Volkswirtschaftliche Modelle weisen oft eine erstaunliche Zeitlosigkeit auf. Meist im Gewandt von mathematischen Formeln postulieren sie Zusammenhänge zwischen Faktoren, die sowohl in der industriellen Revolution als auch im Finanzmarktkapitalismus zu gelten haben. Dass dies auf einer trügerischen Illusion basiert, hat sich zum Beispiel unter Mainstream-Makroökonom*innen in der Finanzkrise 2008 gezeigt: Ihre DSGE-Modelle hatten gar keinen Finanzmarkt. Finanzkrisen gab es zwar schon zuvor regelmäßig, aber ihre Wirkung blieb meist auf den Finanzsektor oder einzelne Branchen bzw. Länder beschränkt. Ein Fakt der Zeit, der sich in den Modellen dieser Zeit widerspiegelt.
Der Punkt wird noch offensichtlicher bei Lehrbuchmodellen, die oft vor vielen Jahrzehnten ersonnen wurden: Das Solow-Modell zum Beispiel kommt aus den Nachkriegsjahren. Retrospektiv betrachtet scheint es eine Erklärung zu bieten für die Wiederherstellung des zerstörten Kapitalstocks nach dem Krieg und dem damit verbundenen Aufholrennen mit den nicht kriegszerstörten Ökonomien der westlichen Welt. Für Wachstumsfragen der Moderne, wie die fortbestehende Lücke zwischen den Wirtschaften des globalen Norden und Süden, scheint es eher ungeeignet zu sein, doch seine zeitlose mathematische Formulierung lässt es fortbestehen in den modernen Lehrbüchern.
Die Geschichtsaversion ist auch in der Spieltheorie zu sehen: Gelehrt werden fast ausschließlich statische und (scheinbar) dynamische Modelle. Entweder sie beschränken sich auf eine Periode, oder sie enthalten die Optimierung in einer Periode über einen unendlichen Horizont hinweg. Als Geschichte werden hier hypothetische Verläufe des Spiels verstanden. Neuere Trends in der Spieltheorie sind evolutionäre Ansätze, die grundsätzlich geeigneter sind um Pfadabhängigkeiten zu erfassen und vielseitig in der Biologie Anwendung finden. Aber Robert Sugden (2001) macht darauf aufmerksam, dass in die Mainstream-VWL nur die mathematischen Lösungskonzepte übernommen wurden: Die Analogie zur pfadabhängigen und geschichtlichen Entwicklung von Arten ist hingegen vollkommen unter den Tisch gefallen.
Doch wo hat diese Ahistorizität ihren Ursprung? Immerhin war die historische Schule in den damaligen Harvards der VWL-Welt, Berlin und Wien, einmal die führende Theorieschule in der Ökonomie. Tony Lawson (2012) behauptet, dass mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dem Beginn des Kalten Krieges und dem Aufzug des McCarthyismus formale Modelle erstrebenswert wurden. Sie boten eine Möglichkeit, sich von den sozialistisch geprägten Forschung abzugrenzen, waren aber durch ihre Form weniger kritisch und reflexiv. Und sie entsprachen dem Zeitgeist der westlichen Welt. Das französisches Mathematiker*innen-Kollektiv Nicolai Bourbaki, welches versuchte Form und Inhalt vollkommen zu trennen, wurde beispielsweise zu einem Vorbild für Theoretiker*innen der VWL (Düppe 2010).
Gleichwohl nimmt spätestens seit den 1980er Jahren der Anteil der empirischen Arbeiten deutlich zu. In der neuen Institutionenökonomik zeigen die Arbeiten von Acemoglu und Koautor*innen Pfadabhängigkeiten von institutionell-ökonomischer Entwicklung. Dennoch bleibt auch in den empirischen Arbeiten ein Ideal auf Wachstum und Wettbewerb enthalten.
Die Stickeraktion wurde von der Gruppe Was ist Ökonomie? initiiert und für das Netzwerk Plurale Ökonomik erstellt. Vielen Dank für die finanzielle Unterstützung des Projekts an das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung.
1. Wann kommt die nächste Krise, Herr Professor*?
2. Grenzenloses Kapital? Grenzenlose Arbeit? Grenzenlose Freiheit?
3. Markt United vs. FC Staat: Wer gewinnt?
5. Ein Ökonom kommt in eine Krise: Was tut er?
6. Mit neuem Nationalismus aus der Wirtschaftskrise?
7. Mit Green Growth die Welt retten?
9. Hat Griechenland Schuld(en)?
10. Wie viele Theorieschulen gibt es eigentlich in der VWL?
11. Werde ich durch das VWL Studium egoistischer?
12. Ist der repräsentative Agent männlich oder weiblich?
13. Was ist mit ökonomischen Inhalten, die nicht in Matheformeln passen?
14. Wieso sehen meine VWL-Professor*innen auch dort Gleichgewichte, wo keine sind?
15. Hat Geld wirklich keinen Einfluss auf die reale Wirtschaft?
16. Wieso nimmt mein VWL-Professor andere Sozialwissenschaften nicht ernst?
17. Wie funktionieren eigentlich andere Wirtschaftssysteme?
18. Warum sind meine VWL-Professoren fast nur männlich?
19. Wieso kennen meine VWL-Modelle keine Geschichte?
20. Studiere ich VWL oder Neoklassik?