen, dass Frauen der quantitativen und der qualitativen Sozialforschung eine höhere Bedeutung zusprechen. Hinsichtlich der Kritik der Studierenden finden Frauen diese in einem stärkeren Maße gerechtfertigt als Männer. Zudem teilen sie auch die Kritik an der Einseitigkeit der Ausbildung stärker. Frauen haben zudem eine höhere potentielle Bereitschaft zur pluralen Lehre als Männer. Es stellte sich weiterhin heraus, dass die Frauen sowohl das Wiedergeben des Standes der Forschung durch die üblichen Lehrbücher wie auch das Erfassen der Probleme in der Wirtschaft signifikant schlechter bewerten als Männer.
Die Ergebnisse der Befragung belegen, dass die Lehrenden von einer Hierarchisierung der in der ökonomischen Analyse auftauchenden Begriffe ausgehen; die hauptsächlich für relevant gehaltenen Begriffe offenbaren hierbei eine spezielle konzeptionelle Sichtweise (Identifikation eines „mainstream“). Laut den Befragten ist der Mainstream durch Konzepte und Methoden gekennzeichnet, die sich im Gedankengerüst der neoklassischen Denkschule bewegen. Als relevantestes Merkmal des Mainstreams beschreiben die Befragten das Akteurskonzept des Homo oeconomicus sowie die Kategorien Rationalität, Gleichgewicht, Maximierung und Effizienz.
Überraschenderweise wird die Kritik der Studierenden von einer Mehrheit der Befragten für weitgehend gerechtfertigt und eine offenere Sichtweise für angebracht gehalten. Es zeigt sich aber, dass die Bereitschaft zu pluraler Lehre nicht in entsprechender Weise in der Lehrpraxis umgesetzt wird (Einstellungs-Praxis-Lücke). Der Hinweis auf den Umfang des Pflichtstoffs und die personellen Engpässe als Hinderungsgrund für eine offenere (pluralistischere) Gestaltung der Lehrveranstaltungen bestätigt dabei die Vermutung, dass hier die leistungsorientierten Organisationsroutinen der modernen Universität eine wichtige Rolle spielen. Dazu kommt, dass mit dieser Orientierung der Lehrenden an überwiegend forschungsorientierten Fragestellungen die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten zur Lösung konkreter gesellschaftlicher Probleme bzw. zur Bewältigung der späteren Berufspraxis nur eine untergeordnete Rolle spielt.