Die Europäische Zentralbank in der Krisenpolitik – Maßnahmen, Wirkungen, Schattenseiten

Maria Kader
Exploring Economics, 2024
Level: leicht
Perspektiven: Institutionenökonomik, Marxistische Politische Ökonomik, Postkeynesianismus
Thema: (Post-)Wachstum, Krisen, Wirtschaftsgeschichte, Institutionen, Regierungen & Politik, Makroökonomik, Mikroökonomie & Märkte
Format: Lerntext

Seit Ausbruch der Großen Finanzmarktkrise 2008 vor mehr als 15 Jahren befindet sich die Europäische Union - zumindest gefühlt - dauerhaft im Krisenmodus. Auf die Finanzmarktkrise folgten die Krise des Euroraums, die Corona-Krise, die geopolitische Krise durch den Angriff Russlands auf die Ukraine, die Energiekrise und zuletzt die Inflationskrise, die augenscheinlich derzeit in eine Wirtschaftskrise mündet. So unterschiedlich die verschiedenen Krisen auch sind– eine Gemeinsamkeit gibt es in Bezug auf die Zentralität der Europäischen Zentralbank in der Bearbeitung der Krise und die unkonventionelle und aktivistische Rolle die sie dabei eingenommen hat. Vor dem Hintergrund von Bedeutung, technischer Komplexität und den erheblichen Auswirkungen der Maßnahmen macht es deshalb Sinn die Aktivitäten der Europäischen Zentralbank in den Krisen der vergangenen Jahre zum Thema zu machen. Der folgende Überblickstext rekonstruiert die Krisenpolitik der EZB chronologisch und problematisiert diese. Dabei werden zunächst die geldpolitischen Maßnahmen im Kontext der Finanzmarkt- und Eurokrise dargestellt um auf dieser Basis die geringen realwirtschaftlichen Effekte der Maßnahmen zu problematisieren. Danach werden die in der Corona-Krise ergriffenen Maßnahmen skizziert und vor dem Hintergrund ihrer ungleichen Verteilungswirkungen und den mit Ihnen verbundenen Finanzmarktrisiken kritisiert.

Aktivistische Geldpolitik in der Krise

Seit 2008 verfolgen die Notenbanken in den Industrieländern unkonventionelle Strategien in der Geldpolitik. Sie haben sich damit von vormals eher passiv-akkommodierenden Akteuren zu proaktiven wirtschaftspolitischen Institutionen gewandelt. Die Geldpolitik wurde aufgewertet und hat teilweise mehr Einfluss auf die Ökonomie als die Fiskalpolitik.

Selbst die Europäische Zentralbank, die aufgrund ihres vorrangingen Mandats zur Sicherung der Preisstabilität in ihrer Handlungsfähigkeit besonders eingeschränkt sein müsste, erwies sich über alle Krisen der letzten Jahre hinweg als durchaus flexible, innovative und diskretionär agierende Institution. Das hat auch mit der wirtschaftlichen Ungleichheit innerhalb der Europäischen Union (grob: Nord-Süd-Divergenz) und der damit einhergehenden wirtschaftspolitischen Differenzen zu tun, die eine aktivistische Fiskalpolitik verhinderten. Während die Europäische Union fiskalpolitisch einen Austeritätskurs verfolgte, der sich erst in den letzten Jahren ein wenig aufweichte, erwies sich die Geldpolitik von Beginn an als agil und handlungsfähig. Die EZB wurde so der zentrale Akteur der Krisenbearbeitung. Manche gehen sogar so weit zu sagen, die EZB hätte durch die massive Ausweitung der Notenbankbilanz die fiskalpolitische Aufgabe von Finanzministerien übernommen (vgl. De Grauwe/Yuemei 2023, Brunnermeier 2020). Dabei zeigte sich über Zeit eine Ausweitung der Aktivitäten. Diese waren zunächst auf die Stabilisierung des Bankensektors beschränkt, weiteten sich nach und nach in die Sphäre der Realwirtschaft aus.

Zunächst konzentrierte sich die Europäische Zentralbank während der Finanzmarktkrise 2008 ff. auf die Stabilisierung des Bankensektors. Da Banken die wesentlichen Akteure der geldpolitischen Transmission in Europa sind, stellte deren Zusammenbruch 2008 ein großes Risiko für die wirtschaftliche Entwicklung dar. Unter dem Titel enhanced credit support (dt. „erweiterte Maßnahmen zur Unterstützung der Kreditvergabe“) wurde deshalb ab Juli 2009 den europäischen Banken von der EZB zusätzliche Liquidität unter vereinfachten Bedingungen im Rahmen von sog. „Tendergeschäften“ bereitgestellt. Das erlaubte es den europäischen Banken, sich rasch und umfangreich mit Notenbankgeld einzudecken und Liquiditätskrisen zu vermeiden. Zusätzlich führte die EZB erstmals sog. „Langfrist-Tender“ ein, also Geldauktionen, bei denen Banken für einen längerfristigen Zeitraum Geld von der Notenbank leihen konnten. Die ersten sog. „Drei-Jahres-Tender“ 2011 und 2012 teilten den Kreditinstituten 1.000 Mrd. Euro zu. All diese Ausweitungen der Liquiditätszufuhr an Banken waren mit der Hoffnung verbunden, dass die gewonnene Liquidität in Form von Kreditvergaben an die Realwirtschaft weitergeben wird.

Erst in einem weiteren Schritt intervenierte die Europäische Zentralbank auch außerhalb des Bankensektors. 2010 kam es zu einer verschärften Krise im Euro-Raum, als die Risikoprämien (sprich: die Zinsen) von 10-jährigen Staatsanleihen einiger Eurostaaten, insbesondere von Griechenland, einen deutlichen Anstieg erlebten. Mit der Initiierung eines Programms für Wertpapiermärkte (Securities Market Programm, kurz: SMP) konnte die EZB in öffentlichen und privaten Märkten für Schuldtitel im Euroraum intervenieren. Das passierte mit dem Ziel Tiefe und Liquidität im Handel mit Staatsanleihen zu verbessern. Mit diesen Ankaufprogrammen gelang es der EZB auch, die Zinsen für Anleihen peripherer Länder in der Eurozone deutlich zu senken. Da die EZB aufgrund des Verbots von Staatsfinanzierung, Staatsanleihen nicht direkt von den Staaten kaufen darf, erwarb die EZB die Staatsanleihen auf den Wertpapiermärkten (Sekundärmarkt) oder von den Banken. Dies motivierte wiederum Banken, in Staatspapiere zu investieren. Insbesondere die Bankhäuser in Italien und Spanien haben in großem Umfang Anleihen ihrer Regierungen gekauft, was deren Renditen kräftig sinken ließ und somit die Refinanzierungsschwierigkeiten dieser Staaten, zumindest temporär, etwas linderte. Die EZB hat wiederum – gegen den starken Widerstand der Deutschen Bundesbank –, schwächelnden Banken aus Peripheriestaaten längerfristig Liquidität (bei gleichzeitiger Akzeptanz qualitativ weniger werthaltiger Sicherheiten) zur Verfügung gestellt.  Das geschah vor dem Hintergrund einer verstärkten Verschränkung von Banken- und Staatsschuldenkrise, die mit der Sorge über eine Kreditverknappung verbunden war.

Medial begleitet wurde dieses Ankaufsprogramm durch eine viral gegangene Rede des EZB-Präsidenten Mario Draghi im September 2012. In dieser kündigte er an, Anleihen in unbegrenztem Ausmaß zu kaufen - „whatever it takes“. Voraussetzung für die Anleihenkäufe war allerdings, dass sich die betroffenen Staaten unter den Rettungsschirm des Europäischen Stabilitätsmechanismus[1] (ESM) begeben. Dieser verlangte den betroffenen Staaten einen strikten Sparkurs ab. Die geldpolitische Flexibilität wurde also durch fiskalische Rigidität erkauft, politisch gesehen konnte damit sowohl den Interessen der Länder des Südens wie den Interessen der Länder des Nordens entgegengekommen werden. Einen eher „traditioneller“ Schritt in der Geldpolitik stellte schlussendlich im Juli 2012 die Senkung des Schlüsselleitzinses im Euroraum um 25 Basispunkte auf 0,75% dar, womit dieser erstmals unter 1% lag.

Die Reaktion der Geldpolitik auf diese erste Krisenphase bestand in Europa wie auch in den USA im Wesentlichen in einer massiven Ausweitung der Geldmenge, mit dem Ziel, der Wirtschaft Liquidität zur Verfügung zu stellen, die durch den Zusammenbruch des Banksystems scheinbar abhandengekommen war. Eine Folge dieser geldpolitischen Lockerungsmaßnahmen war eine massive Ausweitung des Umfangs der Notenbankbilanzen. Sowohl bei der EZB als auch bei der US-amerikanischen FED hat sich in den Jahren nach dem Ausbruch der Finanzmarkt-Krise der Bilanzumfang verdreifacht, was sich bis heute nicht wieder geändert hat. Das heißt nichts anderes, als dass die Notenbanken zu den größten Gläubigern von Staaten und anderen Wirtschaftssubjekten (insb. Unternehmen) wurden und damit auch erhebliche Risiken in ihre Bücher nahmen.

Die Geldpolitik verpufft angesichts anhaltend schwacher Wirtschaftsentwicklung

Auch wenn die Reaktionen der Europäischen Zentralbank gepaart mit neuen Bankenregulierungen halfen, das Bankensystem in Europa zu stabilisieren, hatten die Maßnahmen realwirtschaftlich geringe Auswirkungen. Die Kreditausweitung sowie die massive Zufuhr an Notenbankliquidität an Banken und weiterführend an Staaten führte in der Europäischen Union nicht zum erhofften konjunkturellen Aufschwung. Die Banken in der EU horteten das billige EZB-Geld bzw. legten es wieder bei der EZB an, anstatt das billige EZB-Geld in Form von Krediten an Unternehmen und Haushalte weiterzureichen. Ein zentraler Grund hierfür war eine schwache Nachfrage nach Investitions- und Konsumkrediten, da die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung von Unternehmen und Haushalten negativ eingeschätzt wurde (vgl. Kader 2018).

Dieses schwache Wachstumspotential hat tiefer liegende Ursachen. Einige Ökonom:innen betonen, dass hinter der Finanzmarktkrise 2008 wie auch in der schwachen BIP-Entwicklung danach eine viel grundlegendere Krise der Wirtschaft westlicher Industriestaaten liegt und nicht nur eine plötzliche, durch Spekulation hervorgerufene Finanzkrise.

Die Analyse von sehr langen Zeitreihen zur Wirtschaftsentwicklung in westlichen Industrieländern zeigt, dass sich die Krisenanfälligkeit kapitalistischer Ökonomien nicht nur in immer wiederkehrenden Boom and Bust-Zyklen niederschlägt, deren zyklischer Charakter als typisch für Marktwirtschaften gilt. Vielmehr wird anhand dieser Langfristdaten deutlich, dass insbesondere die entwickelten Volkswirtschaften von einem säkulären Rückgang des Wachstums geprägt sind. Abnehmende bzw. schwache Wachstums- und Profitabilitätsraten lassen sich über die letzten 150 Jahre feststellen (vgl. Piketty 2014). Zwar stiegen in der Vergangenheit nach diversen Krisen die Wachstumsraten meistens wieder an, jedoch fast jedes Mal auf niedrigerem Niveau als vor der Krise. Das bedeutet einen langanhaltenden säkulären Trend zur Abnahme ökonomischen Wachstums, vor allem in den entwickelten Volkswirtschaften, doch auch das Welt-BIP hat sich in den letzten Jahrzehnten abgeschwächt und wird sehr stark vom Wachstum der Volksrepublik China determiniert (vgl. IMF 2017).  

Daten der OECD zeigen etwa, dass sich seit den 1990er Jahren das Potenzialwachstum[2] in der EU jährlich um einen Prozentpunkt abgeschwächt hat (vgl. Ollivaud et al. 2016). Ebenso zeigt sich eine längerfristige Abschwächung der Profitabilität in den letzten Jahrzehnten, und diese Abschwächung hat strukturelle und nicht nur zyklische Ursachen (ebd.).

Für die USA haben Ökonomen wie Robert Gordon oder Lawrence H. Summers eine (langanhaltende) ökonomische Stagnation nachgezeichnet (Gordon 2012, 2016, Summers 2016). In seinem umfassenden Werk zur US-amerikanischen Wirtschaftsgeschichte seit 1870 – „The Rise and Fall of American Growth“ rekonstruiert Gordon (2012) das Produktivitätswachstum in den USA. Er weist dabei nach, dass dieses mit Ausnahme einer kurzen Periode von der Nachkriegszeit bis zu den 1970ern kontinuierlich gesunken ist. Der frühere Finanzminister der USA, Lawrence H. Summers, wiederum hat mit der Wiedererweckung des Begriffs der „secular stagnation[3]“ ebenfalls auf eine grundlegende Stagnationstendenz fortgeschrittener Industrienationen hingewiesen. Dabei hat er verschiedene Gründe angeführt: schwache Investitionstätigkeit von Unternehmen aufgrund Sättigungserscheinungen beim physischen Kapital, wenig produktivitäts-fördernde technologische Innovationen, Nachfrageschwäche privater Haushalte aufgrund Ungleichheit in der Verteilung von Vermögen und Einkommen sowie der alternden Bevölkerung, etc.

Liegt nun tatsächlich eine strukturelle Wachstumsschwäche vor und den Krisen der letzten Jahre ggf. sogar zugrunde, ist es daher unwahrscheinlich, dass eine lockere Geldpolitik oder Interventionen der Notenbank die richtigen Instrumente sind, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Zumindest Lawrence Summers hält eine geldpolitische Lösung nicht für die geeignete Antwort auf diese Probleme: „Monetary expansion cannot eliminate a secular stagnation and may have beggar-thy-neighbor effects“ (Eggertsson et al. 2016, 506).

Pandemie: Schranken wieder auf

Ungeachtet dieser Erkenntnisse hat die Europäische Zentralbank auch in den darauffolgenden Krisen ihr geldpolitisches Instrumentarium sehr intensiv eingesetzt. Die jüngeren Krisen in der EU führten erneut zu unmittelbaren und raschen Stabilisierungsmaßnahmen seitens der Europäischen Zentralbank. Die gesundheitspolitischen Maßnahmen, insb. die Lockdowns, zur Bekämpfung der COVID 19-Pandemie legten große Teile der Wirtschaft still. Ein deutlicher Einbruch des Bruttoinlandsproduktes in der Europäischen Union war im ersten Jahr der Pandemie 2020 die Folge. Wirtschaftspolitisch wurde diesmal sowohl fiskal- wie geldpolitisch massiv gegengesteuert.

Die Europäische Zentralbank öffnete erneut ihre geldpolitischen Schleusen: wie schon in der Finanzmarktkrise wurde der Zugang zu Notenbankliquidität für Banken, Staaten und Unternehmen erleichtert. Unter Akronymen wie TLTRO[4] und PELTRO[5] liefen die neuen EZB-Programme an. Erneut wurde den europäischen Banken im Rahmen von Geldtendern Liquidität zu sehr günstigen Konditionen zur Verfügung gestellt, um die Kreditvergabe von Banken an die Volkswirtschaft zu stimulieren. Erstmals wurden Zentralbankkredite an Banken mit einer Negativverzinsung von -1% eingeführt. Das bedeutete, dass Banken von der EZB Zinsen bekamen, wenn sie sich Geld von ihr liehen. Gleichzeitig erwarb die EZB im Rahmen der sog. PEPPs[6] Wertpapiere des öffentlichen und privaten Sektors, um Investitionen zu stimulieren. Zusätzlich wurden dem Bankensektor von öffentlicher Hand zahlreiche regulatorische Erleichterungen gewährt. Dazu zählten weniger strenge Bilanzierungsvorschriften hinsichtlich notleidender Kredite sowie Garantien und Moratorien für Kredite. All dies entlastete die Banken von Risiken und eine erneute Finanzkrise wurde vermieden.

Gleichzeitig reagierte diesmal auch die Fiskalpolitik deutlich. In allen Ländern Europas wurden Formen von Corona-Hilfen eingeführt, um die negativen Folgen von Lockdowns für Unternehmen und Haushalte abzuschwächen. War die Budgetpolitik der Europäischen Union während der Finanzmarktkrise noch stark vom Austeritätsparadigma der Maastricht-Kriterien geprägt, kam es in und nach der Pandemie zu einer fiskalpolitischen Lockerung: der Stabilitäts- und Wachstumspakt mit strikter Budgetdisziplin wurde zugunsten des „Next Generation EU“-Programms aufgeweicht. Staatshilfen wurden vereinfacht und Budgetregeln gelockert. Sogar die gemeinsame Schuldenaufnahme durch die EU wurde ermöglicht. „Faced with the pandemic crisis, discretion trumped rules, and the European Commission took it upon itself to borrow in the open markets to finance the programme” (Lapavitsas/Cutillas 2021, 445). Im Zusammenhang von geldpolitischen Maßnahmen mit hohen fiskalischen Unterstützungsmaßnahmen (insb. für Unternehmen), kamen die europäischen Wirtschaften glimpflich aus der Corona-Krise.

Kurzfristige Stabilisierung ohne langfristige Belebung

So wirksam die Maßnahmen auch kurzfristig waren, die Stützungsmaßnahmen spiegelten sich einmal mehr in einer stark angewachsenen Notenbankbilanz und einem Anstieg der Staatsschulden wider. Zudem hatten die Maßnahmen erneut langfristig nicht den erwünschten Effekt einer nachhaltigen Ankurbelung der Konjunktur. Dies zeigte sich, als die Europäische Zentralbank ihren geldpolitischen Kurs im Kontext des Kriegs in der Ukraine änderte. Aufgrund der durch den Krieg ausgelösten Versorgungsengpässe mit Energie stiegen die Energiepreise in Europa und lösten eine Inflation im Euroraum aus. Um wieder Preisstabilität herzustellen, erhöhte die EZB seit Juli 2022 die Leitzinsen in mehreren Schritten bis zur Höhe von 4,5%. Außerdem begann sie, die Wertpapierankaufsprogramme von realwirtschaftlichen Unternehmen zu reduzieren bzw. einzustellen. Wie wenig nachhaltig diese wirtschaftspolitischen Förderungen waren, merkte man beim Auslaufen der Hilfen insbesondere im Unternehmenssektor: die Zahl der Insolvenzen von Firmen steigt seit Ende der Hilfen deutlich an, die Konjunktur ist im Euroraum, allen voran in Deutschland, derzeit sehr schwach. Analog zu der Argumentation weiter oben, steht das im Zusammenhang mit einer Wachstumsschwäche, die auch strukturelle Elemente aufweist.

Rekordgewinne im Bankensektor

Was die EZB beim Anstieg der Inflation allerdings vorerst nicht beendete, war die günstige Liquiditätszufuhr an Banken. In der Annahme, dass die Banken damit ausreichend Liquidität haben, um trotz gestiegener Zinsen der Realwirtschaft Kredite geben zu können, wurden die TLTROs verlängert. Wie bereits erwähnt verzinste die EZB die TLTRO-Gelder mit einem Negativzinssatz von -1%. Das bedeutet, dass eine Bank, die sich Geld von der EZB lieh, keine Kreditzinsen zahlen musste, sondern von der EZB 1% Zinsen gezahlt bekam. Gleichzeitig konnten die Banken ihre Überschussliquidität auch bei der EZB parken und bekamen für diese Einlagen -0,5%. Da die Nachfrage nach Krediten aufgrund der konjunkturellen Eintrübung im Zuge der Ukraine-Krise nicht hoch war, nutzten die Banken diese Gelegenheit, um die von der EZB ausgeliehenen Gelder sogleich wieder bei der EZB zu parken. Die Zinsdifferenz zwischen Ausleihen und Einlegen fiel zugunsten der Geschäftsbanken aus: während sie 1 Prozent Zinsen auf Ausleihungen erhielten, mussten sie nur 0,5 Prozent Zinsen für Einlagen bei der EZB zahlen. Die Differenz von 0,5 Prozentpunkten konnten die Banken als Gewinn einstreifen. Gleichzeitig profitieren die Banken auch von den gestiegenen Zinsen. Da sie die Kreditzinsen sogleich erhöhten, aber die Einlagezinsen nicht, weiteten sie ihre Zinsmarge aus und fuhren 2023 und vermutlich auch 2024 Rekordgewinne ein. Die EZB beendete diese Form der Tender erst als die Subventionierung von Banken durch die oben erwähnten TLTRO-Bedingungen als „Übergewinn“ und ungerechtfertigt kritisiert wurde. (Vgl. DeGrauwe/Yuemei 2023)

Expansive Geldpolitik gefährdet die Finanzmarktstabilität

Im Kontext dieser Problemlagen haben die unkonventionellen Maßnahmen der Notenbanken in den letzten Jahren erneut eine Diskussion um die optimale Größe von Notenbankbilanzen ausgelöst. Die aufgeblähten Bilanzen der Zentralbanken haben nämlich nicht nur nicht zum erhofften Wirtschaftswachstum geführt. Vielmehr könnten sie sogar das Gegenteil bewirken. Selbst wenn kurzfristig durch die Lockerung der Geldpolitik das Wirtschaftswachstum stimuliert wird (was eben zweifelhaft ist), könnte es mittelfristig zu negativen Auswirkungen für die Finanzmarktstabilität kommen und diese Instabilität erst recht wieder Wirtschaftskrisen auslösen (vgl. Adrian et al. 2020, Grimm et al. 2023). Niedrige Zinsen verleiten Banken, Haushalte und Unternehmen dazu, höhere Risiken einzugehen. Wenn diese Risiken aufgrund schlechter Wirtschaftslage schlagend werden, können geplatzte Kredite Banken in die Krise stürzen und erneut einen Einbruch des Wirtschaftswachstums herbeiführen. „Exzessive“ Kreditvergabe, also wenn mehr Kredite vergeben werden, als es das Einkommen der Kreditnehmer:innen erwarten lässt, führt zu besonders starken BIP-Einbrüchen.

Weiter verleiten die niedrigen Zinsen Banken und andere Investor:innen dazu, Geld günstig aufzunehmen, um in Wertpapiere auf Finanzmärkten zu investieren. Diese Nachfrage treibt wiederum die Preise für die Papiere (asset price inflation) in die Höhe und macht Wertpapierbesitzer:innen (institutionelle Investoren und wohlhabende Haushalte), also GläubigerInnen, vermögender.[7] Dies ist volkswirtschaftlich ineffizient, da wohlhabendere Haushalte eine geringere Konsumneigung haben.

Die Geldpolitik führt also zu einer Umverteilung von unten nach oben. Die Vermögenden werden nicht nur durch die Geldpolitik der Notenbanken gut bedient, sondern profitieren im Zuge der Bankenrettungen auch von der Bereitschaft des Staates, entstandene Verluste in die öffentlichen Haushalte zu übernehmen, anstatt sie den GläubigerInnen aufzubürden. Bezahlt wird diese Gläubigerrettung mit Steuergeld und der Erhöhung von Staatsschulden, die Einsparmaßnahmen in anderen (v.a. wohlfahrtstaatlichen) Bereichen mittels der Austeritätspolitik in der EU notwendig machen.

Zusammenfassende Bewertung der Maßnahmen

Die geldpolitischen Krisenbewältigungsstrategien müssen also in der Zusammenschau als mindestens ambivalent bewertet werden. Zunächst muss positive bemerkt werden, dass die Geldpolitik sich in den Jahren seit der Finanzkrise 2008 aktiv und flexibel erwiesen hat. Auf alle Krisenphasen reagierte die Europäische Zentralbank mit neuen bzw. neu gestalteten Instrumenten. Während die EZB bei den ersten zwei Krisenphasen (Finanzmarkt, Pandemie) sowie auch unmittelbar nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine vor allem durch eine Ausweitung der Geldmenge und der Zentralbankbilanz reichlich Liquidität in den Markt pumpte, reagierte sie auf die durch die Energiekrise ausgelöste Inflation wieder traditionell mit einer Erhöhung der Zinsen, um wieder Preisstabilität herzustellen. Die Geldpolitik eröffnete damit wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum in einer Situation in der Fiskalpolitik aufgrund ungleicher Entwicklung im Euroraum, strenger Fiskalregeln sowie auch politischer Uneinigkeit über Richtung und Ausmaß von wirtschaftspolitischen Interventionen blockiert war. Die Maßnahmen mögen kurzfristig dazu beigetragen haben Finanzmärkte und Konjunktur zu stabilisieren. Was mit den Maßnahmen jedoch nicht gelang, ist eine nachhaltige Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums. Sie führten daher keineswegs zur Bekämpfung der langfristigen stagnativen Tendenzen. Zudem ging die Politik in erheblichem Maße mit regressiven Verteilungswirkungen einher, wie mit Bezug auf die öffentliche Übernahme privater Risiken, die Übergewinne im Bankensektor oder die Wohlstandsgewinne für Vermögende ausgeführt wurde. Zudem können die Interventionen Krisentendenzen langfristig verstärken. Eine Ausweitung der Kreditvergabe von schwächelnden Banken an schwächelnde Unternehmen macht das Finanz- und Wirtschaftssystem der EU nicht stabiler. Allerdings greift auch eine politische Kritik, die vor allem die Notenbanken zum Ziel hat, zu kurz. Die langfristige Ankurbelung von Wachstum ist nicht die originäre Aufgabe von Zentralbanken und angesichts der strukturellen Ursachen der säkulären Wachsstumsschwäche möglicherweise auch gar nicht in ihrer Macht. Auch Finanzmarktinstabilität und Ungleichheit können zwar politisch bearbeitet werden, sind jedoch systemisch bedingt und liegen letztlich in der kapitalistischen Produktionsweise begründet und müssen also auf einer grundlegenderen Ebene bearbeitet werden.

 

Literatur:

Adrian, Tobias, Duarte, Fernando, Liang, Nellie, Zabczyk, Pawel (2020): Monetary Policy and Macroprudential Policy with Endogenous Risk, IMF Working Paper 20/236.

Brunnermeier, Markus (2023): Rethinking monetary policy in a changing world, in: Finance and Development: New Directions for Monetary Policy, Vol. 60, International Monetary Fund, Washington DC, March 2023, pp. 4-9.

De Grauwe, Paul/Ji, Yuemei (2023): Monetary policies that do not subsidise banks, VOXEU, Column, 9 Jan 2023. Online: https://cepr.org/voxeu/columns/monetary-policies-do-not-subsidise-banks (zuletzt 15.08.2023).

Eggertsson, Gauti, Mehrotra, Neil, Summers, Lawrence (2016): Secular Stagnation in the Open Economy, in: American Economic Review, Vol. 106, No. 5, 503-507.

Goodhart, Charles A. (2017): A Central Bank’s optimal balance sheet size?, Discussion papers, DP 12272, Centre for Economic Policy Research, London, UK.

Gordon, Robert J. (2012): Is U.S. Economic Growth Over? Faltering Innovation Confronts the Six Headwinds, NBER Working Paper Series, No. 18315.

Gordon, Robert. J (2016): The Rise and Fall of American Growth, Princeton University Press.

Grimm, Maximilian, Jorda, Oscar, Schularick, Moritz, Taylor, Alan M. (2023): Loose Monetary Policy and Financial Instability, National Bureau of Economic Research (NBER), Working Paper No. 30958.

IMF (2017): World Economic Outlook, Washington.

Kader, M. (2018): Der erschöpfte Kapitalismus, in: Nuss, Sabine (Hrsg.), Der ganz normale Betriebsunfall, Berlin.

Lapavitsas, Costas, Cutillas, Sergi (2021): National States, transnational institutions, and hegemony in the EU, in: Evolutionary and Institutional Economics Review, 19, 429-448.

Ollivaud, Patrice, Guillemette, Y., Turner, David (2016): Links between weak investment and the slowdown in productivity and potential output growth across the OECD, OECD Economics Department Working Papers, No. 1304, Paris.

Piketty, T. (2014): Das Kapital im 21. Jahrhundert, München.

Stützle, Ingo (2014): Austerität als politisches Projekt. Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise, Münster.

 

[1] Der ESM wurde von den Euro-Mitgliedstaaten errichtet und ist im Herbst 2012 in Kraft getreten. Er wurde zunächst mit 700 Mrd EUR Kapital ausgestattet, um gefährdeten Euroländern Notkredite gewähren zu können. Die Vergabe dieser Kredite ist jedoch an strenge fiskalische Anpassungsmaßnahmen geknüpft (vgl. Stützle 2014).

[2] Das Potenzialwachstum beschreibt die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts bei optimaler Auslastung der vorhandenen Kapazitäten, ohne dass es Druck auf die Inflationsraten gibt. Das Potenzialwachstum ist keine fixe Größe, sondern muss geschätzt werden.

[3] Ursprünglich stammt der Begriff vom US-Ökonomen Alvin Hansen.

[4] TLTRO: Targeted Longer Term Refinancing Operations

[5] PELTRO: Pandemic Emergency Longer Term Refinancing Operations

[6] PEPP: Pandemic Emergency Purchase Programme

[7] vgl. ebd.; außerdem: Bank of England 2012: The Distributional Effects of Asset Purchases, Quarterly Bulletin Q3, London.; Jon Frost / Ayako Saiki 2012: How does Unconventional Monetary Policy Affect Inequality? Evidence from Japan, De Nederlandsche Bank, Working Paper Series, No. 423.

This material has been suggested and edited by:

Spenden

Um sich weiterhin für Pluralismus und Vielfalt in der Ökonomik einzusetzen, benötigt das Netzwerk Plurale Ökonomik e.V. Unterstützung von Leuten wie dir. Deshalb freuen wir uns sehr über eine einmalige oder dauerhafte Spende.

Spenden