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Kaum eine öffentliche Debatte läuft heute ohne die Bezeichnung “Krise” ab. Aber was heißt eigentlich Krise? Welche Implikationen haben verschiedene Bedeutungen von Krise für die Analyse in der aktuellen Lage? Zunächst zu den griechischen Bedeutungen des Wortes „Krise“: die Bedeutungen des Verbs („krinein“) reichen von „urteilen“ und „entscheiden“ bis zu „sich messen“ und „kämpfen“. Diese großes Spektrum an Bedeutungen wird über die weitere Geschichte des Begriffs erhalten bleiben und zeigen sich mindestens in der Ökonomie, der Medizin und im Recht.
1. Krise in der Ökonomie – erst im 18. Jahrhundert wird Krise auch im Zusammenhang mit ökonomischen Themen eingeführt. Zu Beginn noch ohne theoretische Verortung waren neben der Krise auch die Begriffe Stockung oder Krankheit oder Gleichgewichtsstörung üblich. Gerade letzteres erlaubt eine interessante Verbindung zum Fortschritt – nur mit weiterem Fortschritt ist nach einer Gleichgewichtsstörung die Auflösung der Krise möglich. Erst in den 1830er Jahren setzte sich der Begriff der Krise durch – bei Malthus spielte Krise begrifflich keine Rolle – und die Thesen der Überproduktion und auch der Wiederkehr von Krisen gewannen an Bedeutung. In eine ähnliche Richtung gehen dann auch die Überlegungen von Marx. Mit der systemimmanenten Krise von Überproduktion und der geschichtsphilosophisch angehauchten Idee einer letzten großen Krise, die das System zu sprengen vermag, bietet Marx zwei Vorstellungen zur Krise. Im Bezug auf die Gegenwart lassen sich damit zwei Standpunkte andeuten – zum einen eine Form von Analyse, in der stets auch gefragt werden sollte, nach welchen Kriterien eine Krise als solche überhaupt identifiziert werden kann, und zum anderen ein Standpunkt der ungewissen, ein Stück weit ohnmächtigen Hoffnung. In der Volkswirtschaftslehre selbst schwand die Bedeutung der Krise als Analysekategorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und wurde von der Konjunkturanalyse abgelöst.
2. Krise in der Medizin – Wichtig und dominant bis weit in die Neuzeit war und ist der Begriff der „Krise“ für die Medizin und umfasst den beobachtbaren Befund und auch den „entscheidenden“ Moment im Verlauf der Krankheit, der gleichzeitig auch Handlungen aufgrund der Situation legitimiert und Handlungszwänge mit sich führt. Angewandt auf die Gegenwart impliziert ein so verwendeter Begriff gewissermaßen einen therapeutischen Standpunkt: als Beobachter oder politischer Entscheidungsträger diagnostiziere ich beispielsweise den Finanzmärkten Probleme mit Eigenkapitalquoten oder einem Staat zu hohe Verschuldung und empfehle oder verabreiche entsprechende Medikamente – seien es Austerität oder eine stärkere Regulierung. Gerade die Legitimation von Handlungen in diesen Situationen bietet eine weitere interessante Implikation: Affirmativ sei hier auf Milton Friedman verwiesen, der in Capitalism and Freedom Krisen als einzige Chance von Veränderung sieht und dazu auffordert für solche Fälle entsprechende Ideen entwickelt zu haben oder auch Karl Lamers, einem engen Vertrauten von Wolfgang Schäuble, der den Gedanken von Friedman aufgreift und Zitat „in Krisen den Entwicklungsmodus für Großprojekte“ sieht (Süddeutsche Zeitung 18.07.2015). Als Gegenwartsdiagnose findet sich die Idee, dass Krisen und Ausnahmezustände gar als Mittel, als Regierungskunst zu verstehen seien zugespitzt bei dem Unsichtbaren Komitee in deren Buch An unsere Freunde wieder. Der Therapeut wehrt sich dieser Interpretation folgend gewissermaßen nicht gegen krisenhafte Situationen, sondern bevorzugt das Manövrieren in solchen Gewässern.
3. das Recht – interessanterweise wurden in juristischen und auch politischen Kreisen in der Antike, die Krise und die Kritik nicht getrennt. Der sachlich gegebene Moment der „Entscheidung“ fiel mit subjektiven „Urteilsfindung“ zusammen, also mit dem, was heute in den Bereich der Kritik fällt. Die Position wäre dann die eines Kritikers. Dieser Moment der Kritik in der Krise zeigte sich vor allem zu Beginn der Finanzkrise. Es sei daran erinnert, dass selbst Alan Greenspan – damaliger Chef der amerikanischen Notenbank – äußerte, dass das gesamte (ökonomische) intellektuelle System zusammengefallen sei (New York Times 24.10.2008). Der alte begriffliche Zusammenhalt aus dem Bereich des Rechts ist hier noch virulent, auch wenn selten im Diskurs dominant. Krisen können dann, wie Joseph Vogl (Telepolis 15.03.2015) es ausdrückt, zu intellektuellen Glücksfällen werden. Vormalige Gewissheiten, zum Beispiel zur Stabilität von Finanzmärkten, zur Souveränität von Staaten brachen zusammen und bieten Raum für neue Begriffe und Theorien.
Die drei skizzierten Verständnisse von Krise deuten für weitere Diskussionen zu Krisen auf verschiedene Aspekte hin: Erstens, das, was unter Krise verstanden werden kann, ist höchst unterschiedlich und Resultat öffentlicher Diskurse. So wurde die Finanzkrise spätestens mit den Debatten um die Schulden Griechenlands stark entlang nationaler Kategorien gedeutet. Zweitens, Hoffnungen auf ein Ende der gegenwärtigen Krise sind womöglich illusorisch, wenn Krisen als präferierte Regierungsform verstanden werden. Drittens, gerade für kritische Volkswirtschaftslehre liegt in dem Verständnis von Krise aus dem Recht auch eine Gelegenheit weiter Leerstellen aufzufinden und zu besetzen.
Die Stickeraktion wurde von der Gruppe Was ist Ökonomie? initiiert und für das Netzwerk Plurale Ökonomik erstellt. Vielen Dank für die finanzielle Unterstützung des Projekts an das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung.
1. Wann kommt die nächste Krise, Herr Professor*?
2. Grenzenloses Kapital? Grenzenlose Arbeit? Grenzenlose Freiheit?
3. Markt United vs. FC Staat: Wer gewinnt?
5. Ein Ökonom kommt in eine Krise: Was tut er?
6. Mit neuem Nationalismus aus der Wirtschaftskrise?
7. Mit Green Growth die Welt retten?
9. Hat Griechenland Schuld(en)?
10. Wie viele Theorieschulen gibt es eigentlich in der VWL?
11. Werde ich durch das VWL Studium egoistischer?
12. Ist der repräsentative Agent männlich oder weiblich?
13. Was ist mit ökonomischen Inhalten, die nicht in Matheformeln passen?
14. Wieso sehen meine VWL-Professor*innen auch dort Gleichgewichte, wo keine sind?
15. Hat Geld wirklich keinen Einfluss auf die reale Wirtschaft?
16. Wieso nimmt mein VWL-Professor andere Sozialwissenschaften nicht ernst?
17. Wie funktionieren eigentlich andere Wirtschaftssysteme?
18. Warum sind meine VWL-Professoren fast nur männlich?
19. Wieso kennen meine VWL-Modelle keine Geschichte?
20. Studiere ich VWL oder Neoklassik?
Koselleck, Reinhart (1982) Krise. In: Brunner, Otto., Werner Conze und Reinhart Koselleck (eds.). Geschichtliche Grundbegriffe, 617-650. Klett-Cotta, Stuttgart.
Koselleck, Reinhart (2006) Begriffsgeschichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Unsichtbares Komitee (2014) An unsere Freunde. Nautilus Flugschrift, Hamburg.
Friedman, Milton (1962) Capitalism and Freedom. The University of Chicago Press, Chicago [IL].